Seine letzte große Leidenschaft gehörte den Postkarten. Zigtausende hat Werner Bokelberg (1937–2024) in den vergangenen Jahren zusammengetragen. Aufnahmen aus der Zeit der Fotopioniere, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit ihren Kästen-Boxkameras sowohl Städte wie auch die sozialen Verhältnisse ihrer damaligen Einwohner porträtierten.
Zum Gedenken an den international renommierten Fotografen und Sammler, der am 20. August 2024 in Hamburg starb, veröffentlichen wir ein Porträt aus dem Jahr 2009.
Kleiner Kielort, Hamburg Harvestehude, keine hundert Schritte vom Redaktionsbüro von KulturPort.De entfernt. Eine der bekanntesten Kopfsteinpflasterstraßen in der Welt der Fotografie. Hier errichtete einst der Fotograf Reinhart Wolf (1930–1988) sein Studio in einem schlichten, dunklen Klinkerbau und von hier aus lenkte Werner Bokelberg sein virtuelles Bilderreich. Die Kommandozentrale besteht aus Schreibtisch mit Laptop. Dahinter hat der 71-jährige alles im Blick. Jedes Auto, jeden Passanten vor der Tür. Der gesamte Eingangsbereich ist mit semitransparentem „Spionage-Glas“ verspiegelt, das keinen Einblick, aber uneingeschränkten Ausblick erlaubt. Was Wunder, dass der Türsummer anschlägt, bevor der Finger des Besuchers auch nur in die Nähe des Klingenknopfes gelangt. Bokel, wie ihn Freunde und Assistenten nennen, wartet schon. Ein großer, leicht gebeugter schlanker Herr mit weichem, silbergrau umrahmtem Gesicht, durchdringendem Blick, ausgeprägter Liebe zu französischer Kultur– und einer kleinen Marotte, die man erst später bemerkt. Der Fotograf und Sammler trägt stets einen schwarzen und einen roten Strumpf.
Werner Bokelbergs Bilder kennt jeder. Überall auf der Welt. Dabei sind nicht nur die Star-Aufnahmen von Romy Schneider, Uschi Obermeier, Picasso oder Dali gemeint, die der gebürtige Bremer mit Sitz in Paris, Südfrankreich und Hamburg in den 60er und 70er Jahren für den „stern“ porträtierte und über die er fantastische Geschichten zu berichten weiß. (Mit Dali verbrachte er 1965 eine ganze Woche in Port Lligat und verarbeitete die Eindrücke in dem Bildband „DaDaDali“).
Es sind vielmehr die No-Name-Bilder, denen man sich nicht entziehen kann. Fotos, die in jeder x-beliebigen Drucksache auftauchen. Vor siebzehn Jahren erfand Bokelberg das „Ready to print“- System. Auf Deutsch: Das Bild von der Stange. Ob eine Textilfirma in Taiwan, ein Apothekerblatt in Aachen oder ein Versicherungsunternehmen in Vancouver für ihre Werbebroschüre eine glückliche Familie, ein verliebtes Paar oder eine herzige Großmutter mit Enkeln sucht – ein Mausklick und schon erscheint es auf dem Bildschirm. Angesichts der schier unerschöpflich großen Internet-Datenbank und des zigtausendfachen Zugriffs auf die Website solle man sich jedoch keine falschen Vorstellungen machen, sagt der nach eigener Einschätzung meistgedruckte Fotograf unserer Zeit: „Von dem, was man da verdient, kann man keine Sammlung aufbauen“. Jedenfalls keine, die seinem Maßstab standhält.
Bokelberg ist Perfektionist. Als Fotograf und als Sammler. Dabei mag er den Begriff „Sammler“ nicht besonders. Er ist ihm nicht klar genug. Und er macht ihm Angst. „Ich weiß nicht genau, was alles damit zu verbinden ist“, sagt er mit sanfter Stimme. „Der klassische Sammler, der neurotische Sammler, der manische Sammler…?“ Die Geschichte von dem Schweizer Chefarzt, der sich so wahnsinnig in seine Bücher verliebte, dass er zum Schluss nicht mehr zwischen dem Geld der Klinik und seinem Privatgeld unterscheiden konnte, steht ihm immer noch vor Augen. 2006 kam die Sammlung unter den Hammer und alle potenziellen Käufer seien sich „wie Leichenfledderer“ vorgekommen. Bloß nicht zu gierig werden und die Bodenhaftung verlieren, warnt er. Sympathischer sei ihm deshalb ein schlichtes „zusammengetragen von...“ – so, wie es in dem hervorragend gestalteten Katalog seiner Künstlerbücher der klassischen Moderne steht. Über 100 Vorzugsausgaben schwerpunktmäßig französischer Buchkunst zwischen 1893-1939, die sein Sohn, der New Yorker Filmemacher Oliver Bokelberg, in einem Filmessay in Szene setzte. Ein lohnendes Unterfangen, denn zwischen den Weltkriegen schufen die „Maler und Poeten“ wunderschöne Gesamtkunstwerke aus Wort und Bild. Dabei arbeiteten sie völlig frei und unabhängig voneinander. Die Bilder begleiten ein Gedicht nur, wie Paul Eluard 1935 schrieb, „um seinen Sinn zu erweitern und die Form festzulegen“. In diesem Sinne „illustrierten“ Salvador Dali, Man Ray und René Magritte die Grundsatzerklärungen von André Breton, Hans Arp die Texte von Tristan Tzara und Giorgio de Chirico die Prosa von Jean Cocteau. Wie ein „Who is Who“ der klassischen Moderne lese sich Bokelbergs Künstlerliste schwärmte Ausstellungskurator Rüdiger Joppien über die „livre d‘ artiste“ und der Sammler selbst verweist gerne auf die Intimität und Spontanität des künstlerischen Ausdrucks, der sich bei den Kleinformaten vielfach stärker zeige als bei den großformatigen Einzelblättern. Dabei schätzt Bokelberg nicht nur die ungewöhnliche Ästhetik, sondern vor allem „das unglaubliche Pensum an Gedanken“, das in diesen Büchern stecke: „Was uns 1968 an Provokationen einfiel, war doch nur ein Abklatsch dessen, was die Surrealisten, Dadaisten, Futuristen und Expressionisten schon getan und gedacht haben“.
Die Künstlerbücher sind nicht die erste Kollektion, die Werner Bokelberg zusammentrug. Es könnte aber die letzte sein. „Wenn mich etwas Neues interessierte, war ich immer gezwungen, die bestehende Sammlung zu verkaufen“ gesteht er lächelnd. „Das passierte so im Zehn-Jahres-Rhythmus“. Anthuber hieß der Trödler, der die Sammelleidenschaft in ihm weckte, den Namen weiß er heute noch. 1951 erstand der damals 14-Jährige bei dem charismatischen Alten in München einen alten Leierkasten. Wenige Jahre später waren „aus Spaß und Übermut – nicht als Wertschöpfung“ so viele Spieluhren und Musikorgeln hinzugekommen, dass sich der bereits erfolgreiche junge Film- und Pressefotograf kaum noch seiner Wohnung bewegen konnte. Die mechanischen Instrumente verkaufte Bokelberg komplett, als sein ernsthaftes Interesse an Art-Déco- und Jugendstil-Möbeln erwachte. Und diese Kollektion opferte er später (bis auf einige Stücke, von der sich seine Frau Anne in der Pariser Wohnung nicht trennen mag), als seine Leidenschaft für die Anfänge der Fotografie erwachte. „Als ich mich stärker um Fotos kümmerte, habe ich Daguerotypien an ein Museum in Kanada abgegeben“. Die Fotos, von denen er spricht, gelten in Fachkreisen als eine der bedeutendsten Sammlungen zur Geschichte der Fotografie: 136 „Schlüsselbilder“, von William Henry Fox Talbots „Trees and Reflections“ (1840) bis hin zu Horst P. Horst und Man Ray, vielfach publiziert und dokumentiert. „Von den Ersten die Besten“ lautete das Urteil der art 1982. Bei aller Hochachtung – 136 Bilder in 20 Jahren ist nicht gerade viel. Ja, meint Bokelberg lachend.
„Ich gehöre nicht zu denen, die Unmengen horten. Bei einer Sammlung ist das, was man nicht hat, genauso wichtig, wie das, was man hat. Wenige falsche Entscheidungen lassen eine Sammlung zu einer Ansammlung werden“. Deshalb hätte er sich zu Beginn erstmal ein Konzept gemacht: „Ich schaute mir alles an, was man über frühe Fotografie finden konnte, und machte mir dann einen Plan, was ich haben wollte. In den 60er Jahren ging das noch. Heute geht das nicht mehr. Der Kostendruck ist viel zu hoch“. Dank seiner exzellenten Beziehungen fand Bokelberg vor acht Jahren einen Käufer, der ihm gleich die komplette Sammlung abnahm: Scheich Saud Al-Thani, Cousin des Emirs von Katar. Er will den Staat am Persischen Golf zur neuen Kunstmetropole ausbauen und ein Fotomuseum bauen lassen. Dem guten Geschäft zum Trotz: Schmerzt der Verlust einer so lang gewachsenen Sammlung nicht? Nein, meint Bokelberg entschieden. „Ich habe den Fotos zu sehr auf den Grund geschaut. Sie haben sich für mich etwas entleert. Das Mysterium, das ich immer gesucht habe, hat sich mir nicht mehr erschlossen“. Mit der Literatur der Surrealisten kann ihm das, seiner Meinung nach, nicht passieren. Im Gegenteil: Je mehr er sich damit befasst, desto mehr fasziniert sie ihn.
Eigentlich wollte Werner Bokelberg nach dem Verkauf der Fotosammlung gar keine neue Kollektion mehr aufbauen. Aber die Künstlerbücher, insbesondere diejenigen, die im Kreis um die École de Paris herum entstanden sind, fesselten ihn einfach zu sehr: „Die kaufe ich nicht, um sie zu sammeln, sondern, um zu lernen“. Es sei „so unglaublich viel Zündstoff“ in diesen Büchern: „Es geht da um fundamentale Dinge des Lebens und des Sterbens“. Jacques Rigaut (1898–1929) und dessen sieben misslungenen Selbstmordversuche (er schoss sich schließlich eine Kugel durch den Kopf), beschäftigen ihn beispielsweise nachhaltig. „Das habe ich 50-mal gelesen und immer noch nicht begriffen“. Andere Autoren, so erzählt er, liest er tagelang und sei dann erst bei Wort Sieben. „Das ist kaum nachzuvollziehen, aber es gab in dieser Zeit einen absoluten Schwerpunkt an Genies und Irren“.
Peut à peut haben sich diese Bücher in sein Leben geschlichen. Das Herumstöbern in Antiquariaten hatte ihm schon immer Spaß gemacht und irgendwann, Anfang der 70er Jahre, stieß Bokelberg in einem der kleinen Läden entlang der Seine auf den legendären Fotoband von Moi Ver über Paris. Dreißig Jahre später merkte der Sammler dann endlich, „dass es ernst wird“. Von diesem Moment allerdings, sei er „mit der gleichen Routine“ und generalstabsmäßigen Planung vorgegangen, wie bei dem Aufbau der Fotosammlung: „Ich begann 2001 mit einer Art Bestandsaufnahme und besorgte mir den Katalog des Genfer Verlegers Albert Skira, „Anthologie du livre illustré par les peintres et sculpteur de l’Ecole de Paris“ von 1946. Dann fing ich an, die Bücher systematisch zu suchen“. Sie zu lokalisieren und anzuschauen sei gar nicht schwer gewesen. „Jeder Antiquar weiß, wohin er ein Buch verkauft hat“. René Crevels „Les Pieds dans le plat“ mit einer Radierung von Alberto Giacometti von 1933 gäbe es beispielsweise einmal in England, zweimal in Paris und zweimal in New York. Tristan Tzaras „Où boivent les Loup“ mit einer Radierung von Max Ernst befände sich in Chicago und New York. „Kandinskys „Klänge“ habe ich neun oder zehn Mal gesehen, aber nie gekauft. Entweder das Buch hatte Stockflecken, war zu stark befingert oder sonst beschädigt“.
Schließlich hatte er das große Glück in Paris ein taufrisches Exemplar zu erstehen, „das keinen Cent teurer war“. Konkrete Summen will Bokelberg nicht nennen, aber dafür gibt es ja Google. Eines der Chef d’Oeuvres in „Maler und Poeten“, Pierre Reverdys „Cravates de Chanvre“ (1922) mit Picassos Radierung „Les Baigneuse“, stammt aus der Sammlung des französischen Verlegers Daniel Filipacchi und wechselte im April 2004 bei Christie’s für 35.000 Euro den Besitzer. Bokelberg winkt ab. „Ach, das Geld! Geld spielt doch nur eine Rolle, wenn man es braucht. Und die Preise von heute sind sehr schnell die Preise von gestern“. Überhaupt: „Der Geldwert fällt völlig vom Objekt, sobald man es hat. Denn letztendlich“, sagt Werner Bokelberg mit Nachdruck, „ist doch nur noch eines wichtig: Ob das Buch im Kontext der Sammlung bestehen kann“. Die Bücher sollten tatsächlich nicht die letzte Leidenschaft bleiben.
In den vergangenen Jahren drehte sich im Atelier-Haus am Kleinen Kielort alles um die Postkarten des „petit commerce“, der kleinen Händler und Handwerker um 1900. Die unterschiedlichsten Branchen faszinierten Werner Bokelberg: Bäckereien, Metzgereien, Milch-, Käse-, Obst- und Gemüseläden, Gewürz-, Tabak-, und Weinhandlungen, aber auch Bistros, Cafés und Hotels, Fahrradläden, Friseurgeschäfte und Modeboutiquen, Schuster, Schmiede und Stellmachereien.
Die interessantesten 48 Schwarzweiß-Aufnahmen aus der Zeit von1905 bis 1925 ließ er in Schmuckkassetten neu auflegen, die unter dem Titel „Devanture“ die sozialen Verhältnisse vor über 100 Jahren ebenso spiegeln, wie das Selbstbewusstsein der damaligen Händler und Handwerker. Die Aufnahmen, die größtenteils aus Frankreich stammen, vereinzelt auch aus Belgien, Luxemburg und Deutschland, gehören ebenso zu seinem Vermächtnis, wie die großartigen Porträts von Romy Schneider, Picasso oder Dali, mit denen Werner Bokelberg Fotogeschichte schrieb.
Werner Bokelberg
Geboren: 22. Oktober 1937 in Bremen
Verstorben: 20. August 2024 in Hamburg
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