„Und darum, und darum und darum, wegen zehn und hundert und tausend unschuldig Gemarterter, Zerstörter, zum Irrsinn Getriebener, widme ich dieses Buch den im Hitler-Deutschland ermordeten Juden“, schreibt der Journalist und Schriftsteller Heinz Liepman im Vorwort seines 1933 erschienenen Romans „Das Vaterland“.
Der Roman ist einer der ersten Exilromane über die Machtergreifung der Nationalsozialisten. Dem Literaturwissenschaftler Winfried Weinke und dem Pendragon Verlag ist die in 2025 erschienene Neuauflage dieses eindringlichen, uns Heutige mahnenden Zeitdokuments zu verdanken.
Fertiggestellt hatte Liepman den Roman im September 1933 in Paris. Zwischen politischen Spannungen, persönlichen Konflikten und der Suche nach einem Platz in einer unbarmherzigen Gesellschaft entfaltet sich in diesem „Tatsachenroman aus Deutschland“, wie Liepman das Buch im Untertitel nennt, eine mitreißende, tragische Erzählung zwischen Identitätssuche und Überlebenskampf. Es gibt in diesem Roman, der kein Roman, sondern ein Pamphlet sein soll, nicht ein Wort, das nicht in meiner Gegenwart gesprochen wurde, nicht einen Menschen, den ich nicht persönlich kannte, nicht eine Tat, die ich nicht mit meinen eigenen Augen gesehen habe (oder die nicht von langjährigen Kameraden, für deren Zuverlässigkeit ich bürge, gesehen und mir berichtet wurde), schreibt Autor Heinz Liepmann (1905 – 1966) in seinem Vorwort. Und auch dies: Jude-Sein ist nicht Gesinnung, sondern Schicksal. Niemanden kann man verantwortlich dafür machen, als was er geboren ist, und bestrafen kann man nur jemanden für etwas, das er aus freiem Willen begangen hat.
Erstmals erschien das Buch Liepmans, der nach der Machtergreifung aus Deutschland fliehen musste und über Frankreich und England in die USA emigrierte, im November 1933 auf Deutsch im Amsterdamer Verlag Kampen & Zoon.1979 wurde der Roman in der Bundesrepublik wieder aufgelegt (Hamburger Konkret Literatur Verlag). Weitere Auflagen folgten 1981 und 1983 (Fischer Verlag). Das Vorwort schrieb damals Heinrich Böll. Jetzt hat Herausgeber Wilfried Weinke, der sich seit Jahren mit Leben und Werk des Heinz Liepman auseinandersetzt, die Neuausgabe mit einem Nachwort versehen.
Heinz Lipman (Sammlung Wilfried Weinke). Buchumschläge (deutsche und norwegische Ausgabe)
Der Roman hat ein weit verzweigtes Schicksal: Die erste Amsterdamer Auflage wurde beschlagnahmt.1934 erschien eine niederländische Ausgabe im Amsterdamer Verlag „Arbeiderspers“. Im selben Jahr folgte eine polnische Übersetzung und im darauf folgenden Jahr erschienen weitere Übersetzungen in England, den USA; in den Niederlanden und in Norwegen. Insgesamt soll das Buch in 16 Sprachen übersetzt worden sein. Diese Angaben stammen vom Autor selbst und sind (gemäß meiner Recherchen) nicht belegt. In einem Artikel zu „Das Vaterland“ vom 13. Februar 2021 (Dr. Thorsten Stegemann, Kultur Abdruck) heißt es: „Liepman […]zeigt mit beinahe dokumentarischem Anspruch, wie sich Hitler und seine Gefolgsleute die politische Indifferenz vieler Anhänger der Weimarer Republik zunutze machen und durch die Unterstützung von Führungskräften aus Politik, Militär und Gesellschaft einen vergleichsweise bequemen Weg an die Macht finden konnten.“ Auch die Kultur spielte dabei eine unheilvolle Rolle, stellte Heinrich Böll fest und notierte im Vorwort der Neuauflage 1979: „Liepman schildert die Verbreitung des Schreckens in allen Lebensbereichen: in Schule, Straßenbahn, Nachbarschaft, Berufsleben, Zeitungswesen, und er schildert es auf eine besonders eindringliche und beschämende Weise im Schriftstellerverband, wo Feigheit und ein provinziell grundiertes Ressentiment sich wie eine Krankheit ausbreiten, die man heutzutage noch in gewissen Kreisen in gewissen Verbänden spüren kann.“
Im Zentrum von Liepmans Romans steht die Besatzung des Dampfers Kulm, die am zweiten Weihnachtstag mit dem Schiff in See gestochen ist und am 28. März 1933 in das nach der Machtübernahme der NSDAP radikal veränderte Hamburg zurückkehrt. Drei Monate also war die „Kulm“, war die Besatzung weit entfernt vom Festland auf dem Meer unterwegs. Was inzwischen in der Welt geschehen ist, wissen wir nicht. Wie sollten wir auch? Und warum? Ein Seemann sieht die Welt immer nur mit seinen Augen, heißt es am Anfang des Buches. Abgeschnitten von allen Informationen hatten die Seeleute nichts von der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 erfahren. Zurück in der Heimat muss sich die Mannschaft nun dem neuen, von Gewalt und Willkür geprägten Gesicht Deutschlands stellen, jeder von ihnen muss Position beziehen. Die einen schließen sich rasch der NS-Bewegung an, die anderen verweigern sich, sind widerständisch, werden verhaftet und ihrer Positionen beraubt, verlieren ihr Leben, werden getötet oder begehen Selbstmord.
Die Dramatik der Handlung ist gleich zu Beginn des Buches spürbar. Vorfreude auf die Heimat erfasst auch uns Lesende. Doch das Unheil lässt sich schon erahnen und lässt in der Realität auch nicht lange auf sich warten. Es breitet seine Schwingen bereits beim Einlaufen in die Elbe aus, also noch vor der Ankunft im Heimathafen Hamburg: Ein Schiff taucht auf mit einer gehissten Hakenkreuzflagge. Ein Mensch treibt im Wasser. Lebensmüde und todeswütig. Er wird von der Besatzung der Kulm gerettet und seine Retter erfahren von ihm die schreckliche Wahrheit: Hitler ist Reichskanzler in Deutschland, die Nationalsozialisten haben die Regierung und die absolute Macht. Die Schiffsleute erfahren zudem, dieser Mann war in einem Konzentrationslager und konnte entfliehen. Vielleicht wissen Sie nicht, was das ist. Ich rate Ihnen gut: Fragen Sie auch niemals danach. […] Sie könnten nie mehr an einen gütigen Gott glauben.
So grausam dieses Buch, so grausam das Beschriebene war und ist, entfaltet es dennoch seinen Sog, will unbedingt weitergelesen werden - trotz oder gerade wegen seiner einfachen, direkten Sprache, die ohne jegliche Verschönerung aus- und daherkommt. Es ist ein schnörkelloser, berichterstattender Stil, der uns das Menschliche und Unmenschliche vor Augen führt. So entfaltet sich mehr und mehr eine zutiefst bewegende, zutiefst erschreckende Erzählung über die Suche nach Identität und den Kampf ums Überleben, angesiedelt zwischen politischen Spannungen, persönlichen Konflikten und der Suche nach einem Platz in einer zunehmend unbarmherzigen Gesellschaft. Dabei setzt die Handlung den Fokus auf das Schicksal der einzelnen Mannschaftmitglieder.
Die Beteiligten werden mit Korruption, Denunziation, rechtlicher Willkür, Gewalt und Verfolgung konfrontiert, reagieren entsprechend ihrer Gesinnung, ihrer Haltung auf all die neuen Herausforderungen und unerwarteten Gegebenheiten. Gegen Ende der Handlung wird der Alltag der Häftlinge im KZ Wittmoor bei Hamburg geschildert. Wir erleben einst kluge, gütige Menschen, die durch erlittene Folter zu Nervenbündeln wurden, die morgens um halb sechs Uhr nur mit Hemd und Schuhen bekleidet im Gänsemarsch hinunter zum Strand gehen. Neben ihnen SA-Leute, Gummiknüppel und Revolver griffbereit. Es wehte ein kühler Wind, der die langen Gräser der Dünen bewegte. Die Männer froren. Eindringlicher und erschreckender als hier in Liepmans Roman lässt sich Gräuel nicht beschreiben.
Dieses Buch ist zum einen ein frühes Zeugnis der Exilliteratur, in dem ein Konzentrationslager thematisiert wird. Es ist zum anderen zeitlose Literatur. Sie ist allein schon deshalb zeitlos, weil sie eine Zeitspanne thematisiert, die niemals vergessen werden darf und soll. Dies entspricht auch der Intention des Schriftstellers Liepman, die eindeutig war, wie Herausgeber Wilfried Weinke u.a. mit einem Zitat aus dem Vorwort Liepmans beweist: Die Menschen der Länder, in denen dies Buch erscheint, sollen wissen, wie der äußerlich so bestechende Nationalsozialismus in der alltäglichen Wirklichkeit aussieht. Diesen Satz schrieb Liepman im September 1933 in Paris. Seine Heimat Deutschland hatte er im Juni 1933 verlassen, weil er um sein Leben fürchten musste und seine Bücher verbrannt wurden. Ich beklage mich nicht darüber. Ich war ein Gegner. Schreibt Liepmann, der in keiner Nacht schlafen konnte, wenn er an die Juden dachte. Schreibt einer, der selbst Jude war. Ein Jude in Deutschland. Einer, dem es um Gerechtigkeit ging, um simple Menschlichkeit. Um das, was den Menschen vom Tier unterscheidet. Diesen wichtigen Roman, dieses „Pamphlet“, wie Liepman selbst es nannte, sollte jede und jeder lesen. So beschämend es ist, so erschütternd es ist, so tragisch es ist.
Heinz Liepman: Das Vaterland
Roman
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Wilfried Weinke
Pendragon Verlag Bielefeld
280 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-86532-879-3
Weitere Informationen (Verlag)
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