Erik Wegerhoff findet in seinem neuen Buch „Automobil und Architektur“ eine ganz eigene Perspektive, die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts zu erzählen.
Ausgehend vom Begriffspaar Statik und Dynamik entwickelt er eine komplexe Beziehungsgeschichte zwischen Verkehr, exemplarischen Bauten und Architekturdiskurs – detailliert, elegant wortreich und unterhaltsam geschrieben, angereichert mit vielen Abbildungen. „Die Beziehung von Architektur und Automobil ist am Ende und damit reif für die Geschichte“ schreibt der Architekturkritiker in der Einleitung seines Buches. Angesichts von verstopften Ausfallstraßen und zersiedelten Landschaften weiß man, er hat Recht.
Von Anfang an fordert das Auto seinen eigenen Raum: die Autobahn. Möglichst schnurgerade schneidet sie durch die Landschaft. Nur geradeaus ist Höchstgeschwindigkeit möglich, kann der Motor zeigen, was in ihm steckt. Die AVUS, eine acht Kilometer lange Rennstrecke zwischen Berlin-Charlottenburg und Nikolassee, wurde im September 1921 eingeweiht und war in Deutschland die erste ihrer Art. Erst das NS-Regime forcierte den Autobahnbau, ließ die Straßen in weiten Kurven durch Wald und über Hügel schwingen und behauptete, so das Auto mit der Landschaft zu versöhnen.
Auch sozial beansprucht das Auto seinen eigenen Raum, fordert eigene Regeln bzw. möglichst keine. Ortschaften und Polizeikontrollen behindern die volle Entfaltung seiner Geschwindigkeit und die Lust daran. Dass der Geschwindigkeitsrausch oft tödlich an Bäumen, Laternen oder im Straßengraben endete, hinderte die Futuristen Anfang des 20. Jahrhunderts nicht daran, ein Credo der Geschwindigkeit zu verkünden. Der Künstler Filippo Tommaso Marinetti verherrlicht 1909 in seinem Futuristischen Manifest die neue Schönheit der Rennwagen und besingt darin den Mann, „der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt.“
Architekten der Avantgarde wie Le Corbusier und Erich Mendelsohn waren ebenso vom Auto fasziniert. Eingehend untersucht Wegerhoff deren Texte und Bauten, um zu belegen, wie diese Faszination ihre Entwürfe beeinflusst hat. Im Maison-atelier Ozenfant, das Le Corbusier 1922-24 für seinen Freund Amédée Ozenfant in Paris baute, ist es der Aufstieg von der Garage bis nach oben in das Künstleratelier, dem Wegerhoff besondere Aufmerksamkeit schenkt. Er interpretiert seinen Verlauf und seine Form – äußere und innere Wendeltreppe, Galerie - als „visuell inszenierten Transport der Inspiration vom Verkehrsmittel in die Kunst“. Le Corbusier brachte mit der räumlichen Gestaltung des Aufstiegs nicht allein die physikalische, sondern auch die emotionale Bewegung zum Ausdruck, die das neue schnelle Gefährt auslöste.
Die neuen Herausforderungen von Autoverkehr und amerikanischer Hochhausarchitektur führten Erich Mendelsohn zu komplexen Überlegungen, die Wegerhoff paraphrasiert. Mit dem Mossehaus in Berlin 1923 beispielsweise beanspruchte Mendelssohn, die Nervosität des Großstadtlebens „beruhigen“ zu wollen. Mendelsohns Architektur, so Wegerhoff, „bildet in ihren Horizontalen ein formales Echo auf die Bewegungsrichtung des Verkehrs – mit wenigen, sorgfältig platzierten vertikalen Akzenten –, materiell aber bleibt sie dessen Gegengewicht.“
Das Kapitel über den Aufbruch der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts fasst der Autor unter der Überschrift „Beschleunigung“ zusammen. Die Erinnerung an das vollkommen irrationale Versprechen von Fortschritt und Freiheit durch Geschwindigkeit ist aufschlussreich, steckt darin doch schon sein Scheitern. Sobald das elitäre Hobby einzelner Automobilisten zum Massenphänomen avanciert, steht der Verkehr still. Davon handeln die folgenden Kapitel: „Schalten“, „Abbremsen, „Aussteigen“.
Zunächst wird die Masse an Verkehr, der Stillstand und die Bewegung, organisiert: Planer berechnen die optimal nutzbaren Flächen zum Abstellen von Fahrzeugen, eine Methodik des rationalen Parkplatzes entsteht. Die Straßen und Wege für Autos und Fußgänger werden getrennt. Das schafft eine eigene Architektur der erhofften Versöhnung der beiden. Als Beispiel wählt der Autor das 1964 in Zürich fertiggestellte Hochhaus zur Palme mit seiner hocheleganten Doppelhelix als Auf- und Abfahrt zum Parkdeck und analysiert es in allen seinen Bezügen.
Zeitgleich publizierte der Architekt Peter Blake 1964 seinen sehr erfolgreichen Bildband „God´s own Junkyard“, in dem er die Zerstörung der Landschaft Amerikas durch den Autoverkehr beklagte und mit Fotos beweisen wollte. Rechts und links der vier- bis achtspurigen Highways häuften sich Schrott, Müll, Werbeschilder und eine gesichtslose Architektur aus Tankstellen und Drive-ins. Doch 1966, schon zwei Jahre später, hielt Blakes Fachkollege Robert Venturi, einer der Hauptprotagonisten der Postmoderne, dagegen und schrieb: „Die Bilder in dem Buch, die das schlechte zeigen sollen, sind oft gut. Die scheinbar chaotischen Zusammenstellungen der Markenzeichen billigen Vergnügens haben eine faszinierende Lebendigkeit und Aussagekraft“.
Parkhaus. Foto: Paul Bern
Mit der Postmoderne beginnt ein Prozess der Umwertung eingeschliffener Maßstäbe und Maximen der Moderne. Das Auto verliert seine Aura von Freiheit und Fortschritt. In den städtischen Wohngebieten Deutschlands wird die Spielstraße kreiert, die das Auto auf Schrittgeschwindigkeit abbremst und alle Verkehrsteilnehmer miteinander versöhnen soll. Die Architektenschaft verhandelt ihr Verhältnis zur Geschichte neu, weil angesichts von Natur- und Umweltzerstörung das lineare Fortschrittskonzept in Frage gestellt ist.
Erik Wegerhoff untersucht daher ausführlich die „Strada Novissima“ auf der Biennale in Venedig von 1980. Zu erleben war diese inszenierte Ausstellungsstraße in einem historischen Gebäude, der „Corderie“, der einstigen Seilerei der Arsenale. Ähnlich wie eine Basilika ist die „Corderie“ in ihrer Längsachse durch einen mittigen, breiten Säulengang dreischiffig organisiert. So bietet das historische Gebäude bereits per se eine Art Kolonnadenstraße. Zwischen den dicken Säulen hatte damals eine Riege von 20 überwiegend postmoderner Erfolgsarchitekten nach kuratorischen Vorgaben spielerisch historisierend gestaltete Fassaden aufgebaut. Diese zwanzig unterschiedlichen Kulissenarchitekturen ergaben dann zusammen das Bild einer Straße, eben die „Strada Novissima“, die zugleich als Ausstellung und Flaniermeile fungierte.
Wegerhoff erläutert ausführlich die damalige Debatte rund um diese Ausstellungsstraße und diskutiert insbesondere die Bedeutung der Säule, die hier den menschlichen Körper repräsentierte und einen Paradigmenwechsel anzeigte. Kurzum: mindestens in der „Strada Novissima“ spielte das Auto keine tragende Rolle mehr, versuchten die Architekten, sich davon zu verabschieden.
Doch am Ende des Buchs tritt das Auto nochmal auf den Plan: Der Autor widmet sich intensiv der berühmten Therme von Vals im Schweizer Kanton Graubünden, entworfen von Peter Zumthor. Erst 1996 eröffnet, ist sie schon seit 1998 ein Baudenkmal. Wegerhoff erklärt einleuchtend das Zusammenwirken von Ort und Gebäude, versucht, der spezifischen Architekturauffassung Zumthors auf die Spur zu kommen. Das Auto ist hier indirekt im Spiel durch die Bergstraße, die zum Dorf führt und hier endet und deren besonderer Charakter einen Widerhall in der Architektur der Therme findet.
Therme von Vals. Foto: Micha L. Rieser
Erik Wegerhoffs Analysen zu folgen, ist spannend und unterhaltsam. Eine Architekturgeschichte aus der Perspektive der Beziehung zum Auto zu schreiben, eignet sich vielleicht auch als Kunstgriff, nicht nur ein Fachpublikum, sondern auch weniger Architektur-affine Leser zu gewinnen. Mit dem anvisierten Ende des Autos müsste sich auch das Bauen ändern, die Kultur und Ästhetik des immer Neuen und des ewigen Wachstums. Aber das wäre ein Thema für ein Architekturbuch über das 21. Jahrhundert.
Erik Wegerhoff: Automobil und Architektur. Ein kreativer Konflikt
Wagenbach Verlag Berlin 2023
240 Seiten. Großformat. Klappenbroschur. Mit sehr vielen Abbildungen.
ISBN 978-3-8031-3733-3
Weitere Informationen (Verlag)
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment