Meinung

Das Prinzip Hoffnung, 1959 im Suhrkamp Verlag erschienen, ist seitdem unzählige Male zitiert und, so viel steht fest, mindestens – ich scherze – genauso häufig nicht gelesen worden. Und ganz bestimmt nicht zur Gänze. Gemeinhin haben Interessiert-Desinteressierte – vor allem Fußball- und Sportkommentatoren und die Tendenzkundigen der Vierten Gewalt – lediglich etwas von dem Titel dieses gut Eintausendsechshundertseitenwälzers – in der dreibändigen stw-Taschenbuchausgabe – läuten gehört. Aber selbst Studenten – generisches Masculinum! – sind vermutlich in Seminaren nur ganz am Rande von der antizipierenden Gedanken- und Tatwelt dieses Schmökers gestreift worden.

 

Jedenfalls im Laufe der letzten vierzig Jahre. Denn noch bis weit in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts war das Magnum Opus des knorrigen Pfeifenrauchers – genauso wie Der eindimensionale Mensch Herbert Marcuses, die Negative Dialektik Theodor Wiesengrund Adornos und Georg Lukács‘ Geschichte und Klassenbewußtsein, um nur die wichtigsten Werke zu nennen – fast schon so etwas wie eine Pflichtlektüre für die von der Nachachtundsechzigerzeit tangierte studentische Jugend. Zu der auch ich gehört habe.

 

Trotzdem, ich bin mir ziemlich sicher, dass auch der damalige akademische Nachwuchs sich in der Regel nur an ausgewählten Passagen dieses Riesenwälzers unter kundiger Aufsicht der Professorenschaft gedanklich zu schaffen gemacht hat. Was wirklich schade ist oder wäre, denn diese weitläufige Arbeit ist, lässt man sich auf sie ein, weit mehr als ein das Angesicht und den Kopf ausbleichender Ernst; es ist eine Freude und mehr als das. Denn, jedenfalls mir ist es während der erneuten Lektüre so gegangen, beim eifrigen Studieren dieses Werkes des bohrenden Ungenügens und voll des jugendlichen Sturms und Drangs, das, der Kontrapunkt, gleichzeitig und darüber hinaus ein Werk geschultester und fundiertester Um- und Weitsicht ist, wird man von einer ungeheuren Unruhe gepackt, jetzt und sofort Hand anzulegen zum Zwecke einer grundlegenden Beiseiteschaffung von all dem Misslichen, das Tag für Tag und täglich mehr auf diesem Globus an Scheußlichkeiten und Widerwärtigkeiten passiert. Der Denker des ontologischen Noch-nicht-Seins in all seinen auch und vor allem historisch grundierten Variationen und der Docta Spes macht dem Leser Feuer unter dem Hintern des Sinnes, sich aufzulehnen gegen all das institutionalisierte tägliche Ungemach, an das man sich auf keinen Fall gewöhnen und/oder sich an es, zum eigenen Schaden, akkommodieren sollte. Auf dass es endlich human und unentfremdet zugehe unter den Bewohnern des Planeten und der, unter der Ägide des alles verheerenden Kapitalismus – wovon die Fridays for Future-Bewegung etwas zu ahnen scheint – inzwischen fast gänzlich zu Schanden gewordenen Natur.

 

Ernst Bloch Prinzip Hoffnung COVEROder kurz: Das Prinzip Hoffnung mit seinen fünf Teilen ist und versteht sich als ein von Grund auf revolutionäres Werk, indem es dazu anleiten will, die Dinge, die im Argen liegen, theoretisch-praktisch an der Wurzel anzupacken. Und der Leser – ein letztes Mal: generisches Masculinum – der das im zunehmend atemlosen Lesen begreift, verspürt den unwiderstehlichen Drang, die Verhältnisse umzustoßen, in denen der Mensch ein geknechtetes, entfremdetes, in den Staub getretenes Wesen ist, wie es von dem ständigen gedanklichen Referenzpunkt Blochs – die Rede ist, horribile dictu, von Karl Marx – so oder so ähnlich formuliert worden ist. Dabei gilt: „Das Anliegen des Marxismus, das in ihm Intendierte wie das durch ihn zu Prozessierende wird durch seine gekommene faktische Entstellung so wenig ‚widerlegt‘, daß diese Entstellung selber ja nur durch marxistische Analyse genuin zu begreifen ist und vor allem nur vom marxistischen Tendenz-Postulat her (eines ‚Übergangs vom Reich der Notwendigkeit in ein Reich der Freiheit‘) in Grund und Boden zu kritisieren ist, also immanent.“ (Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie 2, es, 1972, S. 32) – Eines jedenfalls ist Blochs tendenzkundige und weit ausholende Fronterkundung des Neuen im unabgegoltenen (Nicht-) Alten ganz sicher nicht: eine selbstreferentiell-beharrende „Professorenphilosophie der Philosophieprofessoren“ (Schopenhauer).

 

In diesem nunmehr in Angriff genommenen Mehrteiler sollen, in Anlehnung an den Titel eines spurensuchenden Buches von Bloch selbst, der gedanklichen Verarbeitung werte Spuren vergegenwärtigt werden. Also – im Prinzip – wenn nicht beliebig vermehrbare, so doch stets der weiterdenkenden Ergänzung bedürftige und zuzuführende Spurenfragmente dem denkfreudigen Nachdenken anempfohlen werden. Oder jedenfalls ein Teil derjenigen gedanklichen Kraftzentren, die mir bei der Lektüre eines gut Teils zu Aha-Momenten verholfen, heißt, zu blitzartigem und nicht selten enthusiastisch stimmendem Begreifen geführt haben. Denn es wird in dieser Reihe – begonnen ist der Weg, vollende (!) die Reise – über das grundlegende Werk über die Hoffnung auch noch und darüber hinaus einiger anderer Spuren im Werk des gelehrt-belehrten Vordenkers dessen, was als in Möglichkeit Seiendes nach Möglichkeit als zu Realisierendes in Angriff genommen werden soll(te), gedacht werden. In Anlehnung an das allerdings tiefgläubige omnia ubique des Vinzenz von Lérins. Wobei allerdings, als Warnung vor der „rasenden Vernunft“ (Kant) eines wahllos-bestimmungslosen oder transzendent-transzendierenden All und Überall, diese beherzigenswerte Einsicht Senecas zu ergänzen ist: Nusquam est, qui ubique est. „Nirgends ist, wer überall ist.“ Was auch auf das personifizierte, in und ob seiner Abstraktheit bestimmungslos-leere höchste Gut – das – ein verschwimmend-verschwommener Nebelhauch, wenn überhaupt … – irgendwohin, aber jedenfalls nicht unter die jeweils unter bestimmten und exakt zu bestimmenden Verhältnissen lebenden und zu leben gezwungenen Menschen imaginiert worden ist und wird – zutreffen sollte…

 

Der grundlegende Zweite Teil, Das antizipierende Bewusstsein überschrieben, ist nach Bloch der an den Leser die größten gedanklichen Anforderungen stellende. Dabei verhält es sich so, dass Bloch es dem Leser, gar nicht so viel anders wie Kant, in dem Sinne leicht macht, dass er – ein Variieren des grundlegenden Themas der gelehrten Hoffnung – auch die Redundanz nicht scheut. Denn: „Eine Enzyklopädie der Hoffnungen enthält öfter Wiederholungen, doch nirgends Überschneidungen (weil sie in der variantenreichen Vielheit stets die systematische Einheit intendiert, bzw. aus der Identität des Grundthemas sich die besonderen Seiten und Implikationen des Zugrundeliegenden entwickeln lässt; denn ja: Das Prinzip Hoffnung ist und versteht sich als das – paradoxe – System der Ontologie des Noch-Nicht-Seins und zwar, seines systematischen Anspruchs zum Trotz, als eines – so geht Ironie – in seinem Seinscharakter im Fluss befindlichen real-ontologischen Systems. F.-P.H.), und was erstere angeht, so gilt hier Voltaires Satz, er werde sich so oft wiederholen, bis man ihn verstanden habe.“ (Das Prinzip Hoffnung, 1, S. 16)

 

Hoffnung ist nicht dasselbe wie Zuversicht. Weil der Hoffende um die Gefahr des Scheiterns weiß. Das gerade macht ja das Gelehrte an der Hoffnung aus, dass sie Tendenzen und Latenzen im Realverlauf des Geschehens zu erfassen und entsprechend ihr Verhalten darauf einzustellen vermag. Also dem Geschehen in ihrem Begreifen nicht hilflos ausgeliefert ist, sondern im denkend-erkennenden Gefasstsein dem womöglich Verheerenden im Anrückenden praktisch auszuweichen oder ihm Einhalt zu gebieten vermag. Sich ihm auf gar keinen Fall besinnungslos-unkritisch in die Arme wirft. Blochs aufs praktische Eingreifen zielende Grundposition ist folgerichtig das genaue Gegenteil von Heideggers angstbereiter vorlaufender Todesentschlossenheit mit all ihren politisch-(rechts-) radikalen Implikationen. Das „sogenannte existentielle Denken, das heute so nichtig verfaulte, (fing) bei Augustin mit den hochemotionalen ‚Confessiones‘ an. (…) Nicht grundlos endlich reicht von hier aus eine Art blutrünstig gewordenes und ebenso stockendes Existere bis in Heideggers animalisch-kleinbürgerliche Erlebnisphänomenologie herab, bis zu dessen ‚Grundbefindlichkeit‘ Angst und der sich anschließenden Sorge; und diese ‚existentiellen Modi‘ sollen sogar besonders ‚fundamentale‘ Erschließungen gewähren, eben das Existieren selbst betreffende.“ (A.a.O., S. 79)

 

Dieser dem Nichts, der absoluten Negation verschworenen vorlaufende Entschlossenheit kontrastiert eine, die, ins Individuelle gewandt, ein positiv-einlösendes Wollen um eines zu Vollendenden willen, also ein Gelingen, intendiert, das sich durch die Gefahr des Scheiterns nicht von ihrem einmal eingeschlagenen Weg abbringen lässt. „Doch wer an einen Stern gebunden ist, sagt Lionardo, kehrt nicht um, und die Moral der Produktivität bewährt sich daran, alles Angefachte zu vollenden, die Kontur des vorschwebenden Inhalts rein und gefaßt an den Tag zu bringen. Wie erst, wenn Jugend, Zeitwende und Produktivität zugleich in glücklich angetretenen Begabungen zusammenfallen. (…) Dann arbeiten und gelingen die prospektiven Akte aus dem mächtigen Erwarten, das seiner mächtig geworden ist; aus Affinität zum Stern, der sich noch unter dem Horizont befindet; aus der Kraft zum Unbetretenen, die Dante sagen läßt: ‚das Wasser, das ich fasse, hat man noch nie befahren‘. Letztere Sentenz ist schließlich diejenige, welche Jugend, Zeitwende, Produktivität am besten in einem einzigen Griff vereinigt; nicht mit Hochmut, sondern mit Beschreibung dessen, was bei Schöpfungen der Fall ist, der Fall zu sein hat.“ (A.a.O., S. 137)

 

Viel Papier ist vollgeschrieben worden und wird in naher und vermutlich auch noch ferner Zukunft vollgeschrieben (werden), wenn und da es um die Beantwortung der Frage ging und geht: was das ist, das Genie. Das Unbewusste stand und steht hoch im Kurs; das Getriebensein und Nicht-anders-Können; das Versklavtsein durch das, das man nicht in seiner Macht hat und das, einem Naturereignis wie einer Lawine gleich, über einen kommt und einen mit sich fortreißt und im Fortgerissenwerden tragisch verschlingt. Denn auch und vor allem: die Melancholie, die Schwärze des vorbestimmten, schicksalhaften Scheiterns ist und soll ein unverzichtbarer Begleiter, das zentrale Ingrediens des wahren Genies sein. Die Dämonologie des Genie-Seins, die Goethe, laut eigenem Bekunden, fremd war und der gegenüber er sich lediglich als eine Art interessierter Beobachter und/oder Zaungast sah und verstand, ist das Zentrum sämtlicher Versuchsanordnungen um das Geniehafte des Genies herum.

 

Wie aber, wenn diejenigen, die einen vergleichsweise kühlen Kopf bewahren bei dem Versuch, dem Geheimnis des Genies auf die Spur zu kommen, in zwei Denk-Etappen das Ominöse am Ominösen ein klein wenig zu bändigen verstehen? Indem sie den Zweifel und das geahnte Wissen um das Scheitern-Können und Nicht-mehr-ein-noch-aus-Wissen nicht als vernachlässigenswert unter den Tisch fallen lassen, sondern als eine Art Initialzündung und als einen Umschlagpunkt in Betracht ziehen und zu begreifen lehren. Und dadurch womöglich das Fragwürdige des sich seiner Fragwürdigkeit ahnungsvoll selbst Bewussten etwas solider einer Versuchsbeantwortung zugeführt haben?! Und zwar – gemeinsam mit Hegel, auf den Bloch sich beruft, gleich doppelt, nämlich folgendermaßen: „‚Ich kenne aus eigener Erfahrung diese Stimmung des Gemüts oder vielmehr der Vernunft, wenn sie sich einmal mit Interesse und mit ihren Ahndungen in ein Chaos der Erscheinungen hineingemacht hat und … des Ziels innerlich gewiß noch nicht zur Klarheit und Detaillierung des Ganzen gekommen ist … Jeder Mensch (was allerdings zurecht bezweifelt werden darf…, F.-P.H.) hat wohl überhaupt einen solchen Wendungspunkt in seinem Leben, den nächtlichen Punkt der Konzentration seines Wesens‘.“ (A.a.O., S. 140f.)

 

Den das Halbe des Einstiegs komplettierenden Aufstieg – sozusagen die Lösung des tief empfundenen und dabei höchst notwendigen Dilemmas – fasst der erste Hegelbiograph Karl Rosenkranz in seinem Lehrer kongeniale (!) Worte: „‚Das Genie ist nicht, wie das Talent, durch formelle Vielseitigkeit, obwohl es dieselbe besitzen kann, sondern dadurch groß, daß es das objektiv in einer Sphäre Notwendige als sein individuelles Schicksal vollbringt.“ (A.a.O., S. 141) Womit der Gefahr der Verwechslung des Genies mit einem von einem Spleen Besessenen vorgebeugt ist. Der sprichwörtliche Wahnsinn des Genies ist nicht der des Wahnsinnigen. Weil der in einem Wahn Befangene ein ganz und gar Ich-Befangener und -Verfallener ist. Das Allgemein-Notwendige und damit Über- und Nichtindividuelle ist das dem Weltverlorenen Anatheme. Exakt dies aber ist es, das das Individuum zu seinen entsprechend gehaltvoll-werkhaften Taten – die auch diejenigen des wissenschaftlichen Gedankens oder der einbildungskraftgesättigten Kunst sein können – ausweglos-schicksalhaft bestimmt. Womit impliziert ist, dass das Genie am wenigsten zu sagen weiß, worin sein Genie-Sein besteht. Weil es der hierfür notwendigen Distanz sich selbst gegenüber ermangelt. „Genie ist derart spezifischer Fleiß des fortgeführten Lichtblicks (gemeint ist das erste Licht, worin der zündende Eindruck im noch halb Verborgenen lag, F.-P.H.) zu seiner Aussage hin, so daß das Gemeisterte dem Geplanten nicht nur Stärke, sondern auch Tiefe hinzugibt.“ (A.a.O., S. 142)

 

Antizipieren und das ahnungsvoll Antizipierte im zu vollendenden Werk – der sich manifestierende Einspruch gegen das doch jederzeit mögliche Scheitern – vielleicht auch zwanghaft-unbewusst und verloren-getrieben vollbringen, diese in sich gebrochene Gesamtkonstellation in der Treue zum Werk des Schaffenden wird dem Wesen des Genies eventuell am ehesten gerecht. Was bedeutet, dass auch Ernst Bloch unter so vielen anderen eines gewesen ist.


Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung

Werkausgabe: Band 5. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985

ISBN 3-518-28154-2.

Auch antiquarisch erhältlich

 

Lesen Sie die weiteren Teile hier.

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