Bildende Kunst
Alberto Giacometti – Begegnungen an den Spielfeldern

Kaum zu glauben, aber wahr: Das Werk des Schweizer Bildhauers Alberto Giacometti (1901-1966) kann auch heute noch überraschen.
Dabei ist es hundertfach beschrieben, besprochen, analysiert und interpretiert worden. Doch nun warten die frühen surrealistischen „Spielfelder“ in der Hamburger Kunsthalle, wie auch die „Begegnungen“ im Bucerius Kunst Forum mit neuen Erkenntnissen auf. Es ist keine Doppelausstellung im eigentlichen Sinne, beide Institutionen nähern sich dem facettenreichen Werk des Jahrhundertkünstlers von ganz unterschiedlichen Seiten. Aber sie ergänzen sich hervorragend, denn sie kreisen beide um Giacomettis obsessive Suche nach der Verschmelzung von Leben und Kunst.

Wer von Giacometti spricht, denkt an die meterhohen, bis auf die Knochen reduzierten Figuren, über die Jean Genet einst schrieb, dass sie ihm „die Welt noch unerträglicher“ machten, da hier sichtbar würde, „was vom Menschen übrig bleibt, wenn die falschen Anscheine entfernt sind“. Diese ätherischen Menschenbilder haben Giacomettis Weltruhm begründet, sie sind sein unverkennbares Markenzeichen und Vermächtnis.

Der „junge Giacometti“ hingegen wurde bislang wenig beachtet. Er setzte sich mit Kubismus und Surrealismus auseinander, kam in Paris in den Kreis um André Breton – bis er mit den Surrealisten brach und zur menschlichen Figur zurückkehrte. Die spektakuläre Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, die mit rund 200 Exponaten einen großen Bogen über das Gesamtwerk schlägt, dürfte die Einschätzung des Frühwerkes nun grundlegend verändern: Diese Phase war nämlich keineswegs so abgeschlossen, wie bislang behauptet. Ganz im Gegenteil: In diesen surrealen „Spielfeldern“ legte der junge Bildhauer die Grundlagen für sein berühmtes Chase-Manhattan-Projekt von 1960.

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Kuratorin Annabelle Görgen-Lammers weist nach, dass Giacometti schon um 1930 in den schachbrettgroßen Versuchsanordnungen, nonfigurativen Mobiles und Zeichnungen die „Skulptur als Platz“ im Modell erdacht und den Betrachter als Spielfigur eingeführte hatte. Und dass der Bildhauer in diesen hochempfindlichen Modellen aus Holz und Draht, die in dieser Konstellation sicher nicht noch einmal in Hamburg zu sehen sein werden, eine Kunstform vorwegnahm, die erst 30 Jahre später ihren Begriff erhielt: Das Environment. Ganz offenbar träumte Giacometti schon zu Beginn seiner Karriere davon, einen großen Platz zu gestalten. Wie man weiß, scheiterte er, als er dann endlich die Chance dazu erhielt: Er bekam den Platz vor der New Yorker Bank nicht in den Griff, der Auftrag wurde anderweitig vergeben.

Drei Figuren hatte er dafür geplant: Den „Schreitenden Mann“, die „Große Stehende“ und den „Großen Kopf“. Immer und immer wieder hatte er die Gruppe in seinem winzigen Pariser Atelier hin- und her gerückt - nie fand er die ideale Konstellation. Schließlich hatte er sogar den Zufall zu Hilfe genommen und bei einer Ausstellung im Vorfeld angegeben, man solle die Figuren dort stehen lassen, wo die Transporteure sie abstellen. Das alles war bekannt. Neu ist der rote Faden, den man nun endlich zwischen Vorkriegs- und Nachkriegswerk erkennt: Hier wie dort wirft Giacometti die gleichen grundlegenden Fragen nach den Beziehungen der Figuren (oder Objekte) untereinander und zum Raum auf. Auch die Grundkonstellationen von Vater, Mutter, Kind (bzw. Mann, Frau, Betrachter) sind dieselben – in den frühen Spielfeldern, wie in der grandiosen Dreiergruppe für New York, die nun - und das ist wirklich eine kleine Sensation - in der Kunsthalle zu sehen ist.

Wie stark Giacometti davon besessen war, die Grenze von Kunst und Leben zu überwinden, das macht auch die konzentrierte Porträt-Schau im Bucerius Kunst Forum deutlich. Gleichzeitig räumt sie mit dem Klischee vom „großen Einzelgänger“ auf. Für seinen Stellenwert in der Kunst mag das stimmen, aber aus der Welt gefallen war Giacometti deshalb noch lange nicht: Die zahlreichen „Begegnungen“ (so der Ausstellungstitel) mit Geistesgrößen wie Jean-Paul Satre, Simone de Beauvoir, George Bataille oder Louis Aragon, die ihm stets frontal und in fixiertem Abstand Modell saßen, zeigen, in welch regem Austausch Giacometti mit der damaligen Avantgarde stand. Auch bei diesen Porträts der Freunde und Familienmitglieder wolle Giacometti den Kern herausschälen, unter die Haut dringen. Deshalb fixierte er sich so stark auf die Augen. Hier fand er den Zugang zu der Kraft und Energie, die für ihn die Quintessenz des Menschlichen ausmachten.


Giacometti. Die Spielfelder
Zu sehen bis 20. Mai 2013
Hamburger Kunsthalle, Galerie der Gegenwart, 1. Etage, Glockengießerwall, Di-So 10-18 Uhr, Do. 10-21

Alberto Giacometti. Begegnungen
Zu sehen bis 20. Mai 2013
Bucerius Kunstforum, Rathausmarkt, täglich 11-19 Uhr, Do 11-21 Uhr.

Kombiticket: 18 Euro, ermäßigt 10 Euro (gültig für den Besuch an einem Tag). Jugendliche bis 18 Jahren frei.
Empfehlung: Alberto Giacometti: "Die Augen am Horizont" zu sehen im Abaton Kino.

Fotonachweis:
Header: Jacques-André Boiffard (1902-1961): Alberto Giacometti, 1931; Photographie, späterer Abzug, 21 x 29 cm. Sammlung Fotostiftung Schweiz, Winterthur © Jacques-André Boiffard / Sammlung Fotostiftung Schweiz, Winterthur © Alberto Giacometti Estate (Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris), 2012
Galerie: Alberto Giacometti (1901-1966)
01. Blick in der Ausstellungraum im Bucerius Kunstforum: "Alberto Giacometti. Begegnungen". Foto: Ulrich Perrey.
02.: Kleine Büste Silvios auf Doppelsockel, um 1943, Privatsammlung, Schweiz © Succession Alberto Giacometti (Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris + ADAGP, Paris), 2013.
03. Männlicher Kopf (Lotar I), 1964, Privatsammlung, Schweiz © Succession Alberto Giacometti (Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris + ADAGP, Paris), 2013.
04. Alberto Giacometti mit Skulpturen. Photographie von Gordon Parks, 1951, © The Gordon Parks Foundation © Succession Alberto Giacometti (Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris + ADAGP, Paris), 2013.
05. Ottilia, um 1934, Privatsammlung, Schweiz © Succession Alberto Giacometti (Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris + ADAGP, Paris), 2013.
06. Annette, sitzend, 1954, Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Smithsonian Institution, Washington D.C., Joseph H. Hirshhorn Purchase Fund, 1996 © Succession Alberto Giacometti (Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris + ADAGP, Paris), 2013
Vorschau.

07. George Brassaï (1899-1984): Das Atelier von Giacometti, Photographie, abgebildet in der Zeitschrift Minotaure, Nr. 3-4, Dezember 1933. © Succession Alberto Giacometti (Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris + ADAGP, Paris), 2012 © Estate Brassaï – RMN – GP Photo Agency.
08. Projet pour une place (Modell für einen Platz), 1931-32, Holz, 19,4 x 31,4 x 22,5 cm. Peggy Guggenheim Collection, Venedig (The Solomon R. Guggenheim Foundation)© Succession Alberto Giacometti (Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris + ADAGP, Paris), 2012. Foto: Sergio Martucci.
09. La Forêt (sept figures, une tête) / Der Wald (sieben Figuren, ein Kopf), 1950, Bronze, 55,5 x 61 x 49,5 cm. Lehmbruck Museum, Duisburg © Succession Alberto Giacometti (Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris + ADAGP, Paris), 2012. Foto: LehmbruckMuseum, Duisburg, Jürgen Diemer
10. L’homme qui marche (Schreitender Mann) II, 1960, Bronze, 188 x 26 x 112 cm. Privatsammlung © Succession Alberto Giacometti (Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris + ADAGP, Paris), 2012.
11. Fleur en danger (Blume in Gefahr), 1932 
Holz, Metall und Gips, 56 x 78 x 18 cm 
Kunsthaus Zürich, Alberto Giacometti-Stiftung, Zürich 
© Succession Alberto Giacometti (Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris + ADAGP, Paris), 2013 
Photo: Kunsthaus Zürich.
12. Le Palais à quatre heures du matin (Der Palast um vier Uhr früh), 1932, Tusche auf Papier, 21,6 x 21,8 cm. The Museum of Modern Art, New York, Gift of Pierre Matisse in honor of Patricia, Kane Matisse, 1982 © Succession Alberto Giacometti (Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris + ADAGP, Paris), 2013. Foto: DIGITAL IMAGE 2013, The Museum of Modern Art/Scala, Florence

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