Karl Korn beschreibt in seinem Buch „Sprache in der verwalteten Welt“ eine idealtypische Person, die er den „Angeber“ nennt, aber er verwendet diesen Begriff doch ein wenig anders, als wir es in unserem Alltag tun.
Sein Angeber ist keiner, der mit einem großen Schlitten vorfährt und mit seinem Einkommen, seinen Reisen rund um die Welt oder irgendwelchen Erfolgen protzt, sondern eher ein Mensch, der sich mit albernen Sprachwitzen in den Mittelpunkt stellt, einer, der eine männliche Runde mit „Mädels“ anspricht oder der als Sportreporter den Ball ein „Spielgerät“ oder einen Formel 1-Boliden einen „Dienstwagen“ nennt.
Die von Korn beschriebene Art von Angeberei, die wir alle aus dem täglichen Leben kennen und die besonders die Sprache vieler Journalisten prägt, wird hier nur eine untergeordnete Rolle spielen. Vielmehr soll es um den gebräuchlichen Begriff des Angebens gehen, aber ohne großen Schlitten und Fernreisen. Unser Angeber tut so, als sei er gebildet, indem er möglichst kompliziert formuliert oder seltene Fremdwörter in den Raum wirft, indem er ungebräuchliche Metaphern kreiert oder den Kasus der Gebildeten, den Genitiv, dort gebraucht, wo Akkusativ oder Dativ am Platze wären. Und er liebt es, Infinitive mit mehr als einem Hilfsverb zu kombinieren. Für uns dagegen soll es darum gehen, dass eine einfache, klar strukturierte Sprache nicht nur besser verständlich, sondern in vielen Fällen auch der Sache angemessener ist. Und schöner!
Was eigentlich ist Bildung? Politik und Journalismus tun ja so, als sei heutzutage – besonders nach den viel besprochenen Pisa-Studien – kein Thema wichtiger als frühkindliche Bildung. Von Erziehung sprechen Politiker, Eltern und Pädagogen weniger gern, wahrscheinlich, weil das für sie irgendwie spießig klingt, nach erhobenem Zeigefinger und Besserwisserei. Wer möchte schon gern ein Spießer sein? Wer nennt sein Kind oder Schüler heute noch „Zögling“? Bereits hier stoßen wir auf einen ersten angeberischen Begriff, der eine tatsächlich wichtige Diskussion von vornherein auf ein falsches Gleis setzt. Gibt es die „frühkindliche Bildung“, von der alle Welt spricht? Kann es dergleichen überhaupt geben?
Worin unterscheiden sich Erziehung und Bildung? Zunächst orientiere ich mich in diesem Zusammenhang an Ernst Jünger, der in „Das abenteuerliche Herz“ geschrieben hat, man bilde sich selbst, werde aber erzogen. Diese lakonische Bemerkung bringt das Verhältnis von Erziehung und Bildung auf den Punkt.
Der Zufall will es, dass gerade in diesen Tagen ein Buch neu erschienen ist – ein recht altes Buch von 1811 –, das genau in diesem Sinne das Verhältnis von Bildung und Erziehung erläutert. Offenbar war der Zusammenhang von Bildung und Erziehung früheren Generationen noch klar. „Das Urbild der Menschheit“ des in Deutschland längst vergessenen, aber in Spanien und Lateinamerika bis heute wichtigen Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832) ist das sozialphilosophische Hauptwerk dieses Philosophen und dazu der Ursprung des „Krausismo“. Eben gerade ist dieses Buch in einer sorgfältigen Edition im Rahmen der „Philosophischen Bibliothek“ neu erschienen. Für Krause hat jeder Mensch „das Vermögen und die Pflicht, sich selbst zu bilden“, zugleich sein eigenes Werk und „sein Meister zu seyn“. Es geht ihm wie Jünger um „Selbstbildung“, um „eine Kunsthülfe zum Wachsthume des Selbstlebens des bildenden Wesens“. Dagegen ist der „der eigenthümliche Charakter der Erziehung […] Bildung eines untergeordneten Wesens durch ein höheres auf bestimmtem Gebiete“.
Dieser hier so klar gesehene und deutlich bezeichnete Unterschied von Bildung und Erziehung ist hier aus zwei Gründen wichtig. Erstens ist es für mich ein schönes Beispiel für die Angeberei mit hohlem Wortkram, wenn zum Beispiel fortwährend von Bildung gesprochen wird, obwohl eigentlich nur Erziehung gemeint sein kann. Und außerdem spiegelt sich das Verhältnis von Erziehung und Bildung, von Akzeptanz und Internalisierung der allgemeinen Regeln und ihre individuelle Ausformung besonders in dem Erlernen einer Sprache – der Muttersprache wie der Fremdsprachen.
Im Gegensatz zu der Passivität der Erziehung vollzieht sich Bildung aktiv – sie ist ein reflexiver Vorgang, in dem eine Person auf sich selbst zurückblickt und sich nach einer Idee von sich selbst zu formen versucht. Das geschieht über einen sehr langen Zeitraum, ja findet niemals ein Ende und kann auch gar nicht an ein Ende kommen. Denn Bildung ist prinzipiell unabschließbar. Ein Mensch findet gewisse Interessen und Fähigkeiten wichtiger oder seinem eigenen Charakter entsprechender als andere und bemüht sich, tatsächlich ein Individuum zu sein oder eines zu werden, ein Wesen, das sich auf sich selbst besinnt und damit von anderen Personen unterscheidet. Deshalb sind wir oft unzufrieden mit uns selbst, und deshalb lernen wir noch als Erwachsene ein Instrument, entscheiden uns für ein neues Hobby und feilen an unserem Verhalten.
Beim Militär findet eine sehr effektive Erziehung statt, aber niemand wird angesichts eines Kasernenhofdrills von Bildung sprechen wollen. Denn Rekruten werden erzogen, sie bilden sich nicht selbst – Ernst Jüngers Bemerkung trifft den Nagel auf den Kopf. Je nach der Position eines Menschen – seiner gesellschaftlichen Stellung, seinem historischen Ort und so weiter – werden Inhalt und Form der Erziehung variieren. Unter Umständen kann sie sich blitzartig vollziehen oder doch wenigstens sehr, sehr schnell; so kann ein Kind in einem Augenblick begreifen, dass Feuer gefährlich ist, es reichen einige Tage, um einen leichten Beruf zu erlernen, und für begabte Menschen lassen sich mathematische Methoden in sehr schneller Zeit einsehen.
Bildung dagegen vollzieht sich langsam. Das Erlernen einer Sprache ist das beste Beispiel dafür: es dauert, und was wir schnell gelernt haben, das vergessen wir auch schnell. Deshalb ist es keine schlechte Sache, sich mit einer neuen Sprache Zeit zu lassen. Erst gilt es, die Konjugationstabellen herunterzurasseln, korrekt zu formulieren und treffende Vokabeln zu gebrauchen, erst dann darf man (oder sollte…) an seinem individuellen Ausdruck feilen. Damit fangen wir nicht an, denn zunächst müssen wir die Regeln beherrschen. Wie Krause gezeigt hat: Die Bildung baut auf der Erziehung auf; Erziehung ist ihre Grundlage.
In Heimito von Doderers Roman „Die Dämonen“ wird das Erlernen einer Sprache erzählt. Es geht um das Erlernen der eigenen Muttersprache, und wie das noch ein Erwachsener tun kann, demonstriert der Autor am Beispiel des einfachen Arbeiters Leonhard Kakabsa. Kakabsa mausert sich zum Studenten an der Universität, indem er zunächst Latein lernt und erst dank dieses Umweges den Zugang findet zum Hochdeutschen. „Wie der Neubeginn eines Kindesalters“, so gestaltet sich das Lernen des Lateinischen, und der Leser verfolgt die Bildung, das Reifen und Wachsen Kakabsas über 1300 Seiten hinweg, bis dieser endlich sich selbst und seine Rolle in der Welt gefunden hat. Was Doderer schildert, ist „Selbstbildung“.
Anders als diese Bildung ist Erziehung ein Vorgang, den ein Lebewesen erleidet – man wird erzogen. Erzogen werden können, wie wir alle wissen, auch Hunde, ja sogar Insekten (Flöhe für einen Flohzirkus, Bienen für das Aufsuchen von Minen), und Obstbäume erleiden einen Erziehungsschnitt. Und kleine Kinder? Diese bilden sich mitnichten selbst, sondern auch sie werden erzogen, und erst ganz allmählich entwickeln sie einen kritischen Blick auf sich selbst. Sie müssen es erst lernen, sich als eine Person aufzufassen, die sich von anderen unterscheidet und sich auch selbst unterscheiden will, die manches falsch macht und sich noch verändern muss, wenn sie vor sich selbst bestehen will. Ich habe noch bei Halbwüchsigen Probleme, sie gebildet zu nennen – es klingt einfach schief, selbst, wenn es sich um sehr intelligente junge Menschen mit großem Wissen handelt. Und so etwas wie „frühkindliche Bildung“ ist vollends Unsinn. Bildung setzt erst dann ein, wenn die Erziehung ein solides Fundament gelegt hat. Einen schlecht oder überhaupt nicht erzogenen Menschen wird man niemals gebildet nennen wollen. Umgekehrt ist ein gut erzogener Mensch nicht sogleich auch gebildet.
Bildung und Erziehung unterscheiden sich in noch zwei anderen Aspekten. Die Bildung zielt auf den ganzen Menschen, auf ihn als eine Totalität, erfasst also keinesfalls allein das Wissen dieser Person oder seine Fertigkeiten, sondern ganz selbstverständlich auch die Kleidung, die Bewegungen und das soziale Verhalten. Ist es überspitzt, wenn ich sage, dass sich schon am Betreten eines Raumes erkennen lässt, wie es um die Bildung eines Menschen steht? Die Erziehung dagegen gilt nicht dem Menschen als Ganzem, sondern in aller Regel einem einzelnen Vorgang oder einer isolierten Tätigkeit oder Fähigkeit. Außerdem vollzieht sich Bildung langsam, nicht schnell – das kann man schon dem Wort abhören! Sie findet niemals an ein Ende, so das sich irgendwann ein Mensch zurücklehnen und erklären darf, nun sei er gebildet, alles sei gut, in Zukunft werde er nicht mehr an sich arbeiten.
Der Angeber ist dagegen ungebildet. Er findet sich selbst grandios, Selbstkritik ist ihm fremd, und Reue oder Gewissensbisse kennt er nicht. Er „steht zu sich selbst“. Zu seinem Wortschatz gehören hochgestochene, gern modische Fremdwörter, und die „frühkindliche Bildung“ allemal, zusammen mit einigen anderen angeberischen Vokabeln wie zum Beispiel dem ärgerlichen „Paradigmenwechsel“, mit dem gewisse Politiker ihr hektisches Herumrudern bemänteln. Mal die Steuern rauf, am nächsten Tag wieder runter, und bereits das soll dann ein Paradigmenwechsel sein? Das hättet ihr wohl gern! Tatsächlich meint ja dieser Begriff Revolutionen der Wissenschaft, eingeleitet von Giganten wie Kopernikus oder Einstein, und die wenigsten Menschen bekommen es mit, wenn sich in ihrer Lebenszeit ein solcher Paradigmenwechsel vollzieht.
Aber hier soll es weniger um das angeberische Vokabular gehen als vielmehr um die Grammatik. Die kann nämlich auch angeberisch sein. Und um Schönheit geht es noch dazu, denn richtiges Sprechen und eine fehlerfreie Sprache sind nicht allein die Voraussetzung für sprachliche Schönheit, sondern bilden vielleicht sogar den Weg dorthin. Oder nicht? Bevor Karl Philipp Moritz zu Wort kommt – einer der großen Lehrer der deutschen Sprache –, mag man sich Dostojevskij anhören, der die Gegenposition vertritt, indem er die fehlerfreie, aber leblose Sprache einer Figur zum Anlass einer sehr negativen Charakterisierung nimmt. In seinen „Dämonen“ schildert er den Terroristen Pjotr Stepanowitsch Werchowenskij: „Seine Aussprache ist bewundernswert deutlich; seine Worte rieseln wie glatte größere Körnchen, die stets passend gewählt und stets gebrauchsfertig sind. Anfangs gefällt einem das, dann aber wird es einem widerlich, und zwar gerade wegen dieser zu deutlichen Aussprache und dieses Perlengeriesels stets bereiter Worte.“ Offensichtlich kann man nach der Ansicht eines der bedeutendsten Romanciers der Literaturgeschichte nicht trotz, sondern wegen der Fehlerlosigkeit der Sprache Anstoß erregen.
Hier aber geht es nicht um fehlerfreies Perlengeriesel, sondern um Wichtigtuerei. Deshalb eine sehr kleine und ziemlich willkürliche Auswahl von Fehlern, die die Sprache des Angebers auszeichnen. Beginnen wir mit dem Genitiv. Früher war er so gebräuchlich wie das Dativ-e („auf dem Felde der Ehre“), aber für lange Jahre fand er sich doch nur noch in der Sprache des Sportreporters, weshalb ich gerne vom Sportreporter-Genitiv spreche: „auf des Gegners Platz“. Aus unserem Alltag ist der Genitiv seit langem verschwunden, und die übergroße Mehrheit vermisst ihn auch nicht weiter. Nur eine Minderheit verwendet ihn gelegentlich, weil er als ein Zeichen für Bildung gilt und damit als ein Schmuck der Rede. Aber da kann man sich leider schwer vertun.
„Gegenüber des Landeshauses“, höre ich im Radio und frage mich, warum ein sprachlich sonst versierter Korrespondent derart verkehrt sprechen kann. Denn natürlich – das ist die Auskunft des „Deutschen Wörterbuchs“, aber doch auch das Sprachgefühl von eigentlich allen Muttersprachlern – denn natürlich handelt es sich bei „gegenüber“ um eine Präposition, die den Dativ fordert. Wohlgemerkt: fordert, denn die Präposition regiert den Kasus. Die „Fähigkeit bestimmter Wortarten (des Verbs, des Substantivs, des Adjektivs und der Präposition), Fälle zu ‚regieren‘, d.h. das von ihnen abhängige Wesen oder Ding in seiner besonderen Lage gegenüber dem Geschehen durch einen bestimmten Kasus zu kennzeichnen,“ so lese ich im „Duden“, diese Fähigkeit „nennt man ‚Rektion‘.“ Heißt es nicht im „Deutschen Wörterbuch“, „gegenüber“ sei eine Präposition, die zusammen mit dem Dativ verwendet werde? Und der Dativ ist, wie ich der Fachliteratur entnehme, „der Kasus des statischen Zustands oder der Lagebezeichnung, des Besitzers und des Empfängers.“ Bei einer reinen Lagebezeichnung wie „gegenüber“ muss also zwingend der Dativ verwendet werden. Selbstverständlich ist auch „gegenüber von“ (in diesem Fall „gegenüber vom Landeshaus“) erlaubt, und wie von selbst verwenden wir den Dativ. Der Genitiv dagegen ist hier verboten. Es ist die sprachliche Erziehung, die uns das sagt.
Ganz ähnlich „gemäß“, das laut „Deutschem Wörterbuch“ eine Präposition mit Dativ ist, nach der „einer Sache entsprechend […] gehandelt“ wird. Was also keinesfalls erlaubt sein kann, ist eine zuletzt häufig gehörte Formulierung wie „gemäß des Berichts“ – mir stellen sich hier die Nackenhaare auf, denn es ist grausam verkehrt, nicht etwa nur ein klein wenig falsch. Kaum schreibe ich, da höre ich im Radio, ein prominenter Politiker habe eine Aktion „gemaß des Berichts“ gefordert. Ähnlich ist diese Lesefrucht – „laut des Branchenportals“ – ein schrecklicher Fehler. Und es ist ein Fehler, den der Muttersprachler hört – niemand wird deshalb in einem Wörterbuch nachschlagen… Na gut, ich ja schon, um mich abzusichern, damit ich mich nicht lächerlich mache, indem ich Fehler moniere, die keine sind. Aber leider wird mein Gehör durch die Wörterbücher bestätigt.
Die Ironie bei allen diesen Beispielen besteht ja darin, dass die Autoren ein fehlerhaftes Deutsch sprechen oder schreiben, weil sie versuchen, besonders kultiviert zu erscheinen. Deshalb entscheiden sie sich für den Genitiv, den Kasus der Gebildeten. Nun wären es alle diese Fehler nicht wert, angesprochen zu werden, wenn sie nicht plötzlich massenhaft auftauchen und jeden, der nicht mehr als ein einigermaßen richtiges Deutsch hören möchte, ärgern oder sogar quälen würden. Niemand hat den charakterlosen Opportunismus der „Sudler“ besser beschrieben als der gewaltige Schopenhauer. Warum sich solche Fehler blitzartig ausbreiten? Weil „unsre nichtswürdigen Sprachverbesserer“ den „großen Troß von ihres Gleichen hinter sich haben“, weil diese dank ihrer Rückgratlosigkeit „sich beeilen, der Narrheit nachzueifern“.
Wirklich sind fast alle diese Fehler Massenphänomene. Kaum hat sich irgendjemand einen neuen und so schön auffallenden Unsinn ausgedacht, schon finden sich die Nachahmer in großer Zahl ein, und das, was Schopenhauer über die Autoren seiner Zeit schrieb, gilt ebenso für deren Kollegen in unserer Zeit: Dieses „Chorusmachen bei jedem neu erfundenen Schnitzer ist eben das Verächtlichste. Denn die blinde Nachahmerei ist überall der ächte Stämpel der Gemeinheit: der große Haufe, der Plebs, wird fast in allem seinem Thun ausschließlich durch Beispiel geleitet, und wird durch Nachahmung, wie das Automat durch Räder bewegt.“
Was Schopenhauer einforderte, war wenig genug und doch zu viel – es war nicht mehr als die Klarheit des Gedankens, gekleidet in gutes und richtiges Deutsch. Wenige Jahre, bevor er die Bühne trat, schrieb ein ähnlich begabter, aber anders als er friedlich gestimmter Autor Lehrbücher, in denen er gutes Deutsch lehrte: Karl Philipp Moritz (1756-1793), ein Freund Goethes, Autor des „Anton Reiser“ (1785/86), Herausgeber des „Magazins zur Erfahrungsseelenkunde“ und Verfasser einer Reihe von bis heute so lehrreichen wie lesenswerten Abhandlungen. Ein Sprachkritiker war er aber nicht, eher ein Lehrer. In dem „Versuch einer deutschen Prosodie“ (1786) und in den „Vorlesungen über den Styl“ (1793) finden wir seine Grundsätze, die angesichts seines sanftmütigen Charakters ohne jede Polemik vorgetragen werden. Vor allem ging es ihm um den Zusammenklang von sachlicher Richtigkeit und sprachlicher Schönheit: „Was wirklich schön gesagt seyn soll, muß auch vorher schön gedacht seyn; sonst ist es leerer Bombast und Wortgeklingel, das uns täuscht.“ Das ist ein Satz, den der grimmige Schopenhauer unterschrieben hätte, der eben diese Prinzipien „im elenden ‚Jetztzeit-Jargon der Litteratur“ bitter vermisste. („Jetztzeit“ ist auch so ein Angeberwort, das wir in die Tonne klopfen wollen, ähnlich wie „zeitnah“.)
Moritz lenkt unsere Aufmerksamkeit abschließend auf eine Unsitte, die in der geschriebenen Literatur keine Rolle spielt: die Betonung. In den zitierten Schriften und auch sonst hebt er die Sachlichkeit der deutschen Sprache hervor, in welcher der Akzent immer auf der sinngebenden Silbe liegt. Besonders die romanischen Sprachen kennen ganz andere Betonungsverhältnisse und neigen mit der funkelnden Vielfalt ihrer Vokale und den wechselnden Betonungen gelegentlich zum Sprachgeklingel. „Unsre Prosa“, so betont Moritz in seinem „Versuch einer deutschen Prosodie“ dagegen die wichtigste Eigenschaft des Deutschen, „hebt unter den bedeutenden die bedeutendste Silbe heraus“. Immer wird „auf der bedeutendsten Silbe die Stimme am längsten verweilen“, und eben deshalb ist unsere „Sprache […] eine vortreffliche Sprache für den Verstand“. Das ist wirklich wahr: Deutsch ist eine sehr sachliche Sprache, und sie ist es vor allem dank ihrer Betonung. Wenn wir also falsch betonen, dann zerstören wir ihre innere Logik.
Wenn jemand „notwendig“, „eindeutig“ oder „willkürlich“ auf der zweiten Silbe betont, nicht, wie sich das gehört, auf der ersten, dann schaudere ich, und mir fällt das Interview mit einer Tagesschau-Sprecherin ein, in dem sie von Karl-Heinz Köpke berichtete, dem langjährigen Chefsprecher dieser Institution. Einmal kam er ihr auf dem Flur entgegen und machte sie auf einige Fehler in ihrer Betonung aufmerksam. Sie hatte tatsächlich „notwéndig“ gesagt, und er beharrte auf „nótwendig“, um zu kommentieren: „Das hört sich auch viel schöner an.“ Oder hatte er „besser“ gesagt? Egal! Ob es sich besser oder schöner anhört, ist nicht wichtig, sondern es kommt nur darauf an, dass uns die natürliche, die richtige Betonung besser gefällt. Ihre Schönheit liegt in ihrer Richtigkeit! Das ist wirklich das entscheidende Argument. Man dient der Sprache, indem man ihre Regeln akzeptiert, und betont „notwendig“ auf der ersten Silbe, weil es die „Not“ ist, auf die es ankommt, nicht etwa auf die „Wendigkeit“.
Ganz ähnlich wie mit „notwendig“ und „willkürlich“ verhält es sich mit zwei anderen Vokabeln, mit „absichtlich“ und der „Rechtfertigung“. Kein Mensch sollte die „Absicht“ auf der zweiten Silbe betonen, weil es eben nicht auf das Sehen, also die Sicht, sondern auf den Ausdruck einer Intention ankommt. Wie kann man dann ein vom Substantiv abgeleiteten Adjektiv anders als dieses auf der zweiten Silbe betonen? Und die „Rechtfertigung“? Bei ihr geht es selbstverständlich nicht um die Fertigung, sondern um das Recht oder um die Verteidigung eines Verhaltens – deshalb wird der erste Teil des Wortes betont, das „Recht“, nicht etwa (was dann ja auch ziemlich albern klingt) die „Fertigung“. Was mir Sorge macht, ist, dass heute selbst gute Schauspieler falsches Deutsch reden und „einmalig“ und „eindeutig“ auf der zweiten Silbe betonen – das sollten sie besser bleiben lassen, sondern sich vielmehr um vernünftiges Bühnendeutsch bemühen, nicht aber in das Kauderwelsch aus der Zeitung oder von der Straße fallen.
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Buchumschlag
Barbara Niggl Radloff: Heimito von Doderer [Anzug, von oben], Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie, Archiv Barbara Niggl Radloff (FM-2019/1.6.4.11), 1959. CC BY-SA 4.0
Karl Philipp Moritz, Gemälde von Karl Franz Jacob Heinrich Schumann, 1791, Gleimhaus Halberstadt. Gemeinfrei
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