Der deutsch-amerikanische Künstler Lyonel Feininger (1871–1956) ist ein Klassiker der modernen Kunst. Die Schirn Kunsthalle Frankfurt widmet dem bedeutenden Maler und Grafiker die erste große Retrospektive in Deutschland seit über 25 Jahren und zeichnet ein umfassendes und überraschendes Gesamtbild seines Schaffens.
Bekannt ist Feininger für seine Gemälde von Bauwerken, kristalline Architekturen in beeindruckender Monumentalität und Harmonie der Farben. Jedoch übersieht die heutige Rezeption oft die Originalität und den künstlerischen Facettenreichtum seines Werkes, das zahlreiche Tendenzen der Moderne widerspiegelt.
Mehrere scheinbar gegenläufige Interessen ziehen sich mit großer Kontinuität durch sein Œuvre und sind Teil seiner Handschrift. Die Schirn präsentiert selten gezeigte Hauptwerke wie Die Radfahrer (Radrennen) (1912), Selbstbildnis (1915), Zirchow VII (1918), Gelmeroda XIII (1936) oder Manhattan I (1940), aber auch weniger bekannte Arbeiten wie die erst vor einigen Jahren wiederentdeckten Fotografien des Künstlers. Schon früh entwickelte Feininger als Grafiker und Karikaturist einen sehr eigenen Stil. Neben zentralen Werken aus der frühen figurativen Phase mit politischen Karikaturen, humorvoll-grotesken Stadtansichten und karnevalesken Figuren beleuchtet die Ausstellung auch seine Rolle als Bauhaus-Lehrer und Meister grafischer Techniken wie Zeichnung und Holzschnitt. Ein besonderer Fokus liegt mit zentralen Arbeiten auf dem US-amerikanischen Exil des Künstlers. Mit rund 160 Gemälden, Zeichnungen, Karikaturen, Aquarellen, Holzschnitten, Fotografien und Objekten zeigt die Ausstellung wichtige Themen und Entwicklungslinien auf, die Feiningers Werk geprägt und unverwechselbar gemacht haben.
Für die Präsentation konnte die Schirn bedeutende Leihgaben aus zahlreichen deutschen und internationalen Museen, öffentlichen wie privaten Sammlungen gewinnen und in Frankfurt zusammenführen. Zu den Leihgeber*innen zählen u. a. das Bauhaus-Archiv Berlin, die Harvard Art Museums/Busch-Reisinger Museum, Cambridge, MA, das Museum Lyonel Feininger, Quedlinburg, das Kunstmuseum Basel, The Metropolitan Museum of Art, New York, das Museo de Arte Thyssen-Bornemisza, Madrid, The Museum of Fine Arts, Houston, das Museum Folkwang, Essen, The Museum of Modern Art, New York, die National Gallery of Art, Washington, D.C., das Solomon R. Guggenheim Museum, New York, das Sprengel Museum Hannover, die Staatlichen Museen zu Berlin, Nationalgalerie, die Staatsgalerie Stuttgart und das Whitney Museum of American Art, New York.
Der Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt, Dr. Sebastian Baden erläuert: „Lyonel Feininger gehört zu den bekanntesten Vertretern der klassischen Moderne in Deutschland und dennoch ist die Vielseitigkeit seiner Kunst einem großen Publikum erstaunlich unbekannt. Die große Retrospektive in der Schirn bietet nun eine spektakuläre Neubetrachtung seines gesamten Werkes aus 60 Jahren künstlerischem Schaffen mit bedeutenden und selten gezeigten Leihgaben aus Sammlungen in Europa und den USA. In der einmaligen Zusammenschau wird die Vielseitigkeit seines Gesamtwerks deutlich, das einige Entdeckungen bereithält.“
Lyonel Feininger. Retrospektive, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023. Foto: Norbert Miguletz
Und Dr. Ingrid Pfeiffer, Kuratorin der Ausstellung, ergänzt: „Lyonel Feiningers herausragendes Gesamtwerk repräsentiert geradezu exemplarisch zahlreiche Strömungen in der Kunst des 20. Jahrhunderts; trotzdem ist es äußerst individuell. Seine künstlerische Entwicklung vollzieht sich nicht linear, sie weist zahlreiche Sprünge und Rückgriffe auf, gleichzeitig werden Feiningers große Themen über alle Medien hinweg und bis ins Spätwerk sichtbar. Sein unabhängiges Denken ist frei von Hierarchien, auch Gegenteiliges und Andersartiges wird zugelassen. Auf den ersten Blick oft ernst, konstruiert und monumental, ist es zugleich ein Werk voller Überraschungen, tiefgründiger Melancholie und spielerischer Leichtigkeit.“
Zum Auftakt der großen Retrospektive zeigt die Schirn gezeichnete und gemalte Selbstporträts von Lyonel Feininger, darunter das ausdrucksstarke Selbstbildnis (1915), das 1917 in seiner ersten Einzelausstellung in der Galerie Der Sturm in Berlin zu sehen war. In der Selbstbetrachtung zeigt sich der Künstler sowohl skeptisch als auch nachdenklich. Nachdem Feininger 1887 aus New York nach Deutschland gekommen war, um in Leipzig Musik zu studieren, entschied er sich schließlich für das Studium der bildenden Künste in Berlin. Erste Erfolge hatte er hier als einer der führenden Karikaturisten und Illustratoren mit Zeichnungen, die seinen besonderen Sinn für Humor erkennen lassen. Für verschiedene Satirezeitschriften und Zeitungen wie Ulk oder Lustige Blätter fertigte er ab 1896 Zeichnungen an und entwickelte für die Chicago Sunday Tribune die Comic-Serien The Kin-der-Kids und Wee Willie Winkie’s World (1906). Auch sein frühes malerisches Werk war figürlich geprägt. Während eines Aufenthalts in Paris entstanden zwischen 1907 und 1911 die sogenannten Karnevals- oder „Mummenschanzbilder“ in einer charakteristischen Farbpalette mit gedämpften Rosés, giftigem Gelb, Nachtblau und Türkis-Grün. Es sind oft isoliert erscheinende, typenhafte Figuren in dramatisch-träumerischen Szenen – Arbeiter, Geistliche, Kinder, Frauen und Männer mit überlangen Gliedmaßen und in extravaganter, aus der Zeit gefallener Mode. In den figurativen Gemälden wie Der weiße Mann (1907) übernahm Feininger die flächigen Kompositionen seiner Karikaturen, experimentierte mit Verfremdungen und erschloss damit eine neue Perspektive des Bildraums.
Lyonel Feininger. Retrospektive, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023. Foto: Norbert Miguletz
Seine berühmten kristallinen Architekturserien, die bis heute seine bekannteste Werkgruppe bilden, entwickelte Feininger während des Ersten Weltkriegs bis in die 1920er-Jahre. Durch die prismatische Überlagerung der Flächen, die an die Wanderung des Tageslichts erinnert, erhielten die Bilder ein Zeitelement, während die Transparenz geistige Klarheit und Spiritualität verkörpert. Einflussreich für diese Entwicklung war Feiningers Auseinandersetzung mit dem Kubismus, insbesondere mit den lichtdurchfluteten und dynamischen Werken Robert Delaunays, sowie mit den italienischen Futuristen, die sich in seinem Hauptwerk Die Radfahrer (Radrennen) niederschlug. Feininger legte in seinen prismatisch aufgebrochenen und monumentalen Architekturen besonderen Wert auf einen expressionistischen, innerlich geformten Ausdruck. Statt der Zergliederung und Mehransichtigkeit eines Gegenstandes strebte er nach Konzentration bis ins absolute Extrem. Feininger, der auch Musiker war und selbst komponierte, verglich seine Malerei mit der „Synthese der Fuge“, in der Harmonie und Dissonanz ebenso wie Formstrenge und Rhythmik ihren Platz finden.
Bis heute gilt Feininger als einer der bedeutendsten Holzschnittmeister des 20. Jahrhunderts. In einem Zeitraum von nur drei Jahren entstanden zwischen 1918 und 1920 die meisten seiner rund 320 Holzschnitte, darunter die ikonische Kathedrale (großer Stock) (1919), die auf dem Titelblatt des Manifest und Programm des staatlichen Bauhauses in Weimar (1919) abgedruckt ist. 1919 hatte Walter Gropius Feininger als einen der ersten Meister ans Bauhaus berufen, 1921 wurde er dort künstlerischer Direktor der Grafischen Werkstatt. Die Schirn zeigt aus Feiningers umfassendem grafischen Schaffen außerdem Zeichnungen, Radierungen und Lithografien.
Die Ausstellung versammelt eine eindrucksvolle Serie von fünf Gemälden aus verschiedenen Phasen von Feiningers umfassender Werkserie Gelmeroda (1913–1955), an der er rund 40 Jahre lang immer wieder arbeitete, dazu eine Zeichnung, mehrere Holzschnitte und eine Lithografie. An ihr lässt sich besonders Feiningers Begeisterung für historisch gewachsene, romantische Architektur nachvollziehen. Seine Entwicklung ist dabei keineswegs linear und umfasst kristallin-expressionistische und bewegte Versionen wie Gelmeroda II (1913) und zugleich majestätische Darstellungen mit nach oben strebendem Grundmotiv in kühlem Blaugrün wie in Gelmeroda VIII (1921). Eine ebenfalls intensive künstlerische Auseinandersetzung verfolgte Feininger mit der durch Altstadthäuser und mächtige Sakralbauten geprägten Stadt Halle. Die Schirn zeigt aus der Werkgruppe, die zwischen 1929 und 1931 entstand, Marienkirche mit dem Pfeil (1930) und Der Dom in Halle (1931) sowie Kohlezeichnungen, Skizzen und Fotografien, die er bei seinen Streifzügen durch die Stadt angefertigt hatte. Feiningers künstlerische Herangehensweise an seine Motive basierte in beiden Serien auf zahlreichen skizzenhaften Vorzeichnungen, seinen „Natur-Notizen“, mit denen er sich seinem Motiv annäherte, bevor er es im Gemälde umsetzte.
Feininger setzte sich Ende der 1920er-Jahre verstärkt mit Fotografie auseinander, obwohl er dem Medium lange kritisch gegenüberstand, und hinterließ ein vor Kurzem wiederentdecktes Konvolut von insgesamt rund 20.000 Foto-Objekten. Die Schirn zeigt Fotografien und Diapositive des Künstlers, die zentrale Motive wie (Schaufenster-)Figuren, Lokomotiven und Architektur aufgreifen. Das Bauhaus in Dessau fotografierte er nachts in geheimnisvollem Licht, anders als jede andere Bauhaus-Fotografie. Das Medium diente Feininger als weiteres Experimentierfeld für Bildeffekte wie Hell-Dunkel-Kontraste, Schatten und Formspiele sowie Unschärfen, die an rhythmisierende Elemente in seinen Gemälden erinnern.
Lyonel Feininger. Retrospektive, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2023. Foto: Norbert Miguletz
Feiningers Holzspielzeuge gehören, wie seine Karikaturen und Comics, untrennbar zu seinem Gesamtwerk. Ab 1913 arbeitete er an Lokomotiven aus buntem Hartholz, die als Spielzeuge in Serie produziert werden sollten, ein Plan, der aufgrund des Ersten Weltkriegs nicht realisiert werden konnte. Mit Die Stadt am Ende der Welt (1925–1955) kreierte er eine Spielzeugstadt aus Holz, die sein Interesse für historische Häuser und Kirchen aufgreift und auf den Roman Die andere Seite (1908) seines Freundes Alfred Kubin zurückgeht.
Ein wiederkehrendes Thema in Feiningers Werk sind die Seestücke. Schon als Kind in New York hatten ihn die Dampfer und Segelboote auf dem Hudson River fasziniert, und in Deutschland boten ihm die jährlichen Aufenthalte an der Ostsee Anregungen für weitere Motive. Neben fast abstrakten Strandbildern mit puppenartigen Figuren und kubistisch zerlegten Flächen wie Badende (am Strand I) (1912) entstanden dramatische mystische Gemälde wie Leviathan (Dampfer Odin I) (1917). Die menschenleeren, transparenten Seebilder, die er ab den 1920erJahren bis ins Spätwerk in den USA malte, stellen neben den kristallinen Architekturen Feiningers zweite bekannte Werkgruppe dar. Ähnlich wie in den Kirchenbildern suchte er hier in der Natur nach Metaphern für innerliche Erfahrungen mit Referenzen zur Romantik. Geheimnisvolle Leere, Einsamkeit, subtile Erlebnisse mit Licht, Raum und Wolken sind wiederkehrende Themen wie in Stiller Tag am Meer III (1929) oder Dünen am Abend (1936), die an Caspar David Friedrichs Gemälde Mönch am Meer (1808-1810) oder William Turners Seebilder erinnern.
Kontinuität und gegenläufige Tendenzen setzen sich in Feiningers Spätwerk fort. 1937 floh der Künstler mit seiner jüdischen Ehefrau Julia nach fast 50 Jahren aus dem nunmehr nationalsozialistischen Deutschland ins US-amerikanische Exil. Seine Kunst wurde in der Ausstellung „Entartete Kunst“ öffentlich diffamiert und über 400 Werke wurden aus öffentlichen Sammlungen konfisziert. In New York gelang Feininger nach zwei Jahren die Rückkehr zur Malerei. Er griff mithilfe seiner „NaturNotizen“ auf frühere Motive in neuem Stil zurück und übertrug zentrale Kompositionen wie die Gebäudeschluchten aus Barfüsserkirche II (1926) oder aus den Fotografien aus Halle auf seine neue Umgebung, so etwa in der Serie der New-York-Bilder wie Manhattan I (1940). Feiningers frühe Tendenz, fast, aber nicht ganz abstrakt zu arbeiten, steigerte sich in seinem Spätwerk, besonders in der Serie der New Yorker Hochhäuser. Dies gilt auch für die Fotografie, die sich mehr als zuvor am Abstrakten orientiert. Feininger beschäftigte sich verstärkt mit farbigen Diapositiven und griff bekannte Motive und Kompositionen aus seinem Werk wieder auf.
Anknüpfend an sein Gemälde Glasscherbenbild (1927) experimentierte er mit sich überlagernden Glasscherben und Lichtphänomenen, die durch die Projektion des Diapositivs auf einer weiteren visuellen Ebene fortgesetzt wurden.
Wenige Jahre vor seinem Tod in New York entstanden die Ghosties, eine humorvolle Serie von aquarellierten Tuschzeichnungen. Sie greifen die befreiten Linien seines Spätwerks auf und bilden ähnlich wie seine Karikaturen und Holzspielzeuge in ihrer spielerischen Leichtigkeit einen spannungsreichen Kontrast zu seinen monumentalen Architekturgemälden.
Lyonel Feiniger Retrospektive
Zu sehen bis zum 18., Februar 2024 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt, Römerberg in 60311 Frankfurt/M.
Göffnet: Di, Fr bis So 10-19 Uhr, Mi und Do 10-22 Uhr
Weitere Informationen (Schirn Kunsthalle)
Es ist ein Begleitheft erschienen: Lyonel Feiniger Retrospektive. Eine Einführung in die Ausstellung, herausgegeben von der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Auf ca. 40 Seiten werden die wichtigsten Werke der Ausstellung vorgestellt und die kulturhistorischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge dargelegt. Ab 12 Jahren.
Zur Ausstellung bietet die Schirn ein Digitorial® an, das mit wissenswerten Hintergründen, kunst- und kulturhistorischen Kontexten und wesentlichen Ausstellungsinhalten Einblicke in die künstlerische Welt von Lyonel Feininger gibt. Das kostenfreie digitale Vermittlungsangebot ist in deutscher sowie englischer Sprache unter der o.g. Homepage abrufbar.
Die Ausstellung „Lyonel Feininger. Retrospektive“ wird gefördert durch die HessischeKulturstiftung und die Ernst Max von Grunelius-Stiftung. Zusätzliche Unterstützung von der Fraport AG, der Fontana Stiftung und der Georg und Franziska Speyer’schen Hochschulstiftung.
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