Der ewige Schachspieler
Nach dem Ausflug nach Täby (Schweden) setzte ich mich, von den vielen Eindrücken ermattet, in eine der vielen verschwiegenen Ecken, die mir die ungeheuerliche Bibliothek von Rolf Littorin (R.L. 1923-2015) bot, und studierte eine kleine Broschüre über die örtliche Kirche, die wir besichtigt hatten. Einem gewissen Albertus Pictor wurde das ebenso ungelenke wie anziehende Bild von Ritter und Tod zugeschrieben, die miteinander Schach spielten, und R.L. wollte ja zu gerne wissen, warum seit der Restaurierung das furchtbare Wort, das der Tod zu dem Ritter sprach, fehlte. „Ich setze dich matt!“, drohte der Tod dem Jüngling. Die These, dem Gemeinderat sei die Farbe für die Inschrift zu teuer gewesen, wollten wir einerseits nicht ganz unwahrscheinlich, andererseits aber doch ein wenig zu profan finden.
Die Broschüre bot mir nicht viel, und so schweiften meine Blicke über die Buchreihen. In meinem Rücken zogen sich die Reihen der Enzyklopädien hin, und weiter links fand sich seine Sammlung zum Thema Schach. Dort die Eröffnungsbücher, die R.L. so wenig liebte, hier, bereits wesentlich interessanter, die Partiesammlungen großer Meister der Vergangenheit und Turnierbücher aus Karlsbad oder New York, endlich allerlei Kunsthistorisches, Abgelegenes und Verstiegenes in den verschiedensten Sprachen. Im Hintergrund der prachtvolle Teppich der Schachgesellschaft Stockholm. Noch ein Blick auf die Hausdächer Stockholms, auf die aufsitzenden Schornsteine und Antennen, die blitzenden Regenrinnen und den wegen seiner dunklen Ziegel so norddeutsch anmutenden Turm der Engelbrektskyrka, und dann fielen mir die Augen zu, und ich nickte, von Tausenden von Büchern bewacht, ein.
Erst am späten Nachmittag wachte ich auf. Müde schlurfte ich zum Wohnzimmer, wo ich aber zu meinem Erstaunen nicht den Hausherrn antraf, sondern einen schlappen Hippie mit Pagenkopf, eine magere, seltsam nervöse und abgelenkte Gestalt, die mich, bereits mit den Figuren hantierend, stumm zu einer Partie aufforderte. Was für ein merkwürdiger Vogel! Der Fremde hatte eines der älteren Schachspiele aus irgendeinem Schrank geräubert, einen Figurensatz mit roten und weißen Steinen, und überließ mir ungefragt den Anzug.
Ich war schlaftrunken und beileibe kein starker Spieler, und doch gewann ich leicht. Was waren das für elementare Fehler, die dieser Mensch beging! Schon bald konnte ich in aller Ruhe seine Stellung schleifen. Manchmal hob sich sein Blick, in dem so etwas wie Bewunderung schwang – aber doch nicht für mich, mein Freund!, ich bin ein furchtbarer Dilettant! –, dann brütete der magere Mensch wieder verdrossen über der Partie, die er nicht aufgeben mochte, so hoffnungslos sie auch stand. Tatsächlich musste ich ihn mattsetzen.
Fast tat er mir leid, so traurig sackte er nach der Niederlage zusammen. Er drehte stumm das Brett und zog d4. Es vollzog sich das nämliche Drama, nur schneller, denn schon mit dem elften oder zwölften Zug verlor er die Dame, was ihn aber keineswegs zur Aufgabe bewog. Bis zum Matt dehne sich ein weiteres Mal die Partie, die mir wahrhaftig keine Freude bereitete. „Danke, mein Freund!“ Auf meine Anrede reagierte er mit einem leisen Lächeln, doch schien mir, dass in seinen Augen die Tränen glitzerten. „Wer bist du?“ fragte ich.
„Albert, der Maler.“
Albert? Verwundert betrachtete ich die traurige Gestalt. Offenbar ein vom Wahn gebeutelter… „Du kannst mir sicher erklären“, versuchte ich es mit Humor, „warum heute das Spruchband leer ist und der Tod nicht mehr ‚Ich setze dich matt‘ zu seinem Gegner sagt.“
Wandfresken von Albertus Pictor in der Kirche von Täby. Foto: gemeinfrei
„Das kann ich dir gerne sagen“, nickte er. „Nicht der Tod hat es zum Ritter gesprochen, sondern der Maler Albert zum Tod, dem er ein Schnippchen schlagen wollte. Meister Tod hat mich gestraft. Er verlor – vielleicht absichtlich – und lässt mich seitdem ruhelos die Welt durchwandern, bis ich wenigstens eine einzige Schachpartie gegen einen lebenden Menschen gewinne. Dann endlich darf ich mich betten. Ich habe vor einigen Jahren erst die Inschrift gelöscht, um seinen Zorn zu besänftigen, aber er besteht auf seiner Forderung. Einmal muss ich gewinnen. Und glaube mir, ich finde so selten Gelegenheit, eine Partie zu spielen, und bin ein so schwacher Spieler, dass ich wohl noch ewig diese Welt durchwandern muss…
Links: Deckenfresko von Albertus Pictor in Täby: ein Mann spielt mich dem Tod Schach. Foto: privat. Rechts: Tarrasch in der Schacksällskap, Stockholm Foto: Stefan Diebitz
Es überlief mich. Erst wollte ich einen Scherz machen und ihn auffordern, entweder die „Unsterbliche“ des großen Andersen zu studieren, um seine Taktik ein wenig zu schulen, oder gleich in meinen Verein einzuladen, dort werde der erste Sieg nicht lange auf sich warten lassen. Aber als ich die hoffnungslose Gestalt dort vor mir sah, müde und gebeugt, allem Anschein nach jung und dennoch schon uralt, da erstarb mir mein Scherz auf den Lippen. „Du musst zwei oder drei Grundlagenwerke durcharbeiten,“ empfahl ich Albert und führte ihn zum Lehrbuch schlechthin, dem „Schachspiel“ des großen Siegbert Tarrasch, setzte mich selbst neben ihn und schaute zu, wie er fahrig in der schönen Ausgabe zu blättern begann. Schon bald schlief ich wieder ein, und als ich erneute erwachte, da fand ich nur noch R.L., der an seinem Schreibtisch arbeitete.
Ich wollte schon an einen besonders lebhaften Traum glauben, da fiel mein Blick auf das Mattbild unserer zweiten Partie.
Der unheimliche Organist
Halbzeit in unserem Turnier, und wir waren alle froh, dass es einen freien Tag für einen Ausflug gab. Endlich ruhte Tarraschs strenger Blick nicht mehr auf den Ruinen meiner Stellung… Wie oft hatte ich in den Räumen der Stockholmer Schachgesellschaft nicht schon nach ihm geblickt und war seiner unnachsichtigen Oberlehrermiene begegnet! Heute also blieb mir sein stummer Tadel erspart. Nach einer vormittäglichen Bootstour auf dem heiteren Mälaren führte der Turnierdirektor seine kleine Gruppe in die wenige Kilometer nördlich von Stockholm gelegene, eine von außen ganz unscheinbare, mittelalterliche Kirche von Täby, die uns mit ihren schönen Gewölbefresken überraschte. Die meist mattgrünen oder braunen, sehr lebhaften Bilder wurden durch schöne ornamentale Streifen auf den Gewölberippen voneinander getrennt.
Aber natürlich wurden wir Schachspieler nicht frommer Fresken wegen in die Kirche geführt. Uns erwartete der Organist, ein bleicher und langhaariger, dabei nicht junger Mensch, der sich eines gewissen Rufs als Komponist eines Requiems erfreute und für die meisten von uns viel zu schnell sprach. In seinem Verhalten lag eine eigenartige Rücksichtslosigkeit. Er führte uns eine schmale Treppe hinauf und zu einem groben, ungelenk ausgeführten Bild, auf dem ein Ritter und der Tod nebeneinander vor einem Schachbrett standen. Über den Figuren konnte man ein leeres Spruchband erkennen, als habe jemand einen kurzen Satz, den der Tod oder der Schachspieler gesagt habe, ausgelöscht. An diesem Bild war, angefangen mit dem viel zu langen rechten Arm des Todes, alles verkehrt, und dennoch ging ein eigenartiger Zauber von ihm aus, und es überlief mich eiskalt, als ich auf der schmalen Stiege stand und zu Tod und Schachspieler hinaufstarrte.
„Natürlich gibt es eine Geschichte zu diesem Bild!“, begann großartig der Organist und fuchtelte mit seinen Händen von der Größe einer mittleren Totengräberschaufel. Er schien sich endlich entschlossen zu haben, etwas langsamer zu sprechen, aber grinste in seinen Sprechpausen auf das Schauderhafteste. „Angeblich stellt es in dem Ritter einen Grafen dar, berüchtigt für seine grausame Gerichtspraxis wie für seine Liebe zum Schach. Er soll Mördern und Dieben die Gelegenheit gegeben haben, um ihr Leben zu spielen, aber weil er ein geübter Spieler war, die Todeskandidaten aber des Spieles unkundig, war dieses Angebot nur die heimtückische Verzögerung der Hinrichtung. Er dünkte sich unbesiegbar und setzte deshalb regelmäßig sein eigenes Leben als Pfand. Alle seine Gegner sahen sich am Ende der Partie in einen Baum geknüpft, auf einen Pfahl gesetzt oder auf ein Rad geflochten. Und wofür? Mancher hatte doch nur einen Apfel auf dem Markt gestohlen.“ Auch an dieser Stelle grinste der Erzähler, als heiße er das verruchte Tun des Grafen gut. „Und so ein kleiner Dieb ward eines Tages von dem Vogt auf den Hof geführt, mit leichter Hand zum Rad verurteilt und zum Schachspiel aufgefordert. ‚Es geht auch um mein Leben!‘, soll der Graf, wie wohl immer, vor der Partie gesagt haben, aber spielte er gegen den furchtbaren Tod, der ihn leicht besiegte, wonach sich der Ritter vom Bergfried in die Tiefe stürzte… Nach dem nächtlichen Gottesdienst entdeckte der Küstner das Bild, und seitdem dient es als Mahnung, etwas menschlicher zu urteilen.“
„Und das Spruchband?“, fragte ein junger Russe auf Englisch.
„Jak spelar tyk mat!“ („‘Ich setze dich matt!‘), stand dort einmal, aber bei der Restaurierung ist es verlorengegangen.“ Der Organist warf sein schütteres langes Haar zurück, als empöre ihn die Neugier des Fragestellers.
Blick auf den Altarraum der Kirche von Täby. Foto: gemeinfrei
„Das ist nicht wahr!“, raunte mir ein älterer Herr zu. „Oben auf der Empore spielen regelmäßig der Gemeindepastor und er gegeneinander, und einer von ihnen löschte das Spruchband, weil es ihn an seine eigenen Niederlagen erinnerte. Wahrscheinlich der Pastor; er klimmt hier die Stiege hinauf und muss immer den Tod begrüßen. Übrigens erzählt man sich, einer der Vorgänger des Pastors habe sich über einen Einsteller – er soll einen Läufer für nichts gegeben haben – dermaßen erregt, dass er über die Balustrade in die Tiefe stürzte – just wie damals der Ritter. Vielleicht war es sogar derselbe Gegner.“
Und wir starrten, während es uns kalt überlief, auf den Organisten mit dem langen Haar und den Schaufelhänden, der uns auf die Empore hinaufführte, um von dort aus die Fresken zu erläutern. Wieder sprach er viel zu schnell, als dränge ihn die Zeit.
Eine Begegnung im schwedischen Täby
Ein glutheißer Tag! Die Luft stand heiß und schwer über dem Land, als ich von Norden her auf Stockholm zufuhr und rechts des Weges eine kleine, unscheinbare Kirche liegen sah. Für Radwanderer sind Kirchen und Friedhöfe die besten Rastplätze, denn sie bieten Bänke unter Bäumen, auf denen man sitzen, und Wasser, mit dem man sich säubern und erfrischen kann. Nur trinken darf man Friedhofswasser nicht, denn es ist meist vom Leichengift verseucht. Nachdem ich meine Arme und mein Gesicht gewaschen hatte, ließ ich mein Rad am Brunnen stehen und ging, ganz reisender Enthusiast, in die Kirche hinein.
Und stand, nachdem ich die kleine Vorhalle durchquert, wie verzaubert unter den Gewölben über dem Altar. Ein Bild schloss sich an das andere an, nur durch die bunt verzierten Rippen getrennt. Mir, der ich ein Laie bin, schienen die Fresken spätmittelalterlich. Sie waren in matten Farben – Braun und Dunkelgrün dominierten – auf den hellen Kalk gemalt. Die Spruchbänder – war es Latein oder Schwedisch? Ich konnte es von unten kaum entziffern, geschweige denn lesen. Ah! Dort stand ein „ira die“ neben einem Untier, das eben ein Kind verschlang. Wahrscheinlich erregte sich Gott über den Hochmut eines Erdenwurmes… Da hatte es jemand gewagt, den Weltenschöpfer herauszufordern, und schon sah sich sein unschuldiges Kind geopfert, und der arme Sünder rang die Hände vor einem Heiligen (einem Bischof?) mit einer Mitra in den Händen.
Den Kopf in den Nacken gelegt, ging ich langsam durch das Kirchlein. Was scherten mich Altar oder Fensterbilder? Heute kann ich mich kaum an sie erinnern, so wenig wie an das Äußere der Kirche, denn ich achtete doch allein auf die Fresken.
Endlich setzte ich mich, des Hinaufstarrens müde, in eine Bank – und blickte überrascht in das Gesicht einer älteren Dame. Sie musste einmal sehr schön gewesen sein, denn ihr freundliches Gesicht war so fein gezeichnet, und die Augen schauten mich klar und offen an. Durch das blonde Haar zogen sich weiße Strähnen.
„Um das bedeutendste Bild“ – sie schien zu spüren, dass ich ein Ausländer war, und sprach langsam und deutlich in der singenden Art der Schweden – „zu finden, musst du die Treppe unter der Empore emporgehen! Nur einmal um die Ecke, dann schon siehst du es rechts über dir. Das Gitter ist nicht abgeschlossen, und einen Lichtschalter gibt es dort auch.“
Ich ging hinauf, schob die schmiedeeiserne Tür beiseite, fand auch den Schalter und sah endlich ein grobes Bild, auf dem der Tod und ein Ritter vor einem Schachbrett standen. Wirklich ein Machwerk, eine schreckliche Stümperei, längst nicht so schön wie die Gewölbemalereien, dazu das Brett ganz verkehrt – und doch ging ein eigenartiger Zauber von allem aus, und ich stand minutenlang auf der Treppe, um es zu betrachten. Ein Spruchband über den beiden krummen und unschönen Figuren war eigenartigerweise leer, als habe jemand die Inschrift gelöscht.
Unten fragte ich die Dame, was es mit dem Bild auf sich habe und ob man wisse, was in dem Spruchband stand.
Sie nickte. „Man weiß es. Es ist eine sehr alte Geschichte. Im 14. Jahrhundert gab es es hier einen Ritter, der vom Schachspiel besessen war. Täglich brütete er über dem Brett und forderte jeden, der des Weges kam, zu einer Partie heraus. Er war ein sehr starker Spieler, der jede Ablenkung ausblenden konnte, und gewann jede Partie. Endlich kam er auf einen bösen Gedanken. Weil er einen gleichwertigen Gegner suchte, bot er dem seine älteste Tochter als Preis, der ihn im Schachspiel schlüge. Von weither kamen die jungen Männer, ein Ritter nach dem anderen klopfte an das Tor, setzte sich ans Brett und verlor, und das Mädchen ward älter und älter. Immer seltener bemühte sich ein Ritter um sie, bis endlich, an einem ganz stillen, sehr heißen Tag, an dem die Luft auf dem Land lastete wie ein Federbett auf einem Fieberkranken, ein bleicher, unentwegt lächelnder Mann an die Tür klopfte und um das Recht bat, gegen den Ritter spielen zu dürfen. Das Mädchen sah er mit einem seltsamen Lächeln an, als er ihrem Vater in den Turm folgte. Dort spielten sie, und der Ritter verlor. Es war der Tod, der ihn schlug und das Mädchen mit sich nahm. Entseelt lag sie auf dem Sattel des Packpferdes, als er lächelnd die Burg wieder verließ. Der Ritter aber stürzte sich in sein Schwert.“
Die Dame blickte mit einem eigenartigen Ausdruck in den Augen ins Leere. „Und die Inschrift?“, fragte ich schüchtern.
Wandfresken von Albertus Pictor in der Kirche von Floda (Schweden)
„Die Inschrift…“ Sie nickte versonnen. „Der Tod selbst muss das Bild gemalt haben, denn Albertus Pictor, dem es sonst zugeschrieben wird, war ein großer Meister – er hätte es sich nicht leisten können, eine derart elende Arbeit abzugeben. Am Tag, als die Messe für Ritter und Mädchen gelesen wurde, fand sich das Bild an der Stelle, an der du es gesehen hast. Über der Familie lag aber seither ein Fluch. Nie fand die älteste Tochter einen Mann, eine jede starb vor ihrer Zeit, keine heiratete und gebar Kinder. Es ist meine Familie, weißt du“, flüsterte sie fast unhörbar, „und auch ich bin die älteste Tochter meiner Eltern. Und damit ich nicht dasselbe Schicksal auf mich nehmen musste, damit nicht alle jungen Männer vor mir gewarnt wurden, löschte ich eines Nachts die Inschrift. Dort stand ‚Ich setze dich matt.‘ Es war ein furchtbares Wort, das nicht dem Spieler galt, sondern einem unschuldigen Mädchen, und seitdem es fehlt, ist der Fluch von unserer Familie genommen. Längst bin ich Großmutter.“
Diese drei Geschichten schrieb der Autor Stefan Diebitz 1993 unter dem Eindruck, den die Fresken der Kirche von Täby auf ihn machten, und widmete sie Rolf Littorin (1923-2015) als Zeichen seiner Dankbarkeit und der langjährigen Freundschaft.
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