Das Leben das Universum und der ganze Rest: Nein, ganz so viel wie Douglas Adams berühmter Sience-Fiction-Klassiker „Per Anhalter durch die Galaxis“ will das Ravenna-Festival dann doch nicht sein.
Es bleibt auch so genug – „Kunst, Macht, Revolution“. „Der Lärm der Zeit“ heißt die diesjährige, 28. Ausgabe des Festivals in der Stadt am östlichen Rand der Emilia Romagna. Den Titel hat sich das Festival vom aktuellen Roman des Briten Julian Barnes über den Komponisten Dmitri Schostakowitsch geborgt, dessen Leben von Spannungsfelder mehr als durchsetzt war. Eines ist dieses Festival allerdings nicht – eine der vordergründigen Politplattitüden, wie sie anderswo, en vogue sind. Das haben Gründerin Cristina Mazzavillani Muti, künstlerische Festivalleiter Angelo Nicastro und Franco Masotti, Intendant Antonio De Rosa und das Team zu verhindern gewusst. Hier steht einzig das inhaltlich künstlerische Programm (25. Mai bis 22. Juli) im Mittelpunkt.
In jeder der ersten Festivalwochen wird traditionell täglich eine Bühnenfassung von Dantes „Inferno“ gespielt. Der Autor der „Divina Commedia“ starb in Ravenna als Exilierter und ist auch dort begraben. Die Bühne der beeindruckenden Inszenierung, für die Marco Martinelli und Ermanna Montonari verantwortlich zeichnen, zieht sich 550 Meter von der „Tomba di Dante“ (Dem Grab Dantes) bis zum Teatro Rasi. Über dessen Eingang steht in lateinischer Sprache: „Per mi si va...“ („durch mich geht ihr...“). Das Gebäude war bis 1874 eine Klosterkirche – später Reitschule und schließlich Theater. Dantes Terzine, ihre großartige, magische Rhythmik, sind schon beim Lesen faszinierend, erst recht, wenn sie bei einer Prozession durch Ravenna von einem Chorus rezitiert werden, für dessen Rolle die antike griechische Tragödie, mittelalterliche Mysterienspiele und das revolutionäre Theater von Wladimir Majakowski Pate stehen. Der Chorus besteht aus Bewohnern Ravennas, 80 Cittadini für jede der 34 Aufführungen (so viele, wie das „Inferno“ Canti hat).
Dem, was über dem Kirchenprotal steht, folgt im „Inferno“ das berühmte „Lasciate ogni speranza, voi ch'intrate“ („Lasst fahren alle Hoffnung, die ihr hier eintretet“). Nach dem Eintritt in der Kirche kommen die Bilder. Besser: die Zuschauer kommen zu ihnen, sie sind im „Inferno“ unterwegs und erleben Renaud, ein von Träumen von Macht besessener Monomane Renaissance-Schwarmgeist aus Simone Weils „Venezia salve“, kommandiert als Charon eine Truppe vor allem afrikanischer Söldner. Francesca und Paolo, die berühmten Liebenden des 4. Canto des „Inferno“ (die in Ravenna lebten), werden ad infinitum vom einem Pogo-Sturm aus ihrer Zärtlichkeit gerissen. Die Erynnien und Furien versuchen dem von Ermanna Montonari gespielten Dante und Marco Martinelli als Vergil (sowie dem Publikum) den Eintritt in die Höllenstadt Dis zu untersagen. Der Fluss Lethe des 15. Canto wird zu einer obskuren Filmproduktion in Schwarzweiß, Menschenmassen in einem Fluss, die vage Ahnung einer Tragödie. Überblendung zu biografischen Bildern von Pier Paolo Pasolini – wie Dantes Lehrer Brunetto Latini einer der Gelehrten, die „alle in der Welt von demselben Laster beschmutzt“ lebten, wie Kurt Flasch die Stelle übersetzt, ein Schwuler. Odysseus tritt auf, auf einer Hebebühne stehend berichtet er von seiner Sünde, von der „Glut ... die in mir war, die Welt zu erfahren, Menschenwert und Menschenunwert“ (Übersetzung Flasch). Außer Pasolini und Weil deuten auch Texte von Boccaccio oder Pound das „Inferno“ aus.
„Theatron heißt Vision“, beschreiben Marco Martinelli und Ermanna Montonari ihren Ansatz, es sei ihnen darum gegangen, die „eindringliche Theaternatur der Bilder der Dante’schen Canti zu entfalten.“ Das ist ihrer Inszenierung gelungen, deren Bildmacht den Text konzentriert und nicht dominiert und die Erinnerungen an Johann Kresniks Bremer Inszenierung von Karl Krauss „Die letzten Tage der Menschheit“ im Jahr 1999 in einem U-Bootbunker weckt. In Bremen bringt die dortige Shakespeare Company demnächst sein „Geräusche des Wassers“ heraus, erzählt Martinelli. Thema: Flüchtlinge. Er und Ermanna Montonari wollen das „Commedia“-Projekt 2019 und 2020 fortführen. Kunst als Gerechtigkeitsmaschine, wie es kürzlich in FAZ kritisch hieß? Das Volk braucht Verse, unverständlich und vertraut, heißt es bei Ossip Mandelstam. Das „unglaublich kluge Wort, das uns zeigt, was Kunst ist. Da gibt es nichts zu verstehen, sondern zu vertrauen“, wie es der Berliner Violinist Eberhard Feltz Mandelstams Statement in einem Interview kommentiert hat.
„Es schien, dass die Schleusen der himmlischen Harmonie und die Chöre der Engel zu hören waren.” Erst in vier Jahren geht es im Dante-Projekt um das „Paradiso”, doch auch 2017 kennt das Ravenna-Festival nicht nur die Hölle Dantes, sondern auch den Himmel. Der ist – fast – bilderfrei: eine „Vespri dell' Assunta“, eine Vesper zu Mariä Himmelfahrt, wie sie unter Claudio Monteverdi 1640 in Venedig einen seiner Zeitgenossen Engelschöre hatte hören lassen. Das Programm – in Ravenna gab es eine Rekonstruktion – entwickelt das Bild des Paradieses als musikalische Abstraktion. Ergänzt durch die einem theologischen Programm folgenden Mosaiken der im Jahr 546 vollendeten Basilika St. Vitale bot die Capella Marciana aus Venedig unter Marco Gemmani, die dort beheimatet ist, wo Monteverdi in seinen letzten Lebenjahren wirkte, eine fulminante Interpretation Monteverischer Musik. Die „Vespri dell'Assunta“ ist eine Art nichtszenische Oper, rund 1000 Jahre nach der Vollendung der Basilika entstanden, zum Fest der Aufnahme der Gottesmutter Maria in den Himmel. Die Musik Monteverdis ist von der Selbstverständlichkeit geprägt, mit der die Madrigalistik sowohl ältere Formen wie die Gregorianik als auch die monodische Welt der „Seconda prattica“, jener Art des Komponierens, mit der Monteverdi seinerzeit Avantgarde war, in den polyphonischen Kontext integriert. Für jedes Moment wie die Echo-Effekte des „Audi caelum“ oder die Pracht des „Magnificat“ und für jeden der unterschiedlichen Affekte (bis zur durchaus irdischen Sinnlichkeit des „Ego flos campi“) finden die Sänger (und vier Instrumentalisten) den treffenden Duktus, ließen Differenz aufscheinen, binden sie subtil in den Gesamtkontext ein.
Am Vormittag des Konzerts singt der Chor des Markus-Domes in der Basilika Santa Agata Maggiore in einer Messe – eine Ahnung von dem, wofür der Komponist sein Sakralmusik geschrieben, wie weit aber auch er sie über ihr Genregrenzen getrieben hat. Monteverdis Musik ist ein Beispiel dafür, dass es in der Kunst des Westens (wie im Leben der bürgerlichen Zivilisation) zumindest im Ideal nicht braucht, was das „postkoloniale Modewort des unlearning“ (Kolja Reichert in der FAZ 9. Juni) meint, sondern das Gegenteil. „Verlernen ist noch schlimmer als Lernen“ (Reichert) – es ist in Ravenna spannend zu lernen, wie westliche Kunst und die Universalität der Ideale, die sie tragen, immer wieder neu zu entdecken sind. Und dass sie das Potenzial dafür haben.
Im Blick vom Neuen aufs Alte und umgekehrt steht die Musik Monteverdis paradigmatisch für das Programm des Ravenna-Festivals in der zweiten Juni-Woche. Motette und Madrigal: auch in dem polyphonen Aufbau ist das Programm des Festivals der Musik der Zeit Monteverdis durchaus vergleichbar. Die programmatischen Fäden des Ravenna-Festivals entsprechen den Stimmen und dem polyphonen Aufbau dieser alten Musik. Musik, Tanz, Alt, Neu, Macht, Kunst, Himmel, Hölle, Macht, Unterdrückung, Renaissance, Gegenwart Europa, Indien – jedes Konzert, jede Aufführung, jede Ausstellung des Festivals ist mit mindesten einem anderen über einen dieser Themenstränge verbunden, ergänzend, erweiternd oder kontrastiv. Ein Stimmengeflecht. Den Cantus firmus dieser Motette bilden die Stadtorte, an denen die Kunst stattfindet: das Grab Dantes, das Teatro Rasi, die frühchristliche Basilika San Vitale mit ihren Mosaiken unter gotischer Herrschaft begonnenen und vollendet, als Ravenna zweite Kapitale des byzantinischen Reiches war. Auch ein heute profaner Ort wie die Chiostro Biblioteca Classense ist Teil dieser Grundtöne einer Festival-Musik, wo eine Ausstellung „L'Inferno degli Italiani“ im Kellergewölbe malerische und zeichnerische Auseinandersetzungen mit Dantes Werk präsentiert. Im Museum des Centro Dantesco, ebenfalls ein Kloster, findet sich skulpturales Pendant neben einigen Artefakten aus dem Kontext von Dantes Leben in Ravenna.
Zum musikalischen Strang des Programms gehört ein Konzert des Smith Quartet, das im Innenhof der Chiostro Biblioteca Classense melodischen Minimalismus, wie man diese Musik mit aller Vorsicht nennen könnte, der Briten Gavin Bryars, Michael Nyman und Steve Martland spielt – zeitgenössische Musik, die nicht auf zwanghaft wirkendem experimentellen Gestus besteht, sondern versucht, Gewohntes zu erweitern und neu zu denken. Feinfühlig gespielt – aber die Kompositionen nicht immer wirklich fesselnd. Das Konzert des Smith Quartet gehörte zum Musik-Strang wie die Musik von Luigi Ceccarelli zum „Inferno“ von Marco Martinelli und Ermanna Montonari und die Monteverdis – das Quartett schuf, live die Choreografie „Material Man Redux“ der in London lebenden Inderin Shobana Jeyasingh begleitend, eine Verbindung zum Themenstrang „Tanz“. „Material Man Redux“ erzählt zum wiederholten Mal die Geschichte des sich neu erfindenden Migranten - erzählte sie allerdings in einer faszinierenden Begegnung eines von Sooraj Subramaniam aufgeführten klassisch-indischen Tanzes mit Hip-Hop, den der auf den Straßen ausgebildete Shailesh Bahoran auf die Bühne brachte. Die Choreographie weist auf einen weiteren Themenstrang: eine Reise in den Fernen Osten, „Passaggio in India“ (22. bis 24. Juli).
Tanz dann auch „Les memoires d'un seigneur“, eine von Sébastien Perraulot und 40 Laien getanzte Choreographie von Olivier Dubois. Was Elias Canetti über die Meute geschrieben hat, über die außen gerichtete Jagd- und die nach innen orientierte Klagemeute, darüber, was sie miteinander verbindet und wie beide ihre Gewalt im Schwert konzentrieren, zu dessen Träger die Meute den macht, der sie zum Rudel machen kann, erzählt dcs Stück in extrovertierten Bildern eines Schattenreichs, in den es eher um Kraft als um Sensibilität geht, Bilder vom Aufstand und Gehorsam. Der Höhepunkt: der Kriegstanz, die Huldigung. Begleitet von Musik von Francois Caffenne, die direkt in einem Tekno-Club kommen könnte.
Manchmal ist das Ravenna-Festival doch recht nahe an der Macht, jedenfalls an der des Zeitgeistes. Allerdings selten in Form übereindeutiger Programme, Pädagogik spielt keine Rolle. Das ist heute keine Selbstverständlichkeit. Ist das Programm dieser zweiten Juni-Woche repräsentativ? Oder anders gefragt: Wo bleibt die „Kunst, Macht, Revolution“? Sie findet sich in den kommenden Wochen in einer Hommage des Duo Gazzana an Andrej Tarkowskij, in dem es um Klaviermusik in der russischen Revolution geht, in der Oper „Vittorio sul Sole“ von Michail V. Matjusin (Bühnenbild und Kostüme: Kasimir Malewitsch) oder einem Auftritt des kubanischen Nationalballetts.
Ravenna-Festival
Noch bis 22. Juli und vom 17. bis 23. November 2017
Weitere Informationen unter: www.ravennafestival.org (ital./engl.)
Abbildungsnachweis:
Header: Ravenna Festival
Galerie:
01. Ravenna, Zona Dantesca. Foto: Thomas Janssen
02. Szene aus Inferno. Foto: Sara Colciago
03. Projektion zur Aufführung Inferno. Foto: Thomas Janssen
04. Szene aus Inferno. Foto: Nicola Baldazzi
05. und 06. Vespri Dell'Assunta. Foto: Angelo Palmieri
07. und 08. Smith Quartet. Foto: Luca Concas
09. und 10. Shobana. Foto: Zani Casadio
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