Kultur, Geschichte & Management
„Jugendstil. Die große Utopie“

Jahrelang führte die Jugendstil-Sammlung ein Schattendasein im Museum für Kunst und Gewerbe. Neu eingerichtet und begleitet von einer großangelegten Sonderschau avanciert der Jugendstil nun zum Mittelpunkt des Hauses – und belegt eindrucksvoll, dass diese Kunstrichtung zu Unrecht auf wallende Gewänder und eine floral-fließende Formensprache reduziert wird.
Industrialisierung, Elektrizität, Telefon, Röntgenstrahlen - neue Technologien hatten das Leben der Menschen um 1900 ähnlich rasant und radikal verändert, wie hundert Jahre später die digitale Revolution. Und wie jede Revolution hatte sie erhebliche negative Auswirkungen: Ausbeutung, Verarmung des Proletariats, billige Massenartikel. Die Kunst reagierte darauf mit einer Reformbewegung, die das Leben aller Menschen verbessern und verschönern wollte. Es war „Die große Utopie“.

In Schlangenlinien trippeln sie uns durch das Gras entgegen, Hand in Hand, barfüßig und nur mit luftigen Hemdchen bekleidet. Mit dem Stummfilm-Reigen tanzender Mädchen in idyllischer Natur trifft der Besucher gleich zum Auftakt der Ausstellung auf den wohl radikalsten Gegenentwurf zum „degenerierten“ Stadtmenschen jener Zeit: Ein Leben in größtmöglicher Natürlichkeit, Einklang von Körper und Seele, Nacktheit als Emanzipation von allen gesellschaftlichen Zwängen. Die Sehnsucht nach paradiesischer Ursprünglichkeit manifestierte sich im Kind, das das unverbildetes Geschöpf mit einem Mal regelrecht verehrt wurde, wie die Kinderbilder von Ferdinand Hodler, Paul Gauguin und Paula Modersohn-Becker zeigen.

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Am Monte Veritá, oberhalb von Ascona im Schweizer Tessin, befand sich damals der zentrale Sehnsuchtsort aller Aussteiger – die sogenannte „Vegetarische Cooperative“, eine von Gusto Gräser (1879-1958) und seinem Bruder Karl (1875-1944) Reformsiedlung, die Literaten, Tänzer, wie bildende Künstler aus ganz Europa anzog. Rudolf von Laban gründete auf dem Monte Veritá seine „Schule für Kunst“ an der auch Mary Wigman studierte und den modernen Ausdruckstanz in die Welt trug. Doch es wurde nicht nur getanzt, gedichtet und philosophiert, es wurde auch hart gearbeitet. Alles, was zum Leben in der Natur nötig war, wurde selbst gemacht, das Feld bestellt, die Häuser gebaut und auch die Möbel, wie ein Sessel um 1910 aus unbehandeltem Astwerk in der Ausstellung zeigt.

Selbstverständlich gab es um die Wende zum 20. Jahrhundert jedoch auch jede Menge Künstler, die mit den neuen Technologien der Industriegesellschaft experimentierten und so zu neuen Ausdrucksformen fanden. Nicht nur in den jungen Medien Film und Fotografie, sondern auch im Tanz, wie es die „Lichtfee Loie Fuller“ in einem frühen Dokumentarfilm vor Augen führt. Das farbige Licht, das sie auf ihre riesigen schleierartigen Gewänder projizieren lässt führen zu einem fließend-bewegten Formen- und Farbenspiel, das auf die damaligen Zuschauer geradezu zauberhaft gewirkt haben muss.

Licht, Licht, Licht.
Alles drehte sich um die neuen Möglichkeiten, die das elektrische Licht bot. Auch im Gesundheitswesen. Bereits 1867 hatte Karl Marx in seinem - in Hamburg verlegten - Jahrhundertwerk „Das Kapital“ die katastrophalen Lebensumstände analysiert, zu der die Industrialisierung ab Mitte des 18. Jahrhunderts geführt hatte. Das Proletariat der Städte lebte in beengten, dunklen Kammern und Kellern, Krankheiten wie Rachitis waren die Folge, insbesondere bei Kindern. Nachdem der Zusammenhang zwischen Knochenmissbildungen, Wachstumsstörungen und mangelndem Sonnenlicht, bzw. Vitamin D Mangel erkannt wurde, versuchten Wissenschaftler mit elektrischem Licht zu heilen. Schräg gegenüber vom Gräser-Sessel steht eine höchst merkwürdige, holzverkleidete Kabine, im Inneren mit Glühbirnen und einem höhenverstellbaren Stuhl bestückt. Es ist ein „Hygienisches Lichtbad Solar“ von 1911, ein „Ganzkörper-Lichtbad“ für Menschen, sie sonst kaum Gelegenheit hatten, ihren Körper dem Sonnenlicht auszusetzen.

Dieser Apparat ist das wohl kurioseste Exponat der unerhört breit aufgestellten und aufklärerischen Schau, die von der Fotografie über Mode, Möbel, Glas, Keramik und Silber bis hin zu den Plakaten alle Abteilungen des Hauses bündelt.

Einer, der die ästhetische und gesellschaftliche Relevanz des Jugendstils früh erkannte, war Justus Brinckmann, der Gründungsdirektor des Museums für Kunst und Gewerbe. Bevor er im Mai 1900 zur Weltausstellung nach Paris fuhr, hatte er beim Hamburger Senat das heute unvorstellbare Budget von 100 000 Goldmark durchgesetzt, um für sein Museum das Neuste vom Neuen im Bereich der angewandten Kunst einkaufen zu können: Möbel, Keramik, Glas, Schmuck, Teppiche, Plakate, ganze Interieurs und Raum-Ensembles, wie das berühmte „Pariser Zimmer“, das nun lichter und luftiger denn je erscheint. Von Brinckmanns Kaufrausch vor 115 Jahren profitiert das Museum heute noch und vermutlich bis in alle Zukunft – gilt die Hamburger Jugendstil-Sammlung doch als eine der bedeutendsten weltweit.

„Jugendstil. Die große Utopie“
Zu sehen im Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg bis zum 7. Februar 2016
Geöffnet: Di-So 10-18 Uhr, Do bis 21 Uhr,
Eintritt 10 Euro, erm. 7 Euro, bis 17 Jahre freier Eintritt.
Weitere Informationen unter www.mkg.hamburg.de


Abbildungsnachweis:
Header: Unbekannter Regisseur, Le Faune, (Der Faun), Frankreich, 1908, 4 Min., koloriert, © BFI National Archive
Galerie:
01. Ausstellungsansicht. Foto: Dirk Fellenberg/Martin Luther
02. Alfons Mucha, Salon des Cent, Ausstellung, Paris, 1897, Lithografie, 63,5x46cm, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, © Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
03. Ferdinand Hodler (1853-1918), Die Kindheit, um 1894, Öl auf Leinwand, 50x31 cm, © Städel Museum - U. Edelmann - ARTOTHEK
04. Rudolph Dührkoop, Kopf mit Heiligenschein, 1908, Platindruck, 21x16cm, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, © Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
05. Paula Modersohn-Becker (1876-1907), Kniender Mädchenakt vor blauem Vorhang, Worpswede, 1906/07, Öl auf Leinwand, 72x60cm, © Landesmuseum Oldenburg, H. R. Wacker - ARTOTHEK
06. Ausstellungsansicht. Foto: Dirk Fellenberg/Martin Luther
07. Paul Gauguin, Manao Tupapau (The Ghost of the Dead awakens), 1894, Lithography on zinc: 30,6x46cm, Abb.: 18x27,1cm, © Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen
08. Strandsport, in Wyk auf Föhr, Sanatorium Carl Gmelin, um 1912, Friesenmuseum, Sammlung Familie Ingwersen, © Fotoarchiv Ingwersen Wyk
09. George Méliès (1861-1938) (Regie), Le Voyage dans la Lune (Die Reise zum Mond), Frankreich 1902, 16 Min., © BFI National Archive
10. Ausstellungsansicht. Foto: Dirk Fellenberg/Martin Luther
11. Louis C. Tiffany, Pond Lily-Lampe, New York, 1900, Ausführung um 1910, Favrile-Glas, Bronze, H. 57 cm, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Eigentum der Stiftung für die Hamburger Kunstsammlungen, © Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
12. René Lalique (1860-1945), Haarkamm, 1898–1899, Horn, Gold, Emaille, H. 15.5 cm, Designmuseum Danmark, Kopenhagen, Foto: Pernille Klemp
13. William Morris, Dekorationsstoff Strawberry Thief, London, 1883, Ausführung: Morris & Co., Merton Abbey/Surrey, 1883, Baumwollgewebe, Indigo-Ätzdruck, im Handdruck mit Modeln 3-farbig bedruckt 518x98 cm, © Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
14. Tageskleid einer Suffragetten-Sympathisantin, England, 1905–09, Atelierarbeit oder hausgenäht, Baumwollgewebe, Leinenfutter, Maschinenspitze, Stickerei, L. 143 cm, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, © Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
15. Charles Rennie Mackintosh, Stuhl für den Argyle Tea Room, Glasgow, 1897, Eiche, gebeizt, 81x60x45 cm, Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Eigentum der Stiftung für die Hamburger Kunststammlungen, © Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg

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