Die belgische Künstlerin Miet Warlop begeisterte mit ihrer Chaos-Performance beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel.
Es braucht nicht viel, um das Publikum zu verzaubern, ein ganz normaler Umzugskarton aus Pappe reicht schon – wenn er so vorwitzig keck ist, wie in Miet Warlops surrealem Spektakel „After all Springville“ beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel. Der kleine Karton auf zwei Beinen ist eines der seltsamen Geschöpfe, die in dem „Disasters And Amusement Parks“ der belgischen Künstlerin ihr erstaunliches Eigenleben entwickeln.
Zunächst steht da ein einfaches Papphäuschen auf der Bühne der ansonsten leeren Kampnagelhalle. An der Seitenwand lehnt ein weißer Sicherungskasten auf zwei schwarzbestrumpften Beinen mit weißen Söckchen, aus dem eine rosa Luftballon-Nase herauswächst und schließlich zischend davonsaust.
Das Häuschen kann alle möglichen Kreaturen ausspucken und wieder verschlucken. Zunächst spuckt es einen Mann aus dem Fenster, der alsbald eine Partitur studiert. (Sobald er das große weiße Blatt öffnet, erklingt knisternde Musik, wie von einer alten Schellackplatte).
Beobachtet wird er dabei neugierig von dem kleinen Pappkarton, der mit seinem Papprollen-Rüssel an ein Elefantenkind erinnert, das seine lange Nase überall hineinsteckt. Schnell wird es dem Mann zu viel, er entreißt dem Pappkarton seinen Rüssel, stürmt ins Innere des Hauses (man hört lautstarkes Sägen), um mit einem winzigen Rohr zurückzukommen, das er dem kleinen Kerl wieder ins „Gesicht“ steckt. Was Wunder, dass dieser vor Zorn qualmt und eine große violette Rauchwolke in den Raum schickt.
Währenddessen nähert sich ein höchst damenhafter Tisch mit einer weiß-gestärkten Tischdecke auf zwei wunderschön geformten, schwarzbestrumpften Beinen in eleganten Lackpumps. Ein erkälteter Tisch, wie man am lautstarken Niesen hört, der sich jedoch bereitwillig decken lässt. Dieser Tisch gibt Rätsel auf: Wie ist das bloß gemacht? Werden hier Spiegel eigesetzt, die den Oberkörper unsichtbar erscheinen lassen?
Es ist der gute alte Jahrmarktzauber, den Miet Warlop an diesem Abend beschwört. Die kindliche Freude an Feuerwerk und Farbenpracht, an Verrücktheiten und Verwandlungen. Wer kennt nicht den schlaksigen „Riesen“ aus dem Zirkus, der meist auf Stelzen unter den überlangen Hosen herumläuft? Hier sind es zwei Personen unter einem Kostüm, die um das Häuschen herumlaufen, mit ungelenken Bewegungen jedermann und jederfrau ein Lächeln entlocken, insbesondere als auch er „durchgesägt“ wird und nunmehr als laufender Unterleib erscheint.
Gerade in unserer Zeit, wo es wahrlich wenig zu lachen gibt, macht es einfach Spaß, so einem anarchischen Treiben auf der Bühne zuzuschauen, das seinen Höhepunkt in einem skurrilen „Gruppenfoto“ findet.
Danach geht es schnurstracks der Katastrophe entgegen: Der frustrierte Sicherungskasten explodiert knallend und Funken sprühend; der Pappkarton deckt noch liebevoll den Tisch und gibt dann seinen Geist auf, der Tisch geht kurz darauf ebenfalls zu Boden und das Häuschen spuckt scheinbar noch eine ganze lange Blutbahn, ehe es völlig kollabiert. Zum Schluss füllen überdimensional große, rote, gelbe und blaue Luftschlangen Bühne und Raum und erinnern an Kindergeburtstage, die irgendwann aus dem Ruder gelaufen sind.
Man kann dieses aberwitzige Stück als Metapher begreifen. Als Sinnbild für das Scheitern schlechthin. Vielleicht auch für das Scheitern einer Gemeinschaft oder unserer Gesellschaft. Man kann es aber auch als „L’Art pour L’Art“ genießen, als vor Slapstick-Einfällen nur so übersprudelndes Nonsens-Happening, das seine Vorbilder in der absurden Traumlogik eines René Magritte, Joan Miró oder Alfred Jarry gefunden hat. Aber, wer weiß? Vielleicht ist die Künstlerin auch von Oskar Schlemmers Triadischem Ballett, André Hellers skurrilem Rummelplatz „Luna Luna“ oder den Märchen ihrer Kindheit inspiriert? In jedem Fall wird deutlich, dass Miet Warlop von der bildenden Kunst kommt (sie hat ihren Master darin in Gent gemacht) und ihre anschließenden jahrelangen Erfahrungen als Bühnenbildnerin (u.a. für die international renommierte Tanztruppe Les Ballets C de la B) einbringt.
In der Neufassung des 2009 uraufgeführten Stückes „Springville“ verbindet sie bildende Kunst, Szenographie und Requisiten - Dank ihres überaus spielfreudigen neunköpfigen Teams - zu einer höchst vergnüglichen und faszinierenden Chaos-Performance, die einmal mehr beweist, wie herrlich ganz einfache theatrale Mittel die Fantasie zum Fliegen bringen.
Das Premierenpublikum auf Kampnagel dankte mit begeistertem Beifall, insbesondere für den Tänzer, der eine Geschirr beladene Tischplatte über gefühlte 50 Minuten auf Highheels in der Waagerechten balancierte. Was für ein Kraftakt!
„After All Springville“
Konzept und Regie: Miet Warlop
Performance: Hanako Hayakawa / Margarida Ramalhete, Winston Reynolds, Myriam Alexandra Rosser, Milan Schudel, Wietse Tanghe / Freek De Craecker, Jarne Van Loon
Kostüm: Sofie Durnez
Beratung Licht Design: Henri Emmanuel Doublier
Technische Koordination: Bennert Vancottem
Technisches Team: Eva Dermul, Jurgen Techel
Produktion: Miet Warlop / Irene Wool v.z.w.
Ko-Produktion: Hebbel am Ufer – Berlin, Arts Centre BUDA, Arts Centre Vooruit, PerPodium, De Studio Antwerpen, Internationales Sommerfestival Kampnagel.
Mit Unterstützung von: The Belgian Tax Shelter, Flemish Authorities, City of Ghent.
Dank an: Arts Centre CAMPO, TAZ – Theater Aan Zee & cc De Grote Post, Amotec.
Distribution: Frans Brood Productions.
Das internationale Sommerfestival auf Kampnagel läuft noch bis zum 22. August 2021.
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