Sich von der Geschichte inspirieren zu lassen, klingt nach einem Unterfangen. Beeinflusst von Geschichte ist so gut wie jede kulturelle Äußerung, aber Inspiration?
Und generell: von welcher Geschichte ist die Rede? Historie (kanonisch), Chronographie, die eigene Geschichte (Abi Warburg), die Erzählung der anderen, der Historiker, die Darstellung der Sieger und Verlierer? Ist die Rede von Augenzeugenschaft und vom Erlebnisbericht, von Kultur, Technik und Fortschritt, von den Wandlungen auf Geschichte zu blicken?
Zumindest ist die Rede von der Geschichte eines musealen Ortes, der sich im Verband der Stiftung der historischen Museen der Freien und Hansestadt Hamburg befindet. Das Museum für Hamburgische Geschichte (MHG) feiert nämlich in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag.
Kunsthandwerker*innen, die sich organisiert haben in Verbänden der Arbeitsgemeinschaft des Kunsthandwerks (AdK Hamburg, gegr. 1956) sowie der GEDOK (gegr. 1926) haben zwar noch nicht die 100 Jahre erreicht, feiern aber mit einem besonderen und einfach nachzuvollziehenden Konzept mit: mehr als 60 Künstler*innen erweisen dem unglaublich reichen Sammlungsbestand des Hauses mit 100 künstlerischen Positionen, Referenz.
Der biennale Charakter der Leistungsschauen der AdK und der GEDOK findet zum zweiten Mal, quasi in Union mit dem diesjährigen Jubiläumsereignis statt.
Mit der Ausstellung „Inspiration Geschichte“ entdecken Besucher*innen zum einen die umfangreiche ausgestellte Sammlung und Abteilungen des Museums, zum anderen die 100 Werke aus dem zeitgenössischen Kunsthandwerk – und quasi als Essenz dazu – Kommentare, Zuordnungen, Hinterfragen, Kontextualisierung und eben das Aufzeigen von Veränderungen bis zu Umwälzungen geschichtlichen Bewusstseins.
Eröffnung der Ausstellung im Hof des Museums für Hamburgische Geschichte. Foto: Michael Zapf
Wohl noch nie haben sich Hamburgs Kunsthandwerker*innen so zahlreich und umfassend mit dem Museum und seiner Sammlung auseinandergesetzt, wie in dieser Ausstellung. Mit einem kurzen Besuch der Ausstellung ist daher das Gesamtkonstrukt nicht erfahrbar und Feinheiten nicht aufzufinden.
Selbst diese Ausstellung, von der ersten Vorbereitung bis zur Eröffnung und Laufzeit, hat eine eigene Geschichte und eine, die im Kleinen die Große imitiert.
Alle Beteiligten waren sich nämlich in einem Punkt einig und häufig fiel der erklärungsbedürftige Satz: „Das haben wir alle unterschätzt!“ Es geht dabei nicht allein um hohen organisatorischen und zeitlichen Aufwand, sondern auch darum, wie man mit Geschichte, mit Begriffen, mit deren Benutzung, mit dem heutigen sozialen Miteinander umgeht. Es macht gesellschaftliche Unterschiedlichkeit sichtbar, ja, sogar Spaltungen. Was und wie darf oder sollte benutzt werden, in welchem Kontext, mit welchen zusätzlichen Hinweisen und Kommentaren und was kann und wird falsch verstanden werden und einen Shitstorm auslösen? Cancel Culture, Authentizität, Idiome, veraltete gesellschaftliche Regeln, Verklärungen etc. stehen nicht nur im Raum in einer Übergangszeit, sondern stehen auch in der Bewusstwerdung von veränderten Blicken auf etwas zur Disposition und fordern einen anderen behutsameren Umgang.
Das ist nicht konfliktfrei, sollte aber auch offen angesprochen werden. Und als Ort einer solchen Auseinandersetzung ist ein Museum, das Geschichte fokussiert, geradezu prädestiniert. Hans-Jörg Czech, Vorstand der Stiftung Historische Museen, betonte beim Festakt zum 100. Geburtstag des MHG zuvor im Hamburger Rathaus die Verantwortung eines Geschichtsmuseums. Die Art und Weise, wie Geschichte erzählt und transportiert wird, wirke sich unmittelbar auf die Gesellschaft und das Demokratieverständnis aus, so sein Tenor. Was aber lässt im Gegenzug ein Geschichtsmuseum von außen Herangetragenes eindringen und zu?
Gerade erst hat die Aufarbeitung der Deutschen Kolonialgeschichte Fahrt aufgenommen. In der Abteilung der Kolonialgeschichte Hamburgs ist davon aber noch nichts bis wenig zu spüren. Zu „schönfärberisch“ und „verharmlosend“ findet die Keramikerin Carla Binter die derzeitige Präsentation. „Hamburger Handelsunternehmen, Redereien und Banken waren maßgeblich an der Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen in Afrika beteiligt“, so Binter, das würde in der derzeitigen Dauerausstellung nicht deutlich. Mit monumentalen Wandbildern „Untertanen“ und „König der Südsee“ legt sie nun den Finger in Wunden. Binters Keramiken sind eines der Beispiele dafür, wie Kunsthandwerk auch sein kann – politisch, diskursiv, provokativ und gegensätzlich,– ob sie allerdings letztlich Antworten auf die Fragen geben können, bleibt offen.
Auch die zylindrisch-hohe Installation von Textilkünstlerin Anja Matzke in der „Ehrenhalle“ des MHG hat sozialpolitische Sprengkraft. Mit ihren drei „Säulen der Gesellschaft“ beleuchtet sie die Themenkomplexe, die im MHG „entweder gar nicht, einseitig oder idealisiert dargestellt werden“. Sie sagt weiter: „Die Rolle des Hamburger Hafens während der Kolonialzeit, Carl Hagenbecks Völkerschauen zwischen 1874 und den 1930er Jahren, sowie Hamburgs 'verschwiegene Frauen' fehlen“. In feiner Stickerei (traditionell eine „typische Frauenarbeit“) verzeichnet Anja Matzke reihenweise Namen von Hanseatinnen, die trotz ihrer Leistungen und Bedeutungen nirgendwo mehr erwähnt sind und auftauchen. Keine Frage: Die Aufarbeitung dieser Themen ist überfällig und wird nach der umfassenden Renovierung des MHGs, ab 2023 sicher auch in den Fokus rücken. „Inspiration Geschichte“ ergänzt möglichweise hier und da einen weiteren Gedanken, der Berücksichtigung finden mag.
So sichtbar Konflikte an einigen Stellen, Zuordnungen und Kommentierungen auch sind, so unsichtbar sind sie wieder an anderen Stellen, denn oft sind die kunsthandwerklichen Objekte eher formal, farblich oder oberflächlich Sammlungsobjekten zugeordnet. Immerhin gibt es desweiteren jedoch auch Überlappungen von eigener, persönliche Geschichte und der Erzählung des Museums, die sich auf Phänomene im Kontext Hamburgs widerspiegelt. Eine eigenen Auswanderung aus Deutschland als Jugendliche ist von Caroline Matthaei den massenhaften Auswanderungswellen aus Deutschland porzellanfigürlich zugeordnet worden.
Am Anfang des Projekts „Inspiration Geschichte“ standen mehrere Führungen durch das Haus, in denen die teilnehmenden Künstler*innen die Dauerausstellung kennenlernten und z.B. ein Objekt, ein Thema oder ein Ereignis als Inspirationsquelle wählten. Das konnte eine Münze sein, wie der Pesttaler aus dem 15. Jahrhundert, dem Gold- und Silberschmiedin Michaela Alt nun ihren „Corona-Pesttaler“ gegenüberstellt; der Große Hamburger Brand von 1842, dessen Farben sich in einem Raku-Teller der Keramikerin Claudia Craemer spiegeln oder die nachgestellte Szene im Zwischendeck eines Schiffes voller Auswanderer – Hamburg war um Ende des 19. und frühen 20. Jahrhunderts einer der bedeutendsten Auswandererhäfen – denen Anne Andersson ihre leider schlecht beleuchteten handgewebten Handtücher als Erinnerung und „Heimatanker“ mit auf große Fahrt schickt.
Claudia Craemer: Abend, 2021, Wandteller inspiriert von einem Gemälde zum Großen Brand von 1842. Foto: Claudia Craemer
Die Ausstellung „Inspiration Geschichte“ steht also in unmittelbarem Bezug zu den Sammlungsobjekten und führt durch alle Abteilungen des Museums. Selbst der Luftschutzkeller wird bespielt, und zwar mit drei lebensgroßen „Schutzsuchenden“ aus einem feinen Drahtgeflecht, die Glaskünstlerin Ariane Forkel hier aus aktuellem Anlass sowie historischem Gedenken platziert.
Der Facettenreichtum dieser komplexen Schau ist enorm, Glas, Holz, Keramik, Metall, Papier und Textil – alle Gewerke sind vertreten. Wie groß die Vielfalt ist, zeigt allein schon die Sparte der Schmuckkünstler*innen. Während Gold- und Silberschmiedin Silja Böhm in ihren Ketten und Armbändern die Umrisse der ständig wachsenden Stadt vom frühen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert nachzeichnete, ließ sich ihre Kollegin Claudia Christl von der phallischen Form eines Zuckerhutes zu einem frech-frivolen Zuckerstreuer namens „Strammer Max“ anregen.
Sehr kompakt wirken die silbernen Ohrstecker und Manschettenknöpfe von Andreas Baur, deren Backstein-Formen auf die gelben Klinker der Grindelhochhäuser zurückgehen. Anke Gralfs und Karen Knickrehm hingegen begeisterten sich für die historischen Porträts zweier Hamburgerinnen und kreierten für sie die passenden Colliers und Armbänder. So treffen Geschichte und Gegenwart immer wieder aufeinander und entwickeln hier und da überraschende Dialoge.
Carolina D’Amico verleihte im gleichlautenden Namen ihrer Stiftung am Eröffnungstag erstmals den mit 5.000 Euro dotierten Carolina D'Amico-Preis 2022. Die dreiköpfige Jury entschied sich den Preis zu splitten und so wurden am Ende vier Preisträgerinnen geehrt:
Kathrin Heinicke, aus dem Gewerk Metall erhielt den ersten Preis für ihre hauchzarte Silberschale voller fein punzierter Namen und Orte ehemaligen jüdischen Lebens in der Hansestadt. Ausgestellt ist das Werk auf einem Sockel in der Museumsabteilung „Juden in Hamburg“. Sigrid Vollmer (Papier) erhielt den 2. Preis und die beiden Nachwuchspreise gingen an Silke Decker (Keramik) und Samira Heidari Nami (Textil).
Kathrin Heinicke, Schale und Löffel aus Silber, inspiriert von Objekten aus der jüdischen Abteilung des Museums, Foto privat
„Inspiration Geschichte“ – 2. Biennale angewandter Kunst
Zu sehen bis 20. November 2022, im Museum für Hamburgische Geschichte, Holstenwall 24, in 20355 Hamburg.
Öffnungszeiten: Mo, Mi + Fr. 10 – 18 Uhr, Do 10 - 21 Uhr (freier Eintritt ab 17 Uhr), Sa, So 10 -18 Uhr.
Alle weiteren Informationen (Homepage MHG)
Zur Ausstellung ist eine Publikation im Sandsteinverlag erschienen.
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