„Die größte Achtung, die ein Autor für sein Publikum haben kann, ist, daß er niemals bringt, was man erwartet, sondern was er selbst auf der jedesmaligen Stufe eigner und fremder Bildung für recht und nützlich hält.“ (Goethe: Maximen und Reflexionen)
Lothar Müller-Güldemeister macht keine Fisimatenten. Weder in seinen in summa trefflichen Amazon-Kritiken noch in seinem Roman „Uhland-Gymnasium“. Auf den ich überhaupt bloß aufmerksam geworden bin, weil ich der bei Amazon geführten Intensivdiskussion um Lutz Seilers preisgekrönten Kruso gefolgt bin. Endlich mal einer, der an der tiefsinnig sein sollenden Wortdrechselei von Erfolgsautoren überaus kenntnisreich Kritik übt, die mit ihrem gekünstelten Wortrausch von der offiziellen Literaturkritik nicht zuletzt ihrer political correctness wegen gelobhudelt werden.
Keine Frage, eine interessante, sprachlich hochversierte Gegenkultur schafft sich hier Gehör. Denn, wie wiederum Goethe angemerkt hat, „nur der Pedant fordert überall Autorität“. Und apropos Gegenkultur: Ich mutmaße, der Ausnahmeautor Wolfgang Herrndorf, der sich selbst lediglich „für einen Behelfsschriftsteller“ gehalten hat (aus dem allerdings mit dem Titel Arbeit und Struktur eine dezent irreführende Fährte legenden ‚Sterbetagebuch‘, S. 115), hätte seine helle Freude an den pfiffigen Attacken dieser unverbildeten Nicht-Profis gehabt. Denn: „Ein großer Fehler: daß man sich mehr dünkt, als man ist, und sich weniger schätzt, als man wert ist.“ (Betrachtungen im Sinne der Wanderer)
Der nächste Fehler: „Trying to replicate what you think the people want you to do. Replicating is never the way to convince people that you know what you're doing.” (Hilary Hahn) Zu deutsch: Ein Plädoyer wider die sich anbiedernde Gefallsucht all derer, die sich nach irgendeiner Decke strecken. Das überzeugt ohnehin stets bloß die Falschen. Oder auch so: „sagt der Künstler: aber wenn mein Werk gefällt oder Vergnügen erweckt, so habe ich doch meinen Zweck erreicht; so antworte ich: umgekehrt! Weil du deinen Zweck erreicht hast, so gefällt dein Werk, oder daß dein Werk gefällt, kann vielleicht ein Zeichen sein, daß du deinen Zweck in dem Werke selbst erreicht hast.“ (Karl Philipp Moritz)
Nicht bloß Literaturkritik setzt den Willen, vor allem aber die als selbstverständlich zu unterstellende Fähigkeit voraus, sich auf das Dargebotene einlassen zu können. Man muss bereit dazu sein, sich mit Haut und Haaren einfangen und verschlingen zu lassen, abzutauchen und sich selbst über diesem Sich-Verlieren zu vergessen, indem man sich in dem wiederfindet, für das man ein Sensorium, einen fein ausgebildeten Sinn mitbringen muss. Der ist unverzichtbar und die Grundvoraussetzung, um Schund, Wegwerfprodukte von tatsächlich Gelungenem unterscheiden zu können.
Nein, nicht zu unterscheiden, denn das setzt voraus, dass man über dieses vorbehaltlose Sich-Hineinleben auch noch Kenner ist, der begründen, begreiflich machen kann, weshalb dieser unerbittliche Zwang von dem jeweiligen Kunstprodukt ausgeht. „Gemüt wird über Geist gesetzt, Naturell über Kunst, und so ist der Fähige wie der Unfähige gewonnen. Gemüt hat jedermann, Naturell mehrere; der Geist ist selten, die Kunst ist schwer.“ (Goethe: Letzte Kunstausstellung 1805)
Nichtsdestotrotz gilt, dass, auch ohne über diese quasi wissenschaftlichen Kenntnisse zu verfügen, es einem in diesem Sinne Uneingeweihten möglich ist, das Wesen, die Essenz dessen zu erspüren, was er, ohne jeden mentalen Vorbehalt, ohne jedes der Zerstreutheit geschuldete geistige Abdriften, hat auf sich wirken lassen. So jemand kann zwar ganz gewiss nicht begründen, was das Gelesene oder Gehörte zu einem unerhörten Ereignis macht, und vor dem unerbittlichen Urteil des Fachmannes hält das mehr emotional grundierte Bekenntnis ganz sicher nicht stand. Dennoch merkt man dem, der sich, einen Glanz in den Augen, im verzweifelten Bemühen, seine Begeisterung in Worte zu fassen, die ihm immer wieder nicht zu Gebote stehen, an, dass es für ihn ums Ganze geht, dass er in gierigem Ringen das auszudrücken versucht, was ihn bis ins Innerste berührt hat.
„Ich bin Schriftsteller, und man wird nicht glauben, dass Literatur mich sonst kaltgelassen hätte. Aber was jetzt zurückkehrt beim Lesen, ist das Gefühl, das ich zuletzt in der Kindheit und Pubertät regelmäßig und danach nur noch sehr sporadisch und nur bei wenigen Büchern hatte: dass man teilhat an einem Dasein und an Menschen und am Bewusstsein von Menschen, an etwas, worüber man sonst im Leben etwas zu erfahren nicht viel Gelegenheit hat, selbst, um ehrlich zu sein, in Gesprächen mit Freunden nur selten und noch seltener in Filmen, und dass es einen Unterschied gibt zwischen Kunst und Scheiße. Einen Unterschied zwischen dem existenziellen Trost einer großen Erzählung und dem Müll, von dem ich zuletzt eindeutig zu viel gelesen habe, eine Unterscheidung, die mir nie fremd war, aber unter Gewohnheit und Understatement lange verschüttet.“ (Wolfgang Herrndorf, a.a.O. S. 104)
Uhland-Gymnasium, und damit zurück zum Ausgangspunkt, ist in seinem permanenten Wechsel der Zeitebenen trotz allem glasklar strukturiert. Nie kommt Langeweile auf. Denn sowohl die hoch-dramatischen Vorkommnisse von anno dunnemals, als auch diejenigen, die sich 39 Jahre später ereignen, haben ihre jeweilige ungebrochene Eigendynamik, die die Neugier des Lesers permanent wach- und hochhält. Dass die Sprache bei aller Klar- und Schlichtheit nie ihre literarische Höhe einbüßt, versteht sich. Figuren ganz viel Leben einzuhauchen, sie nuanciert und differenziert zu zeichnen, setzt voraus, dass man zum einen über ein gerütteltes Maß an Sensibilität verfügt, die in Worte zu fassen einem freilich bloß dann gelingt, wenn, zum anderen, das Schreiben, wie hier, so spielerisch leicht von der Hand geht (oder zu gehen scheint), als ob sich die Geschichte von selbst und aus sich heraus erzählen würde. ‚Schlank und leicht wie aus dem Nichts entsprungen steht das Bild vor dem entzückten Blick.‘ Oder so ähnlich...
Und exakt diesen Eindruck hatte ich bei der Lektüre dieses Romans, der mich alles um mich herum vergessen ließ. Danke für ein paar Stündchen des Abtauchens! Ich werde das Buch in meinem Freundeskreis weiterempfehlen.
Lothar Müller-Güldemeister: „Uhland-Gymnasium“
Klöpfer & Meyer Verlag, Tübingen 2013
Roman, ca. 320 Seiten
ISBN: 978-386351-052-7
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