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Vorsicht Sehnsucht - oder Unkraut vergeht nicht...

Alain Resnais, der Mitbegründer der Nouvelle Vague, hat einmal eine Filmkathedrale wie ‚Hiroshima, mon amour’ geschaffen. Er ist inzwischen 87 und selbst eine Art Denkmal, der große Regisseur.
Und nun hat er also einen neuen Film gemacht, ‚Les herbes folles’.

Ich habe gelesen, hier handele es sich um eine altersweise, ganz leichte, aber keineswegs milde Komödie. Im vorigen Jahr erhielt der Film in Cannes den Spezialpreis der Jury.
Das klingt alles sehr interessant und alle scheinen sich einig: ein Volltreffer.
Bei Hauptdarstellerin Sabine Azéma, Resnais Partnerin, handelt es sich um eine der beliebtesten Darstellerinnen Frankreichs. Sie bekam verschiedentlich den César verliehen oder wurde dafür nominiert.
Ein weiterer Grund zur Vorfreude.
Die Vorlage bildet der Roman ‚L’incident’ des hoch gelobten französischen Bestsellerautors Christian Gailly. Auch das klingt viel versprechend.
Ich setzte mich erwartungsvoll ins Kino.

Zunächst sind da diese Kräuter, die überall durch Asphalt oder Beton stoßen, unaufhaltsam, das wuchernde Leben. Sie werden im Lauf des Films immer wieder gezeigt. Und immer noch mal. Das sieht wunderschön aus. Überhaupt spielt der Film gekonnt mit Farben und Licht, oft ist ein Teil der Szene in ein helles, grünliches Blau getaucht. (Kamera: Eric Gautier)
Anfangs wird viel erzählt. Eine Männerstimme erklärt, während es gleichzeitig zu sehen ist, wie Marguerite (Sabine Azéma), eine etwa fünfzigjährige Zahnärztin und Hobby-Pilotin, sich Schuhe kauft, wie ihr anschließend die Handtasche weggerissen wird und warum sie nicht um Hilfe ruft, sondern nur übers Hilferufen nachdenkt.
Später findet Georges (André Dussollier), ein weißhaariger Mann im allerbesten Alter und offenbar Rentner, Marguerites Brieftasche in einem Parkhaus. Geld ist natürlich keins mehr drin.

André Dussollier mag ein begnadeter Darsteller sein, sonst wäre er nicht so erfolgreich und sonst würde er nicht in einem Alain Resnais-Film mitspielen, aber sogar, wenn er mal lacht, wechselt sein Ausdruck lediglich zwischen grimmig, mürrisch und beleidigt.
Er betrachtet das Passfoto von Marguerite und das auf ihrem Pilotenschein und er beginnt offenbar, Träume zu spinnen.
Obwohl er zunächst mit dem Gedanken spielt, die Besitzerin der Brieftasche selbst anrufen, gibt er das verlorene Stück dann bei der Polizei ab, hinterlässt jedoch seine Telefonnummer‚ falls sie sich bedanken will’.
Das tut sie auch mit einem kurzen Anruf.
Von da ab füllt Georges ihren Anrufbeantworter mit persönlichem Gequatsche, während sie in ihrer Praxis arbeitet.
Man könnte denken, der einsame Rentner hat halt nichts Anderes zu tun; doch Georges ist keineswegs einsam. Er lebt mit einer hübschen Blondine, Suzanne (Anne Consigny) in einem geschmackvollen Heim. Zunächst ist man geneigt, Suzanne für seine Tochter zu halten, bis zwei erwachsene Kinder auftauchen, die sie ‚Maman’ nennen und bis Georges erwähnt, er sei seit dreißig Jahren verheiratet. Also ist Suzanne seine Frau. Und, wie sich später herausstellen wird, eine Art Heilige.
Die Schauspielerin Anne Consigny ist tatsächlich schon 46, sieht aber bedeutend jünger aus. Wenn sie ihn wirklich vor dreißig Jahren geheiratet hat, muss Georges sie von der Schulbank geklaut haben.

Was anfing wie eine verspielte Komödie, bekommt merkwürdige Risse (wie der Beton durch das Unkraut.) Georges schaut zwei jungen Mädchen hasserfüllt hinterher und verspürt den Wunsch, sie umzubringen. Dann versucht er, sich selbst zu beruhigen: ‚Nicht wieder! Denk daran, nicht wieder…’ Als er die Brieftasche abgibt, befürchtet er, der Polizist könne ihn ‚erkennen’. Und seine Frau deutet wiederholt an, es sei doch hoffentlich alles in Ordnung - ? Er würde doch nicht wieder - ?
Nicht wieder - was? Morden? Sie ständig betrügen? Fremden Frauen den ‚AB’ füllen, bis man ihn anzeigt?
Wir werden es nie erfahren, denn was so interessant angedeutet wird, verliert sich später völlig und wird nicht mehr erwähnt.
Suzanne, die tagsüber in einer Musikalienhandlung arbeitet, bemüht sich, den ruhelosen Gatten zu beschäftigen. Er soll den Rasen mähen und am Haus streichen und lackieren.



Das macht er zwar, aber seine Zeit reicht immer noch aus, um Marguerite weiter zu belästigen. Nachdem er sogar ihre Reifen, alle vier, brutal zerfetzt, reicht es ihr, sie bittet die Polizei, mal mit ihm zu reden – ohne ihn allerdings anzuzeigen.
Und nachdem er sie dann wirklich in Ruhe lässt, fehlt er der Zahnärztin! Jetzt beginnt sie, hinter ihm her zu rennen, ihn irgendwo aufzustöbern und mitleidslos durch nächtliche Anrufe seine Frau aus dem Bett zu reißen. Nach und nach wird auch ihre Kollegin (Emmanuelle Devos) immer mehr in den Fall verwickelt. Zuerst muss sie Marguerites Patienten mit übernehmen, weil die zeitweilig kein Interesse mehr an ihnen hat, dann lernt auch sie Georges kennen und wird durch ihn aus dem Tritt gebracht.

Ehefrau Suzanne bleibt die ganze Zeit sanft und gut und vorwurfslos. Sie bittet, wieder mal aus dem Bett gerissen, Marguerite nachts zum Tee, damit sie sich unterhalten können. Worüber geredet wird, bekommen wir leider nicht zu hören, denn wir erleben inzwischen, wie der angetrunkene Georges nach Hause kommt, die im Auto vor seinem Haus wartende Kollegin Marguerites erst anpöbelt, weil sie seinen Parkplatz blockiert und dann durchs Autofenster wild mit ihr zu schmusen beginnt.

Wie weit das geht, bleibt unklar. Doch als die Kollegin bald darauf erhitzt an der Tür klingelt und um ein Glas Wasser bittet, sieht sie so aus, als sei’s passiert und wäre okay gewesen. Inzwischen torkelt Georges zwischen den drei Frauen umher und spricht irgendwelche bitteren Worte. Eigentlich schimpft und meckert er überhaupt sehr viel. Und hier kommt deutlich zutage, was den Film so seltsam macht: was bringt eigentlich die drei Frauen dazu, ihn zu umringen?
Die Kollegin ist attraktiv, die Ehefrau ausgesprochen hübsch, Marguerite apart und reizvoll, trotz sehr gewöhnungsbedürftigem, fusseligem rotem Haarflusch.

Und Georges? Wäre er charmant – oder witzig – oder geistreich! Wäre er wenigstens rührend oder liebenswert! War nicht von Altersweisheit die Rede? Wäre er ein berühmter Mann, etwa ein großer Regisseur wie Alain Resnais oder ein erfolgreicher Autor wie Christian Gailly! Dann könnte man’s eher verstehen, solche Männer werden ja oft umschwärmt, auch, wenn es ihnen an persönlicher Liebenswürdigkeit mangelt. Georges indessen ist einfach ein grummeliger alter Rentner, unsortiert emotional und meistens beleidigt. Warum also tun die drei so, als wäre er der letzte Mann auf Erden?

Nachdem Marguerite mit Georges, den ein geplatzter Hosenreißverschluss nicht wenig beeinträchtigt und mit der armen Suzanne auf dem Rücksitz in die Ewigkeit geflogen ist und man glaubt, das war’s nun, kommt noch eine letzte Szene: die kleine Tochter der Kollegin liegt im Bett und fragt: „Aber wenn ich eine Katze bin – bekomme ich dann auch Leckerlis?“
In diesem Moment warf der Zuschauer neben mir den Kopf zurück und stieß ein brüllendes Gelächter aus. Er lachte noch auf der Treppe, neben mir, als wir das Kino verließen.
Ich hörte sein nicht endendes Kichern in der dunklen Winternacht verklingen und ich sah ihm mit einem gewissen Neid hinterher.
Er hatte den Film offenbar verstanden.


VORSICHT SEHNSUCHT
Ein Film von Alain Resnais
104 Min. Frankreich 2009
Deutsche Fassung und OmU
mit Sabine Azéma, André Dussollier, Anne Consigny, Emmanuelle Devos, Matthieu Amalric und Michel Vuillermoz
www.lesherbesfolles-lefilm.com

Bundesstart: 08. April 2010

Copyright Fotos: Schwarz-Weiss Filmverleih OHG

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