Meinung
KlassikKompass – Musik im Mittelalter: Tanz der Bauern und Pomp der Bürger (Teil 1)

Die Zeit zwischen 1000 nach Christus und dem 15. Jahrhundert ist als die Geburt und Wiege der musikalischen Formen zu betrachten, die wir heute noch kennen und die Musik bis in unsere Zeit bestimmt.
Der KulturPort.De-KlassikKompass unternimmt in einer Serie in losen Folgen eine Reise in die Musik des Mittelalters. Wir beenden diese Fahrt nun und betrachten abschließend die ‚Popmusik’, der Edelleute, Bauern und Bürger bis zur Morgenröte der frühen Renaissance.

„Jetzt wende ich mich jenen Balli und Bassedanze zu
Die weit vom Volk entfernt sind
Die für die Säle der Adeligen geschaffen wurden
Und nur von würdigen Damen getanzt werden können
Aber nicht vom niedrigen Volk.“

Aus dem Tanzbuch des Guglielmo Ebreo da Pesaro, genannt auch ‚Wilhelm der Jude’ (1420-1484), italienischer Tänzer, Tanzmeister und Tanztheoretiker.

Man kann sich heute in vielen Bereichen der Musik des Mittelalters ein ziemlich originalgetreues Bild von dem machen, wie vor 600 bis 1000 Jahren musiziert worden ist.
Das bezieht sich aber in erster Linie auf die Musik an den Höfen – die Lieder der Troubadoure und Minnesänger – und natürlich die Kirchenmusik wie auch die Musik zu Zeiten des Krieges, die wir in den drei vorausgegangenen Teilen unserer KlassikKompass-Serie beleuchtet haben.
Diese oben beschriebenen Musikgattungen wurden in gewissem Masse durch Aufzeichnungen und erste Notenschrift konserviert. Anders sieht es bei der Volksmusik dieser frühen Epoche aus – was Bauern und späterhin die Bürger musikalisch erfreute – nach welchen Klängen sie sich im Tanz bewegten, war erheblich schwieriger zu rekonstruieren.

Galerie - Bitte Bild klicken
Einer der Hauptgründe dafür ist, das weltliche Musik, namentlich wenn sie zum Tanzen bestimmt war, von der Kirche im wahren Sinne des Wortes verteufelt wurde. Immer wieder ließen sich auf zeitgenössischen Darstellungen die Musikinstrumente mit der Hölle und den Lastern des weltlichen Lebens verbinden – sehr schön zu sehen in den Darstellungen des flämischen Malers Pieter Bruegel d. Ä. (um 1525-1569) – des sogenannten ‚Bauern-Bruegel’ und dessen Sohns Pieter Brueghel d. J. (1564-1638) – des sogenannten ‚Höllen-Brueghel’. Dessen Hölle ist in der Tat voll mit Musikinstrumenten und bösen Geistern, auch wenn man heute weiß, dass die gemeinten Bilder gar nicht von ihm stammen, sondern von seinem Bruder Jan (Samtbreughel), der in dessen Werkstatt in Antwerpen arbeitete.
Auch an den Kirchen und Kathedralen wurden Straßenmusiker und Fahrende – wenn sie überhaupt figürlich dargestellt wurden – an die Außenmauern zu den dämonischen Wasserspeiern verbannt. Also generell keine gute Ausgangslage, um die Musik des einfachen Mannes über die Jahrhunderte zu konservieren. Doch gerade die dämonisierenden Darstellungen der Musikinstrumente der Frühzeit in der bildenden Kunst erlaubten es Musikhistorikern und Musikern diese zu rekonstruieren und ein Klangbild der Mittelalters und späterhin auch der Renaissance und des Barock neu zu beleben.

Wir haben einige von diesen Pionieren der originalen Aufführungspraxis schon vorgestellt, wie den viel zu früh verstorbenen britischen Musikhistoriker David Munrow (1942-1976) als auch den US-amerrikanischen Lautenisten und Musikforscher Thomas Binkley (1931-1995), der mit seinem ‚Studio für frühe Musik’ ebenfalls wie Munrow bahnbrechende Erkenntnisse über die Musizierpraxis der Mittelalters gewann und diese in Aufnahmen im originalem Klanggewand umsetzte. Man kann sich vorstellen, das dies eine Wirkung auf die musikinteressierte Öffentlichkeit hatte, als ob man mittelalterliche Gemälde zu ihrer alten Farbenpracht restaurierte. Leider hatte das Ganze auch eine Kehrseite. Als in den 60er und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts die Wiederentdeckung der mittelalterlichen Popmusik begann, verursachte sie in Folge auch einen zweifelhaften Mittelalterkult, der mit dem Original ziemlich wenig gemein hatte.

Das Bild vom gemeinen Mann im Mittelalter der seine Feste zumeist saufend, prügelnd und kopulierend verbrachte und das Wild mit dem Messer aufspießte und dazu obszöne Lieder sang kam auf – genährt durch Musikgruppen die irische Balladen, Schrammeln und jaulende Fiddeln und Tabourine einsetzten um garniert mit schlechtem Gesang und schlichtem Pop-Lärm das wilde Leben im Mittelalter ‚wiederzubeleben’.

Wir wollen uns lieber mit den seriösen nicht weniger spannenden Aufnahmen beschäftigen, die ein originales Bild dieser Zeit und ihrer ‚Volksmusik’ liefern.
Die Website ‚Das Mittelalter in Deutschland’ – generell sehr zu empfehlen, wenn es darum geht, das Mittelalter genauer kennenzulernen, führt zur Musik des Volkes aus: „(...) Die Germanen brachten ihre Musik mit ins Frühmittelalter. Sie liebten das Heldenlied und das Götterlied und sie sangen das Tanzlied und das Liebeslied. Schon zu dieser Zeit nannten fromme Kirchenmänner die Lieder und Spiele gleichermaßen ‚teuflisch’, sie unterschieden nicht zwischen Lotterspruch, Totensang und Sisesang, der auch übermütig lustig war. Sie rechneten zu den Spielleuten Sänger, Gaukler und sogar Narren und Bettler. Dann aber legte die Kirche großes Gewicht auf die Sangeskunst und stand nur den Musikinstrumenten, die überwiegend weltlicher Lust dienten, misstrauisch gegenüber. Der Norden übernahm hier viel vom Süden, wie die Pfeife, Fidel, Leier und eine primitive Orgel, eine Art Verbindung aus Panflöte und Dudelsack.

In Deutschland war das Horn, die Harfe (Rotte) und die Schwegel (Swegale, ein Blasrohr) einheimisch, außerdem die Pfeife (lateinisch: pipa) und die Fidel (lateinisch: fidicula, von fides: Saite). Wo und wann immer Menschen sich versammelten, an Hochzeiten, Kirchweihen und Fürstenhöfen und in Bischofssitzen fanden die wandernden Sänger und Schauspieler nur allzu freundliche Aufnahme – sogar in Nonnen- und Mönchsklöstern. Die Bauern zeigten sich im Sommer sehr ausgelassen bei den Springtänzen und Reien. Dabei sangen sie entweder selbst Lieder – sie ‚girregarten nach Irregangs Leich’ oder nach ‚Albs Leich’ (Elfenweise) – oder sie ließen sich durch Sänger und Sängerinnen etwas vortragen (...)“

Wir wollen unsere Reise durch die Volksmusik des Mittelalters mit der größten Entdeckung der Musik dieser Zeit beginnen, die sich ausgerechnet in einem Kloster verbarg und in Folge das öffentliche Interesse nicht nur der Musikwelt an dieser Frühzeit anheizte – der ‚Carmina Burana’.

Carmina Burana: Das ewige Rad des Lebens

‘O Fortuna velut luna
Statu variabilis, semper crescis
Aut decrescis; vita detestabilis
Nunc obdurat et tunc curat
Ludo mentis aciem, egestatem,
Potestatem dissolvit ut glaciem’

‚O Fortuna’ ist ein mittelalterliches Gedicht, (frühes 13. Jahrhundert), in der Sammlung der Carmina Burana

‚Glück, wie der Mond bist Du wechselhaft
Immer täuschend, immer schwindend
Unsicheres Leben!
Erst schmeichelnd, dann unterdrückend
Wie der scharfe Geist es erkennen kann
Die Macht schmilzt Dir wie Eis’

(Freie Übertragung ins Deutsche)

Die ‚Carmina Burana’ (lateinisch für ‚Beurer Lieder’ oder ‚Lieder aus Benediktbeuern’) ist der Name einer Anthologie von 254 lateinischen, seltener mittelhochdeutschen, altfranzösischen oder provenzalischen Lied- und Dramentexten, die 1803 in der Bibliothek des Klosters Benediktbeuern gefunden wurde. Die Texte wurden im 11. und 12. Jahrhundert, einige auch erst im 13. Jahrhundert, von zumeist anonymen Dichtern verfasst. Die Carmina Burana gelten neben den älteren ‚Carmina Cantabrigiensia’ als wichtigste Sammlung der Vagantendichtung. Die Lieder sind in einer einzigen Handschrift überliefert, die um 1230 von zwei verschiedenen Schreibern in einer frühgotischen Schriftart auf 119 Blatt Pergament geschrieben wurde. Einige dieser Gedichte wurden im 14. Jahrhundert auf freien Blättern sowie einer weiteren Lage Pergament von leicht abweichendem Zuschnitt in einem Anhang nachgetragen. Die Handschrift enthält acht Miniaturen: Das ‚Rad der Fortuna’, ein phantastischer Wald, ein Liebespaar, Szenen aus der Geschichte von ‚Dido und Aeneas’, eine Trinkszene und drei Spielszenen. Gespielt werden darin Würfel, Wurfzabel und Schach.

Heute ist man sich darüber einig, dass aus dem Dialekt der mittelhochdeutschen Strophen geschlossen werden muss, dass die Handschrift im bayerischen Sprachraum entstand, und aus für Italien typischen Besonderheiten der Schrift, dass dies an seinem südlichen Rand geschah. Für den genauen Entstehungsort gibt es derzeit zwei Hypothesen: Die eine nennt den Bischofshof von Seckau in der Steiermark; darauf deute hin, dass ein Bischof Heinrich, der dort von 1232 bis 1243 amtierte als Auftraggeber in Frage komme. Nach der anderen Hypothese ist Kloster Neustift bei Brixen in Südtirol der Entstehungsort. Die Frage ist bis heute nicht eindeutig beantwortet.

Die ‚Carmina Burana’ sind in vier Gruppen unterteilt:
- 55 moralische- und Spottgesänge
- Liebeslieder– mit 131 Beispielen
- 40 Trink- und Spielerlieder
- Zwei geistliche Theaterstücke

Es gilt als wahrscheinlich, dass es ursprünglich auch eine Gruppe mit geistlichen Liedern gab, die aber verloren sind.

Innerhalb jeder dieser Gruppen sind die ‚Carmina Burana’ nach thematischen Gesichtspunkten geordnet wie: ‚Abkehr von der Welt’, ‚Kreuzzugslieder’, oder Bearbeitungen antiker Stoffe. Weitere häufig wiederkehrende Themen sind Kritik an Geldgier in der Kirche, die mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft im 12. Jahrhundert rasch um sich gegriffen hatte, Klagelieder (sogenannte ‘Planctus’) über das Auf und Ab des menschlichen Schicksals oder über den Tod, die hymnisch gefeierte Wiederkehr des Frühlings die Verführung einer Schäferin durch einen Ritter, Studenten oder Kleriker und die Beschreibung der Liebe als Kriegsdienst.

Typisch sind auch die zahlreichen Schilderungen eines nachgerade paradiesischen Wohllebens. In dieser ausgesprochenen Diesseitigkeit und Freiheit von sittlichen und standesmäßigen Bindungen zeigt sich ‘ein Welt- und Lebensgefühl, das in krassem Gegensatz zu der mittelalterlichen Welt festgefügter Ordnungen steht’. Das Problem, wie sich diese blasphemischen oder auch die sinnenfrohen Lieder, denen die ‚Carmina Burana’ nicht zuletzt ihre Berühmtheit verdanken, mit den ernsten weltlichen oder geistlichen Texten der Sammlung vertragen ist nicht ganz zu klären. Sicher ist das die ‚Carmina Burana’ eine pralles musikalisches Welttheater des Mittelalters zeigen. Die Texte und Musiken der Carmina reizten viele Interpreten und sogar moderne Komponisten. So kam der endgültige Durchbruch der Bekanntheit für diese Sammlung in ihrer Neukomposition durch den Münchner Komponisten Carl Orff (1895-1982) dessen szenische Kantate für Chor und Solisten nach den ‚Carmina Burana’ zu einem der erfolgreichsten Musiken des 20. Jahrhunderts wurde. Besonders der darin enthaltene Cantus ‚O Fortuna’ wurde ein echter Hit der selbst internationale Hitparaden erstürmte. Dennoch hat diese Fassung der ‚Carmina Burana’ – sieht man mal von der Verwendung von viel Schlagwerk und den Texten, wenig mit der originalen Musik, des Mittelalters zu tun – so hochkünstlerisch diese Fusion von Altem und Moderne Carl Orff auch gelungen sein mag.

Ich möchte, für denjenigen den diese Orff-Fassung der ‚Carmina Burana’ interessiert, eine Aufnahme von Christian Thielemann und dem Orchester und Chor der deutschen Oper Berlin empfehlen. Der Barition Simon Keenlyside, bekannt aus seinen Mozart Rollen, unter anderem dem ‚Don Giovanni’, singt zusammen mit der Sopranistin Christiane Oelze die Solopartien des Werkes.

Die CD Carl Orff ‚Carmina Burana’ mit Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin und Christiane Oleze (Sopran) sowie Simon Keenlyside (Bariton) dirigiert von Christian Thielemann ist zu haben bei Deutsche Grammophon unter der Bestellnummer DDD 0289 477 6675 9 GCH.

Die erste Einspielung der ‚Carmina Burana’ im Originalklang fand bereits im Jahre 1979 mit dem österreichischen Musikforscher, Organisten und Komponisten Rene Clemecic (geboren 1928 in Wien) mit eigenen Consort auf nachgebauten Originalinstrumenten statt.

Wir wollen uns einem wahren Makrokosmos der mittelalterlichen Musik zuwenden der unter dem Titel ‚Liebe, Ritterlichkeit und Tanz in der Mittelalterlichen Musik’ in einer 7 CD Box veröffentlicht wurde: Die Aufnahme der Gruppe ‚Ensemble Millenarium’ und dem Kammerchor aus Namur, bieten ein breites Spektrum der Unterhaltungsmusik des Mittelalters. Sie kann wie eine Anthologie der Musik dieser Zeit genossen werden kann – natürlich sind auch zwei CD dieser Box den Carmina Burana gewidmet.

Das deutsch-wallonisch-französische Ensemble Millenarium, das in dem jeweiligen Repertoire angepassten, wechselnden Besetzungen einspielt und auftritt, schuf sich mittlerweile einen ersten internationalen Ruf als Interpreten dieser frühen Musik.
Es besteht in seiner Basis aus: Sabine Lutzenberger (Gesang und Flöten), Christoph Deslignes (Organetto), Thierry Gomar (Schlagwerk), Philippe Malfeyt (Lauten), Baptiste Romain (Fiddel und Dudelsack), Henri Tournier (Flöten).
Auf verschiedenen Aufnahmen wird das Ensemble erweitert durch: Carole Matras (Gesang und Harfe), Dominique Regef (Fiddel und Rebec), Jean Lou Deschamps (Fiddel und Zitter), Eva Fogelgesang (Harfe). Der Kammerchor der wallonischen Stadt Namur ergänzt auf einigen CDs das Ensemble Millenarium. Dieser „franco-flämische“ Chor, der sich auch besonders der frühen und Renaissance Musik der heutigen Wallonie und Flanderns gewidmet hat besteht aus den Sängern: Marie Jennes und und Mathilde Sevrin (Sopran), Elisabeth Goethals (Mezzo Sopran), Christine Lamy (Alt), Jean-Yves Guerry (Counter Tenor), Vincent Antoine und Andreas Hallig (Tenor), Jean-Marie Marchal (Bariton), Philippe Favette und Koen Meynckens (Bass).

Die 7-CD-Box ‚Love Reverly and the Dance in Mediaeval Music’ mit dem Ensemble Millenarium und dem Choeur de Chambre de Namur ist zu haben bei Ricercar/Outhere Records unter der Bestellnummer RIC 328.

In der CD-Box der Gruppen befinden sich auch zwei Aufnahmen der ‚Carmina Burana’ (CD 3 und CD 4).
Die erste der beiden Aufnahmen unter dem Titel ‚Tempus Transit’ (‚Zeit verändert’) bietet eine Auswahl der Gesänge aus den fast 300 Liedern, die in den Carmina-Büchern enthalten sind. Sie werden in der Kammerbesetzung des Ensembles Millenarium aufgeführt. Interessant dabei sind das die Lieder immer wieder durch Tanzsätze und freie Improvisationen ergänzt werden, die sich besonders an den bereits in unserer vorigen Folge beschriebenen ‚Estampies’ oder italienisch ‚Istampitta’ orientieren. Die Lieder sind stark rhythmisch unterlegt und sie laden quasi zum Tanzen ein. Viele spätere besonders italienische Tanzmusik-Formen wie die ‚Rotta’ oder der ‚Saltrello’ beziehen sich auf diese Musiken. Die Gesänge sind fast rezitativisch und erzählend – sie berufen sich auf die Tradition der Troubadoure, sind aber sozusagen ‚unter das Volk geraten’ und parodieren diese vorher rein höfischen Gesänge mit einer gewissen beißenden Ironie. Die Texte sind zumeist lateinisch, um dann doch in einigen der Strophen sozusagen die mittelhochdeutsche Übersetzung zu liefern – damit auch jeder versteht wovon die Rede ist...
Schön auch die Improvisationen mit Glocken und dem Vaganten-Vorläufer der Kirchenorgel, der italienischen Truhenorgel – dem ‚Organetto’. Selbst ein heiseres Flüstern wird von den Interpreten eigesetzt, um diese Carmina Burana mit neuem Leben zu erfüllen – wahrhafte Kleinode die eine fast vergessene Musikepoche wiederauferstehen lassen.

Die zweite CD die den Carmina Burana gewidmet ist hat den Titel ‚Officium Lusorum’ (‚Gottesdienst der Esel’). In dieser Aufnahme wird nun die lateinische Messe kräftig ‚vereimert’ und mit neuen, teilweise ziemlich derben Texten unterlegt. Schade, dass man diese nicht im Textbuch der CD-Box nachlesen kann – das einzige Manko dieser Anthologie. Diese ‚Messe’ ist gedacht für die ‚dunkle’ Zeit zwischen Weihnachten (24. Dezember) und Epiphanias (6. Januar) – die berühmten ‚12 Days of Christmas’, die es heute noch im britischen Raum zu feiern gilt. Sie waren genau genommen ‚kirchenfrei’ – den Eseln und Gauklern gewidmet. Sie galten als Wintersonnwende schon in germanischer und keltischer Zeit als Treffen zwischen Himmel und Erde und Geisterwelt.

Im Mittelalter wurde diese Zeit benutzt, um einmal kräftig über die Stränge zu schlagen und auch mal ordentlich das Maul aufzureißen über die Kirche und die Obrigkeit – vergleichbar mit unserem Karneval.
Das ‚Fest der Narren’ (‚Feast of Fools’) wie es auf einer anderen Aufnahme, die ich später auch empfehlen möchte, übersetzt wurde, ist eine wilde Angelegenheit.
Das Ensemble Millenarium und der Kammerchor Namur, der besonders in den Messteilen des ‚Officium’ tätig wird – selbst durch Kinderchor verstärkt – haben hier wirklich ein schmissiges Narrenfest auf CD gebannt – viel Spaß und Ironie und wahrhaft ‚teuflische’ Instrumentalsätze.
Besonders bösartig ist die jaulende Imitation der Gregorianischen Gesänge mit heiseren diabolischen Stimmen und schlüpfrigen Texten – das wird den Kirchenoberen damals wohl keine wirkliche Freude gemacht haben.

Nochmal eine Schilderung entnommen der Website ‚Das Mittelalter in Deutschland’ was auf diesen Festen aufgeführt wurde: „(...) Dargeboten wurden selbst verfasse Lieder oder Gedichte, die oftmals sehr ‚weltliche’ Genüsse priesen, weswegen die Kirche Spielleuten gegenüber im Allgemeinen sehr ablehnend waren. Allerdings versorgen Spielleute ihre Mitmenschen auch mit Nachrichten und Geschichten aus der ‚großen, weiten Welt’, die sie auf ihren Reisen aufgeschnappt hatten (...)
Schon Erzbischof Caesarius von Arles (470-542), einer der bedeutendsten Kirchenmänner im Gallien seiner Zeit erwähnt die Bauernweiber könnten wohl ‚teuflische Liebeslieder’, aber keine Psalmen singen. Fromme Geistliche entfernten sich, wenn Gaukler und Spielweiber auftraten, aber nicht alle taten es und verschiedene Konzilien geboten den Geistlichen, Hochzeiten fernzubleiben, bei denen Liebeslieder gesungen wurden und üppige Tänze stattfanden (...)“.
Bereits 1987 beschäftigte sich der britische Musikologe und (Block-)Flötist Philip Pickett (geboren 1950) mit den Carmina Burana intensiv. Er suchte einen eigenen Weg diese Handschrift wieder musikalisch zum Leben zu erwecken.
Für sein ‚New London Consort’ durchsuchte er Archive und verband schließlich die namentlich von der berühmten Komponisten und Musikschule von Notre Dame (1160-1250) aufgezeichnete Aufführungspraxis mit anderen zeitgenössischen Quellen und setzte insgesamt 50 Gesänge der Carmina neu. Er stützte sich dabei auch auf die Erkenntnisse seiner Vorgänger Thomas Binkley und Rene Clemencic die dieses Werk zunächst bearbeitet und aufgenommen hatten ging aber wesentlich darüber hinaus. Der Hauptunterschied ist das Pickett von der Praxis der reinen A Capella Aufführung der Gesänge (also ohne Instrumentenbegleitung) abging. Er fand keinerlei Hinweise darauf, dass man die Carmina unbegleitet aufführen sollte. Pickett veröffentlichte dann von 1987 bis 1989 vier CD mit seinen Carmina Burana und verwendete einmal hochklassige Vocalisten die heutzutage alle einen großen Namen tragen. Außerdem verwendete er ein reiches Instrumentarium von Fiddeln, Lauten, Schellen, Drehleiern und Trommeln und Flöten und so entstand ein buntes lebendiges und sicherlich original-nahes Klangbild dieser Gesänge und ihrer Epoche. Die Sänger auf den Aufnahmen sind unter anderem Catherine Bott, Tessa Bonner und Sally Dunkley (Sopran), Andrew King (Tenor) – mittlerweile selbst ein gefeierter Dirigent besonders des Händel-Repertoires – Michael George und Allan Parkes (Bariton) sowie Simon Grant (Bass). Diese Aufnahmen sind besonders für diejenigen zu empfehlen, die sich intensiver mit den Carmina Burana und ihren Texten und der Aufführungspraxis beschäftigen wollen. 1992 schloss Philip Pickett dann noch eine Aufnahme des Narrenfestes (‚Feast of Fools’) an – ebenfalls ein pralles und musikalisch vielfarbiges Gemälde dieser Wintersonnwenden-Narretei und ebenfalls sehr empfehlenswert. Die bewährten Vocalisten aus den vorher gehenden vier Carmina-Aufnahmen wurden auch hier wieder erfolgreich und spannend eingesetzt.

2 Einzel und eine Doppel-CD ‚Carmina Burana’ mit Philip Pickett und den New London Consort sind zu haben bei Decca Records. Volume 1 (Bestellnummer 475 9106), Volume 2 (Nr. 421 062-2) und 3 & 4 (Nr. 425 117-2).
Die CD ‚Feast of Fools’ mit Philip Pickett und den New London Consort ist zu haben bei Decca Records (Volume 1 Bestellnummer 478 0028).

Auf der oben bereits erwähnten Anthologie der mittelalterlichen Musik der Gruppe „Ensemble Millenarium’ und dem Kammerchor Namur ist die CD 6 dem sogenannten ‚Libre Vermell de Montserrat’ gewidmet.
Diese Sammlung in diesem Buch von „Cantigas de Santa Maria“ („Lieder für die heilige Maria“) sind eine der größten Sammlungen von Liedern des Mittelalters.

Wir hatten uns schon einmal mit ihr beschäftigt in der zweiten KlassikKompass-Mittelalter-Musik-Folge zum Thema ‚Kirche’.

Die ‚Cantigas’ wurden während der Herrschaft und wahrscheinlich im Auftrag des spanischen Königs Alfonso X. (1221-1284) gesammelt.
Alfonsos Projekt ist dabei nicht nur eine bloße Ansammlung von Liedern und Wunderberichten, sondern ein kulturelles Projekt von großer Bedeutung für die mittelalterliche Literatur, Musik und Kunst. Ihre Vollendung nahm den Großteil seiner Amtszeit in Anspruch (1252-1284). Er sah sie als ein wichtiges Mittel zu seinem persönlichen Seelenheil. Sie wurden in der Folgezeit namentlich bei den Pilgern von Santiago de Compostela zu echten Volksmusik-Hits und viele von ihren wurden später sogar neu getextet und als frühe ‚Schlager’ durch die ganze damalige Welt getragen. Sie sind ähnlich wie die Carmina Burana zwar teils kirchlich-religiösen Inhalts wurden aber in ihrer Funktion wie ‚Popmusik’ gesungen und musiziert. Die Aufnahme dieser Anthologie wurde im Februar 1998 in der Kirche des Heiligen Johannes in Beaufays nahe Lüttich in der belgischen Wallonie mit großem Aufwand aufgenommen. Beaufays wird bereits im 12. Jahrhundert als Standort eines Klosters erwähnt. Hier wurden nun wirklich alle Mittel der rekonstruierten Musik des Mittelalters eingesetzt. Die Musiker von Millenarium begleiten mit einer bunten Vielzahl von originalen Instrumenten dazu Schellen, Glocken, Zimbeln und Schlagwerk wie Trommeln und Rasseln. Dazu singt der Kammerchor aus Namur unterstützt durch eine Choralschola für die gregorianischen Teile dieser Aufnahme und einem Kinderchor, ‚Les Pastoureaux’ – die Schäfer – auf der Pilgerfahrt.

Diese Aufnahmen zeigt wie klanglich vielfältig und spannend das Mittelalter gelungen hat – einfach mitreißend!

Ihr Herby Neubacher


Abbildungsnachweis:
Header: Detail aus Pieter Bruegel d. Ä. „Der Bauerntanz“, um 1568, Öl auf Holz, 114x164cm, Kunsthistorisches Museum Wien.
Galerie:
01. Pieter Bruegel d. Ä. „Der Hochzeitstanz“, 1566, Öl auf Holz, 119x157 cm, Detroit Institute of Arts
02. Codex Buranus (Carmina Burana) Schicksalsrad, 11. bis 13. Jahrhundert
03. CD-Cover Carl Orff ‚Carmina Burana’ mit Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin
04. CD-Cover ‚Love Reverly and the Dance in Mediaeval Music’ mit dem Ensemble
Millenarium und dem Choeur de Chambre de Namur
05. Darstellung des ‚Feast of Fools’, das zwischen altem und neuem Jahr gefeiert wurde.
06. CD-Cover ‚Carmina Burana’ mit Philipp Pickett und den New London Consort
07. CD-Cover ‚Feast of Fools’ mit Philipp Pickett und den New London Consort
08. Lautenist aus dem spanischen ‚Libre Vermell de Montserrat.

Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)

Kommentare powered by CComment