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„Blattkritik. Vom Glanz und Elend der Journaille“ – von Anton Hunger

Man entziehe einem Drogenabhängigen den Stoff – das kann für ihn lebensbedrohlich ausgehen.

Man lege den gesellschaftlichen Sumpf trocken, der dem Enthüllungsjournalismus die Grundlage für deren Gerüchteküche bietet – er wird nicht überleben. Welch eine Horrorvorstellung für Skandaljäger, man darf sie auch mal Schmeißfliegen nennen: Es gibt Tage, „an denen einfach nicht wirklich etwas passiert, das des Berichtens würdig wäre (…)“ Und wenn nicht, dann wird nachgeholfen, „Dann wird schnell mal aus einem ordinären Blechschaden mehrerer kollidierender Automobile eine veritable ´Massenkarambolage´ oder aus einem brennenden Feldhäuschen schon mal eine ´Feuersbrunst´, die Legionen von Feuerwehrmännern ´unter Einsatz ihres Lebens bekämpfen´.“

Doch die Journalisten der Boulevardpresse und nicht nur dieser – haben den Bogen raus: Mit der notwendigen Spürnase, und wenn es denn aus Zeitmangel sein muss – auch durch gut bezahlte Informanten, sprich Spürhunde, sind sie immer da, wo es Opfer zu beklagen gibt, wo es Politiker durch Korruptionsfälle und Liebesaffären zu stürzen gilt. Hauptsache, sie sind die ersten bei der Berichterstattung und beim unvermeidlichen Überlebenskampf der Gazetten-Wirtschaft.

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Zu dieser leidigen Schlussfolgerung muss man kommen, wenn man das Buch „Blattkritik“ von Anton Hunger gelesen hat. Auf 248 Seiten lässt er die populärsten Skandalgeschichten der vergangenen Jahre Revue passieren. Da geht es um die bekannten Fälle des Sturzes der beiden Bundespräsidenten Köhler und Wullf, um den Fall von Guttenberg, um das Entführungsopfer Natascha Kampusch, um ein angeblich ertrunkenes Mädchen, um Kachelmann, um Ottfried Fischer, um die Verhinderung des Absenkens der englischen Ölplattform durch die Greenpeace, um die Lügen von irakischen Chemiewaffen durch Bush und das Nachplappern durch die deutschen Medien. Und, und, und…

Anton Hunger muss es wissen: Laut Klappentext wurde er 1948 in Cham in Bayern geboren. Er studierte Volkswirtschaft, Politik und Soziologie. Er arbeitete als Zeitungsjournalist und als Kommunikationschef bei Porsche, war Mitgesellschafter beim Wirtschaftsmagazin „brand eins“, Kuratoriumsmitglied der „Zeitenspiegel Reportageschule“ und ständiger Kolumnist beim „Medium Magazin“.

Sind seine ausgewählten, übrigens für wache Leser bereits bekannten, Fallbeispiele auch nur mit Mühe zu lesen – so widerlich ist das Ganze – der Autor legt noch einen drauf, indem er die Methoden der Dunkelmänner der schreibenden Zunft beschreibt. Da sei von einem Anspruch auf Qualität der journalistischen Beiträge keine Rede mehr. Wahrheitssuche – Fehlanzeige. Da wird von Schmiergeldern berichtet, von Affärenflüsterern, die für viel Geld Informationen an die Presse liefern, von einer permanenten Jagd nach Scoops (exklusiv, früher als andere), von reinen Überfällen auf Opfer, die nicht einmal um ihre Einwilligung gebeten wurden, von der Jagd nach „prominenten“ Liebesaffären, vom spektakulären Umgang mit der sogenannten Elite, von Lügen, von Fälschungen mit Texten und Bildern, vom sogenannten Witwenschütteln, vom Abmontieren von Klingelschildern bei Opfern von kriminellen Handlungen, um die Konkurrenz aus dem Felde zu schlagen.

Wie kann es anders sein, natürlich geißelt er auch BILD, indem er die Medienforscher Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz zitiert: Dort werde mit „Intelligenz, Routine, Radikalität und gnadenloser Geschäftstüchtigkeit – Menschenverachtung und Killerinstinkt bei Bedarf inklusive – ein Massenmedium hergestellt, das auf publizistischen und ökonomischen Erfolg getrimmt ist“. „Tabus oder Intimbereiche kennen dreist recherchierende Boulevard-Journalisten von Presse und Fernsehen jedenfalls nicht. Gefilmt oder fotografiert wird grundsätzlich schon, wenn die Haustüre aufgeht und ein verschrecktes Gesicht erscheint,“ so der Autor auf Seite 107.

Doch wer wollte den Veitstanz der Schnüffelhorcher und -schreiber verurteilen? Sie gar ermahnen? Sie an den Ehrenkodex für Journalisten erinnern, der da u.a. besagt, „Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse“? Anton Hunger schreibt, jede Gesellschaft hat die Medien, die sie verdient. Und trotzdem unternimmt er den Versuch einer Kritik. Er will mit seinem Buch, das er im weitesten Sinne als ein politisches Buch bezeichnet, zeigen, warum die Journalisten „in dieser Welt nichts anderes als Gefangene sind, die den widersprechenden Ansprüchen an ihren Beruf systembedingt allzu oft nicht gerecht werden können“. Und „sie sind nicht unabhängig, schon gar nicht von redaktionellen Zwängen.“ Die heutige Situation anklagend, schreibt er auf Seite 181: „Längst haben Personalisierung und Instrumentalisierung die sachliche Analyse verdrängt. Ethische Standards und journalistische Sorgfaltspflicht weichen zunehmend dem Druck, Auflage und Quote zu machen, egal um welchen Preis.“

Wenn nichts los ist, dann werden, so der Autor, Kampagnen organisiert und inszeniert. Gut geeignet sind solche, die sich um die „Rettung“ der Menschen „sorgen“. Die Vogelgrippe war so eine Kampagne, ebenso die Schweinegrippe, „bei der man sich durch Einnahme von Pandemrix nicht mehr anstecken konnte“. Was ausserdem die Auflagen erhöht und „was neurotische Medien einer neurotischen Gesellschaft in immer kürzeren Zyklen auftischen“: Geldanlage-Empfehlungen, Raucherentwöhnungsvorschläge, Alkoholverbotsforderungen, Ernährungspläne, Gesundheitshinweise und u.a. Handreichungen für das vollkommene Liebesleben.

Anton Hunger erwähnt mehrmals die systembedingte Verfasstheit der Medien und zitiert Hannah Arendt (1906-1975), eine jüdische deutsch-amerikanische Theoretikerin und Publizistin, die bereits 1961 die Befürchtung äußerte, dass die Medien „mittels der Macht des Marktes die Kultur verdrängen und sie dem Diktat der Unterhaltung unterwerfen“ würden. Der Autor beschwichtigt: „Aber Medien, auch wenn sie marktwirtschaftlich organisiert sind, haben einen Auftrag und eine gesellschaftliche Verantwortung.“ Mehrmals appeliert er an deren Vernunft und Auftrag, die „Institutionen und die Regierenden zu kontrollieren“. Die sogenannte Vierte Macht benötige einen „Kompass, um das Wichtige vom Unwichtigen, das Interessante vom Uninteressanten, das Banale vom Wissenswerten und das Falsche vom Richtigen zu trennen“.

Fragt sich, wer den Kompass bedient, wer und welche Ideologie imstande ist und willens ist, den nicht leichten Weg zur Wahrheitsfindung zu gehen? In einer Klassengesellschaft etwa? Hunger weiß selbst, dass Appelle an die Vernunft von vornherein in den Sand gesetzte Wunschträume sind. Er kennt sicher auch die marx'sche Erkenntnis, dass die erste Freiheit der Presse darin besteht, kein Gewerbe zu sein. Jedes System, je nachdem, wer die Macht ausübt, hält auch die Medien am Gängelband, weshalb es eine pure Illusion ist, sie an Menschenrechte und kulturvollen Umgang mit den Lesern zu erinnern. Wer bestimmt zum Beispiel, was richtig und was falsch ist? Es sind – verdeckt im Hintergrund agierend – die Geldgeber, die Sponsoren, die Finanzklasse, die Banken, die schließlich im Großen und im Kleinen das Sagen haben. Das wird wohl keiner bestreiten können. Peter Hacks meint (junge welt vom 30.11.2003): „Die große Medienlüge wird nicht unmittelbar dahergelogen. Sie erscheint als Austilgung des Erkenntnisstrebens des zu Belügenden,...“ Arnold Schölzel (jw, 19/20.03.2005): „Die Medien haben vor allem zwei Aufgaben: Desorganisation durch Desinformation und die Mobilisierung zum jeweils fälligen Krieg nach innen und außen.“

Interessant ist die Bemerkung des Autors zur Mitschuld der Leser. Die Medienkonsumenten, so schreibt er, „sind es nämlich, die offensichtlich auch den miesesten Schund kaufen und die unterirdischen Kanäle auf ihren Fernsehschirm zappen“. Der Leser oder Fernseh-Zuschauer wolle das so, sei die gängige Ausrede „für die bewusst organisierte geistige Verflachung von Zeitungen und Programmen“. Aber man gebe sich schon zufrieden, „wenn nur die Kasse stimmt“.Unter den Journalisten gebe es zwar auch Idealisten, so der Autor, doch sie seien „freischwebende Einzelgänger und merken nicht, dass sie in einer Abwärtsspirale gefangen sind“.

„Hört auf, die Menschen zu jagen für eine Schlagzeile!“ Diesen frommen Wunsch röhrte Ottfried Fischer anlässlich einer Ordensverleihung in den Saal, den einstigen Bundespräsidenten Christian Wulff in Schutz nehmend. Auf Seite 131 erwähnt Anton Hunger Frank Schirrmacher, Herausgeber der FAZ, der sich in einem Beitrag auf den erzkonservativen Publizisten und Margaret-Thatcher-Biographen Charles Moore berief: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat.“

Es bleibt dabei: Die dem kapitalistischen System untergeordnete "Vierte Macht" der Medien hält sich solange über Wasser, solange dieses System besteht. Da helfen keine guten Worte und kein Aufschrei nach Veränderung, Da muss geändert werden. Der Sucht nach Spektakel, die in nahezu verbrecherischer Weise ablenkt von den Sorgen und Nöten der Menschen, muss der Nährboden entzogen werden.

Das Buch von Anton Hunger – es müsste eigentlich auf Systemkritik hinauslaufen - ist nicht nur medieninteressierten Lesern zu empfehlen. Es gewährt einen tieferen Einblick in die Zusammenhänge von Wirtschaft, Politik, und Medien. Es nährt den Widerwillen und die Empörung gegenüber Denkschablonen und allgemeiner Volksverdummung im Medienalltag. Dass dabei tiefere Erkenntnisse für gesellschaftliche Veränderungen wünschenswert und notwendig sind, das liegt sicherlich auch im Interesse des Autors, dem hiermit ausdrücklich für seinen kritischen Zustandsbericht zu danken ist.


"Blattkritik - Vom Glanz und Elend der Journaille", Anton Hunger, Edition Hubert Klöpfer
2013, 248 Seiten, geb. mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-86351-059-6

Fotonachweis: Detail des Buchcovers und Buchcover

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