Fotografie

„Das Auge des Jahrhunderts“, so hat der französische Schriftsteller, Biograph und Literatur-Blogger Pierre Assouline den wohl berühmtesten Fotografen und Fotojournalisten seiner Zeit genannt: Henri Cartier-Bresson (1908–2004).

Sein Name steht für eine unbändige „Lust am Sehen“, die sich nun im Titel „Watch! Watch! Watch!“, der ersten großen Retrospektive seit 20 Jahren, im Bucerius Kunst Forum in Hamburg spiegelt: 240 Originalabzüge (Schwarzweißfotografien), flankiert von Publikationen aller Art – eine Herausforderung, der man sich unbedingt stellen sollte.

 

Zwei Voyeure hinter der gespannten Stoffwand (Brüssel, 1932). Der schattenhafte Sprung über das Wasser („Hinter dem Gare Saint-Lazare, 1932). Henri Matisse zu Hause (Vence, 1944). Es gibt etliche Inkunabeln, die sich als Meisterwerke des französischen Fotografen Henri Cartier-Bresson in das das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben; Bilder, die millionenfach reproduziert und publiziert wurden.

 

Ulrich Pohlmann, ehemaliger Leiter der Fotografie im Münchner Stadtmuseum und Kurator der Hamburger Schau, stellt am Alten Wall jedoch einen weitgehend unbekannten Cartier-Bresson vor. Den ebenso umtriebigen wie rastlosen Fotojournalisten vieler in Vergessenheit geratener Bildreportagen. Er lädt uns ein, den berühmten Fotografen als Humanisten und Geschichtenerzähler (wieder) zu entdecken, den Chronisten und Kronzeugen historischer Geschehnisse, dem es mit untrüglichem Gespür gelang, „in einem Sekundenbruchteil gleichzeitig die Bedeutung eines Geschehens wie auch… eine präzise Organisation der Formen zu erkennen, die das gegebene Geschehen zum Leben bringt“, wie er selbst sagte und diesen „entscheidenden Augenblick“ mit seiner Leica einzufangen. Dabei kommt auch Haltung des aus einer großbürgerlicher Unternehmerfamilie stammenden Franzosen deutlich zum Ausdruck.

 

Ausstellungsansicht Henri Cartier Bresson F Ulrich Perrey

Ausstellungsansicht. Foto: Ulrich Perrey

 

Cartier-Bresson war keinesfalls so unpolitisch, wie er sich gern gab. Zu Beginn der 1930er Jahre, als Europa zunehmend unter den Einfluss der Faschisten geriet, sympathisierte er mit den Linken und arbeitete für kommunistische Zeitungen. Bei den Krönungsfeierlichkeiten von Georges VI. in London 1937 fotografierte er konsequent nur die Schaulustigen am Straßenrand.

Wunderbar das Foto der alten Frau mit langgestecktem Hals auf den Schultern zweier Männer (Plakat- und Katalog-Motiv) oder der erschöpften Damen, die sich nach stundenlangem Warten einfach auf die Straße setzen. Kein einziges Foto von Kutsche und König in einer Auftrags-Reportage über die Krönung! Deutlicher kann man seine Kritik an der Monarchie wohl kaum zum Ausdruck bringen.

 

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War Henri Cartier-Bresson als junger Künstler noch stark vom Surrealismus und dem „Neuen Sehen“ beeinflusst, so wandelte sich sein Stil ab den 1930 Jahren zunehmend zum „Street Photographer“. Wo Geschichte geschrieben wurde, war er dabei, egal ob in Cuba, China, Russland oder den USA. Die Erfahrungen als französischer Soldat im Zweiten Weltkrieg und die Kriegsgefangenschaft unter den Deutschen (der er beim dritten Fluchtversuch entkam, um sich der Resistance anzuschließen), prägten sein Lebenswerk nachhaltig. Zu den intensivsten Bildergeschichten (den Begriff mochte er übrigens gar nicht) dieser Ausstellung gehören die Aufnahmen von 1945 aus einem Lager in Dessau für Displaced Persons, verschleppte Zwangsarbeiter aller Nationen. Die Szenen, die er da festhielt, die weinenden Kinder mit ihren leeren Blechnäpfen, die zusammengebrochene Frau auf dem Trümmerfeld, die ehemalige Informantin der Gestapo, die von einer befreiten Lagerinsassin erkannt und angegriffen wird – das sind alles Bilder, die einen nicht mehr loslassen.

 

Aber noch ein Wort zu den Sehgewohnheiten. In der Regel präsentieren Ausstellungen heutzutage fotografische Riesenformate. Aber wer in den Fotoalben der Großeltern blättert, wird dort die winzig kleinen Aufnahmen finden, die noch bis in die 1980er Jahre üblich waren. Die Originale von Henri Cartier-Bresson haben überwiegen das kleine Format – und da genau hinzusehen und sich darauf einzulassen, erfordert eine gewisse Anstrengung. Doch ganz gewiss, sie lohnt.


„Watch! Watch! Watch! Henri Cartier-Bresson”

Zu sehen bis zum 22. September 2024, im Bucerius Kunst Forum, Alter Wall 12, in 20457 Hamburg.

Öffnungszeiten: täglich 11:00 – 19:00 Uhr, donnerstags 11:00 – 21:00 Uhr
Am 22. August 2024 wäre Henri Cartier-Bresson 116 Jahre alt geworden. Als Geburtstagsgeschenk erhalten Besucher freien Eintritt in die Ausstellung.

Eine Ausstellung des Bucerius Kunst Forums, Hamburg, und der Fundación MAPFRE, Barcelona, in Kooperation mit der Fondation Henri Cartier-Bresson, Paris.

Weitere Informationen (BKF)

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