Inspiriert von Umberto Ecos „Im Namen der Rose“ inszeniert Tarik Saleh seinen brisanten Politthriller „Die Kairo Verschwörung“ als skrupelloses Ränkespiel um Herrschaft und Autorität, Leben und Tod. Tatort: Al-Azhar, mythenumrankte Universität der ägyptischen Hauptstadt und Epizentrum der Macht im sunnitischen Islam. Ihr gegenüber auf der anderen Straßenseite liegt das Hauptquartier der Staatssicherheit.
Der in Schweden geborene Regisseur katapultiert uns mitten hinein in eine für das Kino bisher fremde Welt, wo sich Vergangenheit und Zukunft überschneiden: 300.000 Studenten und 3.000 Professoren, atemberaubende Bilder entstehen. Der Film wurde in Cannes 2022 für das beste Drehbuch ausgezeichnet.
Seit 2015 kann Tarik Saleh nicht mehr nach Ägypten zurückkehren, wenige Tage nach Drehbeginn seines Crime-Dramas „Die Nile Hilton Affäre“ forderten ihn die Sicherheitsbehörden auf, das Land zu verlassen, gedreht wurde von da an in Casablanca. Beim Sundance Film-Festival erhielt der Film 2017 den World Cinema Grand Jury Prize.
Kairo, Januar 2011 am Vorabend der Revolution, eine Stadt voller Widersprüche, hier herrschen die Reichen, die Mächtigen. Korruption, Willkür, Gewalt und die Gier nach Geld bestimmen den Alltag, jene Extreme von Luxus und Armut. „Die Nile Hilton Affäre” kreiert Tarik Saleh als melancholisch düsteren Neo-Noir. Weder Moral noch Fernsehapparat funktionieren, Kommissar Noredin (grandios Fares Fares) erträgt es mit scheinbar stoischer Gleichgültigkeit. Nach dem Tod seiner Frau will er nur vergessen, flieht in die Routine der Arbeit, betäubt daheim die Trauer, den Schmerz mit Alkohol und Tabletten. Lässig, ohne Skrupel kassiert der eher wortkarge Polizeibeamte Schmiergelder, gibt sich tough, kalt, unnahbar. Nie hat er die Machtstrukturen seines Landes hinterfragt, doch dann geschieht ein Mord, der alles verändert.
Zwei Protagonisten zentriert das eigenwillige Schuld- und Sühnedrama: Noredin und die Stadt selbst. Ihre dunklen Geheimnisse, die schillernden Facetten sind kaum zu dechiffrieren, die Fassade täuscht, bröckelt bereits, jeder wird am Ende auf seine Art rebellieren. „Die Nile Hilton Affäre” ist eine Chronik des ‚Ägyptischen Frühlings’, der Zuschauer steckt mittendrin, spürt die Nervosität, eine wachsende Unruhe. Gerüchte kursieren, aufrührerische Parolen machen die Runde. Noch knien auf der Straße die Gläubigen und beten, wo in wenigen Tagen schon die Demonstranten den Umsturz fordern werden. Noch regiert Präsident Mubarak und unser Held kurvt im schrottreifen Wagen um die Ecken finsterer Gassen, hält an, oft genügt eine Kopfbewegung, das Geldbündel taucht wie aus dem Nichts auf, eine angstvoll unterwürfige Geste, kein Handeln, Feilschen, Betteln würde nützen. Diese Cops bekämpfen nicht das Verbrechen, im Gegenteil, Schutzgelderpressung sehen sie als selbstverständlichen Teil ihres Jobs an. Kamal Mostafa (Yasser Ali Maher) ist Noredins Onkel und Vorgesetzter. Als ranghöchster Polizist bewegt er sich geschickt auf dem politischen Parkett, immer besorgt um beste Verbindungen und hohe Bestechung.
Der schwedische Regisseur ägyptischer Abstammung hat einen besonderen Blick für urbane Schönheit: Spiralförmige furchteinflößende Treppenhäuser, die Elendsquartiere der Obdachlosen auf den Gehsteigen, das klaustrophobische Labyrinth von Dächern und Terrassen in den Armenvierteln, das den Flüchtlingen Schutz gewährt gegenüber den Verfolgern. Jedes für sich bleibt ein eigenes autonomes Reich, während Zuschauer und Protagonist vom Großstadtdschungel verschlungen werden. Dies ist keine inszenierte Kulisse, sondern die suggestive Expedition in das Herz der Finsternis. Überall noch die Spuren fremder Machthaber aus den vergangenen Jahrhunderten (Kamera: Pierre Aïm). Es entsteht ein packendes hypnotisch beklemmendes Gesellschaftspanorama, ein düsterer Moloch, das Licht flackert, verschwindet, die Farben sind wie ausgewaschen, Staub und Schmutz auf Fenstern und Windschutzscheibe versperren die Sicht. Ob Noredins Wohnung daheim oder das Polizeirevier, alles wirkt veraltet, abgenutzt, verrottet wie das politische System selbst. Dazwischen die Ausflüge des Kommissars zu den protzig-sterilen Luxusfestungen am Rande der Stadt.
Von all dem sehen wir in „Die Kairo Verschwörung“ kaum etwas und doch hat der Film seinen Ursprung in demselben politisch-historischem Kontext. Erzählt wird die Geschichte von Adam (Tawfeek Barhom), Sohn eines strenggläubigen Fischers aus einem kleinen entlegenen Dorf. Armut wird als Gottes Wille akzeptiert, die Erziehung ist archaisch streng, Rauchen verpönt, schon der Verdacht eines Vergehens wird mit körperlicher Züchtigung bestraft. Als Adam ein Stipendium an der Al-Azhar-Universität erhält, wird für ihn ein Traum wahr, aber er ist überzeugt, der Vater lässt ihn nicht gehen, braucht den Sohn an seiner Seite beim täglichen Fischfang. Zu seiner Überraschung willigt der alte Mann am Ende ein, zählt doch allein der göttliche Wille Allahs, dem alle, auch er, sich beugen muss. Es ist das erste Mal, dass Adam sein Dorf verlässt, überwältigt und eingeschüchtert steht er auf dem Campus der Al-Azhar. Die engen überfüllten Unterkünfte mit ihren Stockbetten, sind düster, ärmlich, befremdet stellt der Neuling fest, dass manche der Studierenden die Regeln nicht genau nehmen und schon verbringt er seinen ersten Abend mit Zizo (Mehdi Dehbi) in der schillernden vibrierenden Metropole zwischen Neo-Reklamen, Burger-Läden. Die Menschen drängen sich durch die nächtlichen Straßen, Adam beäugt diese ihm noch fremde Welt wie einen Zoo exotischer Wesen.
Kurz nach seiner Ankunft stirbt der Großiman, Oberhaupt der Universität und höchste Autorität im sunnitischen Islam. Der Oberste Rat der Gelehrten tritt zusammen, die 27 Imane wählen den neuen Großiman. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, im Hauptquartier der ägyptischen Staatssicherheit, versammelt der Chef seine Offiziere und erklärt die Wahl zur Frage der nationalen Sicherheit, sprich, es muss gewährleistet sein, dass der Nachfolger die politischen Vorstellungen des Geheimdienstes teilt. Mit dieser Aufgabe wird ein offensichtlich erfahrener alter Offizier betraut, eben Ibrahim Fares Fares). Seine Aufgabe ist, einen Informanten innerhalb der Universität aufzubauen, jemanden ohne Kontakte nach außen, der nicht zu ihm zurückverfolgt werden kann. Er rekrutiert Adam, der widersetzt sich nicht, fürchtet in Ägypten doch jeder die Staatssicherheit. Der letzte Spion wurde enttarnt, stürzte sich angeblich vom Minarett auf den Innenhof der Moschee. Daher der Originaltitel: „Boy from Heaven“. Es war jener Zizo, auch ein Stipendiat aus der Provinz, dessen Ermodung Adam heimlicher Zeuge ist. Ibrahim setzt den frisch angeworbenen Informanten auf eine Gruppe radikaler Muslim-Brüder an, die ihren Favoriten auf die Top Position lancieren wollen.
Die Al-Azhar ist ein schwer zu dechiffrierendes Netz konträrer Interessen, religiöser und politischer Strömungen und Palast-Intrigen. Ibrahim macht Adam zunehmend mehr Druck, der Vater soll an Krebs erkrankt sein, man verspricht, die kostspielige Behandlung zu übernehmen, die Bedingungen des Arrangements sind klar sind klar und jedes Wort erlogen. Telefonate ins Heimatdorf sind strengsten untersagt, jeder Schritt von Adam wird überwacht. Es entwickelt sich ein spannendes Katz-und-Maus-Spiel zwischen den Protagonisten. Der skrupellose zynische Geheimdienstler in dem Siebziger-Jahre-Anzug überschätzt sich, und unterschätzt seinen vermeintlich naiven Handlanger aus der Provinz. Ibrahim hat jede politische Säuberung unbeschadet überstanden, fürchten ihn doch alle, aber in Adam findet er seinen ersten überlegenen Gegner, jemanden, der sich weder bestechen noch täuschen lässt, auf eine seltsam unauffällige Art brillant.
„Die Kairo Verschwörung“ ist nur auf den ersten Blick ein konventioneller Polit-Thriller, eigentlich ein mutiger Vorstoß in eine Welt, die noch niemand zu erkunden wagte. Das Faszinierende für uns Außenseiter ist die Denkweise, die Sprache innerhalb der abgeschotteten Al-Azhar: Gebete, Diskussionen, Gleichnisse, Rituale, religiöse Metaphern, Fabeln, dahinter aber verbergen sich ähnliche Machtstrukturen wie auf der anderen Straßenseite bei den Geheimdienst. Der Film wirkt strenger, visuell graphischer als „Die Nile Hilton Affäre“, Gefühle bleiben verborgen, als hätte jene unheilige Allianz aus Religion und Politik sie erstarren lassen. Tarek Saleh benutzt Kairo nie als Kulisse, er macht die Stadt wieder zu einem weiteren eigenständigen Protagonisten, erreicht dadurch er eine unglaubliche atmosphärische Authentizität und Spannung.
Tarik Saleh über den Film, seine Vorfahren, den Islam und das Genrekino
„Mein Großvater, in einem kleinen Dorf namens Fisha Bana am Nil geboren, wurde an der Azhar-Universität aufgenommen, der damals angesehensten Universität in Nordafrika und dem Nahen Osten. Er war der erste in seinem Dorf, der eine echte Ausbildung erhielt, was zu seiner Zeit nicht üblich war.
Die Azhar wurde im 10. Jahrhundert von den Fatimiden erbaut und war von Anfang an, der wichtigste Ort für islamische Studien. Die Fatimiden war schiitische Muslime, aber als Salah ad-Din – im Abendland als Saladin bekannt – im 12. Jahrhundert über Ägypten herrschte, war seine erste Entscheidung, die Azhar in eine sunnitische Einrichtung umzuwandeln. Ägypten war immer wieder von Fremden besetzt. Am längsten von den Osmanen. Trotzdem ist es der Azhar immer gelungen, mit der jeweiligen politischen Macht zu koexistieren, was sich nicht zuletzt dadurch erklären lässt, dass die Universität schon immer hoch angesehen war und als die wichtigste Wissensquelle über den Islam in der Welt galt.
Es war nicht möglich, „Die Kairo Verschwörung“ in Ägypten zu drehen. Seit 2015 stehe ich auf einer Liste unerwünschter Personen, die sofort verhaftet werden, wenn sie wieder ägyptischen Boden betreten. Das ist bedauerlich, denn ich liebe dieses Land, ich habe viel Zeit dort verbracht und habe Freunde und Familie in Ägypten. Meine Mutter ist Schwedin, mein Vater Ägypter, ich betrachte mich als Ägypter aus Schweden. Ich bin kein Nationalist, aber es ist ein Land, das ich meinen Töchtern gerne zeigen würde – und das meine Liebe nicht erwidert.
Ich habe mehr Freiheit als ägyptische Filmemacher, die Facetten des Landes zu beschreiben. Das Land ist komplex, wie alle Länder und lässt sich nicht auf eine einzige Wahrheit reduzieren. Ich glaube, dass alle Filmemacher eine doppelte Position einnehmen: eine innere und eine äußere zu der Geschichte, die sie erzählen, und der Welt, die sie damit beschreiben. Filmemachen ist wie gemacht als Beruf für Migranten. Viele große Regisseure sind Einwanderer oder Söhne von Einwanderern, von Martin Scorsese über Milos Forman bis Billy Wilder.
Wir haben „Die Kairo Verschwörung“ in der Türkei gedreht. Um Azhar darzustellen, konnten wir in der Süleymanye-Moschee in Istanbul drehen, einem großartigen Gebäude aus dem 16. Jahrhundert, dessen Baumeister Sinan den Architekten der Blauen Moschee ausgebildet hat.
Der Islam ist die jüngste Religion der Welt, er ist pragmatisch und verwendet viele Geschichten und Fabeln zu Erziehungszwecken. Ich bin mit diesen Geschichten aufgewachsen. Im Film sprechen Ibrahim und Adam über die mythische Figur des Tariq Ibn Ziyad, jenes militärischen Anführers, der zu Beginn des 8. Jahrhunderts aufbrach, um Spanien zu erobern. Außerdem spricht Adam in seinem Gespräch mit dem blinden Scheich über die Debatte unter den Anhängern nach dessen Tod.
Mein Film ist keine Kritik am Islam. Es geht nicht darum, irgendeine dunkle Seite der Religion aufzudecken, sondern vielmehr darum, die Macht des Wissens zu begreifen. Entweder als befreiende oder als einsperrende Kraft. Ich verstehe sehr gut, warum Muslime den Darstellungen ihrer Religion im Westen misstrauisch gegenüberstehen. Ich selbst bin inmitten von bösartigen Vorurteilen und Versuchen aufgewachsen, uns als Monster darzustellen. Dennoch glaube ich nicht, dass der Islam verteidigt werden muss. Ich habe noch nie einen Film über den Islam gesehen, der einfach nur ein Film ist: Es gab immer eine Meinung dafür oder dagegen… Ich dagegen wolle einen Film ohne Wertung und Scheuklappen inszenieren. Ich war schon immer von der Azhar Universität fasziniert und möchte das Publikum einfach auf eine Reise mitnehmen.
In allen staatlichen Institutionen findet man diesen erstaunlichen Typ Mann, der alle Führungswechsel mitgemacht und irgendwie überstanden hat und dem es sogar gelungen ist, sich zu verstecken, als man die alten Mitarbeiter entlassen wollte. Ein Typ, von dem man nicht weiß, wie man ihn loswerden kann, der zu viele Dinge weiß und der behauptet, die Institution seinen Weggang nicht überleben wird. Als so jemanden habe ich Ibrahim gesehen. Er war schon unter Mubarak da, er wurde wahrscheinlich von den Rumänen der Securitate ausgebildet, zu der Zeit als Ägypten Geschäfte mit dem Ostblock machte. Sein Vorgesetzter wurde von den Amerikanern, also der CIA, ausgebildet und ist viel brutaler. Ägypten hat sich eben immer mit dem Meistbietenden verbündet. Fares Fares hat den Look für die Figur selbst entworfen, inspiriert, wie er mir sagte, von einem seiner Onkel. Ich fragte ihn, ob er wirklich so weit gehen wolle, aber dann gefiel mir das Ergebnis sehr gut. Wenn man Ibrahim sieht, stellt man sich sofort vor, dass er hohen Blutdruck und vielleicht eine Bypass-Operation hinter sich hat. Wie Adam wird auch Ibrahim von allen unterschätzt. Er sieht aus wie jemand, der nicht weiß, was er tut. Aber er versteht die Strategie des blinden Scheichs besser als jeder andere, und er ist bereit, ihn gewähren zu lassen, denn tief in seinem Inneren weiß er, dies könnte seine letzte Mission sein. Natürlich sagt er das nicht. Ich bin ein Fan von John Le Carré, ich mag es, wenn Figuren die wahren Motive ihres Handelns verbergen.
Das Genre ist eine Art Vertrag zwischen dem Regisseur und dem Publikum: Wenn ich einen Thriller ankündige, wird das Publikum bestimmt Erwartungen haben. Aber ich möchte diese Erwartungen untergraben, die Klischees des Genres durch den Einbruch der Realität zerstören. Denn dadurch verliere ich die Kontrolle über die Geschichte, und das ist ein Gefühl, das ich genieße. Ich glaube, jeder Regisseur ist auf der Suche nach diesem Gefühl, nach der Art und Weise, wie die Figuren in seinem Film die Kontrolle über die Geschichte übernehmen und beschließen, ihr eigenes Leben zu leben. Manchmal macht mir das Angst, aber um ehrlich zu sein, ist das der Grund, warum ich Filme mache: um meine Träume wahr werden zu lassen."
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Regie: Tarik Saleh
Drehbuch: Tarik Saleh
Darsteller: Tawfeek Barhom, Fares Fares, Mohammad Bakri
Produktionsland: Schweden, Frankreich, Finnland 2022
Länge: 121 Minuten
Kinostart: 6. April 2023
Verleih: X Verleih AG
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright X Verleih AG
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