Bildende Kunst
bild.Balance - Herrbert Ziegler

Künstler mit Behinderung aus Österreich zu Gast beim Westwendischen Kunstverein in Gartow.

Afrikanische Masken und Tierschnitzerein sind längst im Original oder als Plagiate auf jedem Flohmarkt zu haben, Buddha-Figuren dito – zur Deko in Techno-Tempeln und Wohnzimmern geworden, orientalisches Design in jedem Ambientemagazin und in jkedem Möbelladen zu sehen. Es ist angesichts dieser Allgegenwärtigkeit des einst Fremden kaum noch nachvollziehbar, welchen Schock die Begegnung mit diesem für die Kunst der Moderne vor über 100 Jahren bedeutete. Schwer vorstellbar, wie exotische Masken und Figuren früher „die Alltagswahrnehmung zum Stillstand“ (Zitat des Ethnologen Hans-Peter Duerr) gebracht haben. Etwas davon, was viele Künstler der klassischen Moderne erlebt haben, blitzt aber noch heute in der „Art brut“ auf. Diese wird überwiegend von Menschen getragen, die auf eine eigene Sicht auf die Welt jenseits aller Rücksichten auf Markt, Kunstdiskurs und Geschmack insistieren.

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Der Westwendische Kunstverein (WWK) widmet sich mit der aktuellen Ausstellung „aus der balance“ zum dritten Mal seit der Manfred-Teege-Ausstellung im Jahr 2003 der Kunst von Menschen mit Behinderungen. „Sie wollen arbeiten. Sie kennen keine Überlegung, was kunstimmanent, schön oder was verkäuflich sei. Arbeiten – sich ausdrücken – das ist ihre Bestimmung“, sagt Iha von der Schulenburg vom WWK. Neun Künstlerinnen und Künstler aus Österreich, denen die vom Künstler und Bühnenbildner Christoph Speich koordinierte Gruppe „bild.Balance“ seit 2001 ein Forum schafft, sind im Zehntspeicher Quarnstedt in Gartow im Landkreis Lüchow-Dannenberg vertreten.

Mit Bildern, die es in sich haben! Farbfeldexplosionen (Herbert Ziegler), die manchmal auch schwarz-weiß sind (Gerhard Koprc). Entfernt pointilistische Farbreihen-Permutationen und Buchstabengitter von Lisi Hinterlechner. Akte, mal naiv, mal fast realistisch, sind das Sujet von Franz Wedl. Dazwischen ein einziges Bild eines anderen Genres: eine Figur, ein Mann wohl, aus schwarzen Strichen, der mit einer Hand sich an einer Linie durch den freien Raum festhält: wie vom Seil gefallen. Dem dünnen Seil des Alltäglichen. Josef Masterhofer malt fast immer in Schwarz gehaltene Figuren, Kinderzeichnungen, könnte es scheinen – wären da nicht die filigranen Hintergründe. „Wolke mit Augen“ heißt ein Bild.

Detailverliebte Zeichnungen von Orten, die ein Tempel, ein Steinzeit-Dorf, ein Basar zugleich sind: Bildsynkretismen von Rudolf Egger, die aus Elementen von etwas dekonstruiertem eine fremd-vertraute Welt konstruieren. Daneben andere Reiseberichte von Ewald Wikidal, eine Farbflächen-Karte der iberischen Halbinsel, die letzten Dampflokomotiven, die zu Sauriern werden, lebendige Maschinen von geballter Kraft. Eben Dampflok. Shpresa Krasnici widmet sich einem Thema: Farbstrudel mit Buntstiften gemalt, sich überlagernde Kreisformen (John Cage lässt grüßen). Conchita Wurst als aktueller Reflex auf die Jugendstilbilder von Gustav Klimt. Oder extremer Minimalismus: Gerhard Kobrc bringt Schieles „Kardinal und Nonne“ auf den Punkt, genauer: auf drei Striche. Zwei rot, einer schwarz. Daneben zeigt er Farbfelder, freie Interpretationen Rothkos.

Nicht immer, aber oft, sind die Fundamente im Alltäglichen, auf denen diese Bildwelten gebaut sind, erkennbar, ahnbar, nie prägen sie ein Bild: Jedes ist radikal subjektiv, unterzieht die äußere Welt einem Verwandlungsprozess, der ihre Elemente zum Teil der inneren macht. So rühren diese Bilder – es sind rund 200 – immer wieder an die Frage danach, was künstlerische Produktion ausmacht. Und an die danach, in welcher Beziehung das „wilde Denken“, wie es in diesen Bildern zum Ausdruck kommt, zum Kunstwerk als einem bis ins letzte Detail durchformten Gebilde (Adorno) steht. In welchem Verhältnis müssen Kunstwerke zwischen der je persönlichen Wahrnehmung der Welt, dem Besonderen, und den Formen, dem Allgemeinen, vermitteln?

Unmittelbarkeit der Affekte – wenn es denn einen gemeinsamen Nenner in der Vielfalt der in Gartow zu sehenden Arbeiten gibt, könnte es dieser sein. Damit steht die Kunst von „bild.Balance“ in wohl nicht formuliertem, aber dezidiertem Gegensatz zur aktuellen Diskurs-Kunst, in der Unmittelbarkeit, wenn überhaupt eine Nebenrolle, spielt. Selten, sagt Iha von der Schulenburg, habe sie so intensive Reaktionen auf eine Ausstellung erlebt. Es wäre nicht das Unspannendste, zu fragen, was in dieser Faszination deutlich wird. Und was sie über den aktuellen Kunstbetrieb zu sagen wüsste. Das die Ausstellung in Gartow das nicht ausdrücklich tut ist vielleicht ein Manko. Das einzige, dennoch ein bisschen bedauerlich.


Die Ausstellung Aus der Balance ist noch bis 2. August 2015 zu sehen im Westwendischen Kunstverein, Zehntspeicher, 29471 Gartow-Quarnstedt
Geöffnet: Freitag 16 - 18 Uhr, Samstag 12 - 16 Uhr und Sonntag 12 - 16 Uhr
Gezeigt wird eine Auswahl an Arbeiten von: Rudolf Egger, Lisi Hinterlechner, Gerhard Kobrc, Iris Kopera, Shpresa Krasnici, Josef Masterhofer, Franz Wedl, Ewald Wikidal, Herbert Ziegler.
Kuratoren: Hieronymus Proske und Christoph Speich

Hinweis: Am 12. Juli 2015 um 17 Uhr ist im Zehntspeicher das Theaterstück „Aus der Balance" zu sehen.
Ensemble: Eine Gruppe von zehn Schauspielerinnen und Schauspielern mit Handicap des THEATER TERRA EST VITA führen frei nach Shakespeares den zauberisch-phantastischen „Sturm“ auf.

Zum Stück und zur Inszenierung
Prosperos, einstmals Herrscher, befindet sich seit 12 Jahren mit seiner Tochter Miranda auf einer einsamen Insel.
Nunmehr Zauberer erfindet er sich eine eigene Gemeinschaft, er macht sich die Dienstgeister Ariel und Caliban zu Willen, lässt Miranda in einer von ihm gestalteten Welt aufwachsen. Miranda, gelangweilt vom Leben allein mit Papa Prospero, genervt vom grapschenden, kichernden Caliban, genervt vom Papa.
Da beschwört Prospero den Sturm herauf: Der Sturm, das Chaos, bläst durcheinander, was keine Ordnung hatte. Der Kapitän verliert sein Schiff, der König verliert seinen Sohn. Prospero hat seine Herrschaft verloren, Ariel und Caliban verloren ihre Freiheit. Verliert Miranda ihre Unschuld? Wer ist hier der Gute? Wer der Böse? Und: wessen Realität gilt?
Auch in Prosperos Kopf herrscht Sturm. Durch die Macht der Zauberei versucht er zu kontrollieren, was keine Regeln kennt.
Wessen Realität gilt und aus welchem Grund? Dieser Frage geht THEATER TERRA EST VITA nach, in der sehr eigenen Bearbeitung der Romanze von Shakespeares „Der Sturm“.

Schauspieltraining und Regie: Kerstin Wittstamm und Carolin Serafin
Weitere Informationen


Abbildungsnachweis:
Header: Detail aus einem Bild von Herbert Ziegler
Galerie:
01. Ausstellungsplakat mit Bildmotiv von Gerhard Koprc
02. Bild von Ewald Wikidal
03. Bild von Iris Kopera
04. Bild von Josef Masterhofer
05. Bild von Lisi
06. Bild von Franz Wedl
07. Bild von Rudi Eger
08. Bild von Shpresa Krasnici
09. Szene aus dem Schauspiel „Aus der Balance"
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