Teodor Currentzis und sein „Don Giovanni“: Ganz großes Ohrenkino
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Teodor Currentzis pflegt hingebungsvoll sein Image als charismatischer Klassikrebell im fernen Perm. Sein Herzensprojekt mit dem von ihm aufgebauten Originalklang-Ensemble MusicAeterna, die Studio-Aufnahmen der drei Mozart/da Ponte-Opern, findet jetzt mit „Don Giovanni“ seinen etwas verspäteten Abschluss. Und ist kaum zu überbieten an Transparenz und Tempo, mit einem großartigen Solisten-Team.
In Perm, 1150 Kilometer in nordöstlicher Richtung von Moskau gelegen und international bisher vor allem durch die nach seiner Region benannte erdgeschichtliche Perm-Epoche ein Begriff (die allerdings schon vor mehr als 250 Millionen Jahren zu Ende ging) – in Perm also, der östlichsten Millionenstadt Europas, und zwar am dortigen „Akademischen Opern- und Ballett-Theater P. I. Tschaikowski“, einem der bedeutendsten Häuser Russlands, tut sich Großes.
Dort wirkt der aus Griechenland stammende Maestro Teodor Currentzis (Jahrgang 1972) Musikdirektor. Er hat 2011 die Musiker von MusicAeterna – Chor und Orchester – gleich komplett mitgebracht aus Nowosibirsk, wo er seit 2004 arbeitete. Und produziert nun, weit am Rande des Blickfelds zentraleuropäischer Wahrnehmung angesiedelt, Musik und Musiktheater, die die internationale Klassikwelt beflügeln und begeistern. Das „Enfant terrible der klassischen Musik“ und die „Klassikrevolutionäre aus Perm“ – was für eine Geschichte! Eine, die man erfinden müsste und die sich zusammen mit der harten Arbeit an der Musik auszahlt.
Im Februar 2016 erst haben wir auf hier kultur-port.de die großartige DVD von Purcells „The Indian Queen“ vorgestellt, die gleichermaßen durch Peter Sellars’ Inszenierung wie durch Currentzis’ Dirigat ein Ereignis ist. Damals wartete das internationale Opernpublikum schon sehnsüchtig darauf, dass Currentzis und Sony Classical endlich ihren Mozart/da Ponte-Zyklus vervollständigen, von dem „Le Nozze di Figaro“ und „Così fan tutte“ bereits 2014 erschienen waren.
Doch sein „Don Giovanni“ zur Krönung, angekündigt für Herbst 2015, ließ auf sich warten. Zwar hatte Currentzis die Oper bereits komplett aufgenommen, doch dann war er mit dem Ergebnis zunehmend unzufrieden, und sein Label ließ sich im November/Dezember 2015 auf das kostenintensive Abenteuer einer vollständigen Neu-Aufnahme ein. Mit überwiegend jungen Sängerinnen und Sängern, die nicht bekannt sein, sondern vor allem seinem Klangideal entsprechen müssen: schlanke, extrem bewegliche, nicht auf großes Stimmvolumen getrimmte Stimmen mit einiger Erfahrung im Belcanto, perfekt in der Artikulation und glaubwürdig in den Emotionen, denen sie in Mozarts schwärzester, radikalster und innovativster Oper Klanggestalt geben.
Natürlich sorgt Currentzis, der tanzende Charismatiker am Pult, für großen Effekt. Schon mit den Eingangsakkorden der Ouvertüre ertönen Donnerschläge, die sogleich den Blick ins Höllenfeuer öffnen, in das Don Giovanni, der skrupellos lebensgierige Playboy, am Ende hinabfährt. Im schnellen Teil macht Currentzis kompromisslos Tempo, trocken, kammermusikalisch klar und von äußerster Transparenz. In der folgenden Attacke Don Giovannis gegen Donna Anna (Myrtò Papatanasiu) geht es sehr rowdyhaft zur Sache, da brennt die Luft, und Leporello (Vito Priante) wird schon hier vom Tempo her an die Grenze des Singbaren getrieben.
Von der Hamburgischen Staatsoper dabei: Christina Gansch als Zerlina
Currentzis und sein Orchester, sie malen mit Tönen. Die Blitze des Erschreckens, als Donna Anna den erstochenen Vater entdeckt, der Racheschwur. Don Giovanni (Dimitris Tiliakos), ist hier keineswegs ein eiskalter Anmacher: Selten hat man den in dieser Oper verhinderten Frauenhelden so lyrisch und hingebungsvoll, so verführerisch und schmelzend in der Baritonlage gehört – mit Ausnahme der „Champagner-Arie“, aber selbst die verrät einen Hauch Genießertum. Dieser Giovanni ist geradezu ergriffen von seiner unwiderstehlichen Verführungskunst beim „Laci darem la mano“ und kein getriebener Psychopath – quasi ein tiefer gelegter Don Ottavio, der das Böse in seiner Seele nicht wegschließt, sondern auslebt.
Der Ottavio ist Kenneth Tarver – ein großartiger lyrischer Tenor; fast versteht man Donna Anna nicht, warum sie ihren Geliebten immer wieder in die Warteschleife abschiebt. Hinreißend, manchmal glühend intensiv, ans Herz greifend und absolut koloratursicher die Donna Elvira von Karina Gauvin. Ein standsicherer und streitbarer Vater, aber ein wenig erschreckender Sendbote der überirdischen Rache ist der Commendatore von Mika Kares. Auch Guido Loconsolo gewinnt als Masetto wenig Profil, während Christina Gansch aus dem Ensemble der Hamburgischen Staatsoper den Part des Bauernmädchens Zerlina herrlich hingerissen zwischen ihrem Bräutigam und dem eleganten Verführer ausmalt. Alle Sänger erlauben sich übrigens hübsch verzierende Feinheiten in den wiederkehrenden Teilen der Arien.
Höhepunkte sind natürlich die Ensemble-Szenen, die drei dunklen Stimmen nach dem Mord am Commendatore oder der Auftritt der Masken beim Ball – hervorragend ausblanciert, da gibt es keine weniger wichtigen oder akustisch zurückfallenden Stimmen. Überhaupt – die Maskenszene: Zunächst das Quartett der Giovanni-Verfolger, in dem sich das Unheil für den Bösewicht zusammenbraut, überirdisch fein gesungen. Die freche Einladung durch Leporello, und dann der Balltrubel mit drei nebeneinander agierenden Orchestern auf der Bühne – und die hat man nie so lustvoll mit- und gegeneinander musizieren gehört wie auf dieser Aufnahme aus Perm. Da wird improvisiert, verziert, gestimmt, dass es eine Lust ist. Und dann, als der Verbrecher gestellt wird, ist das Zittern in den Streichern fast körperlich zu spüren.
Am stärksten: wenn in fahlen Farben die verletzten Seelen ausgelotet werden
Unbedingt erwähnt werden, weil auch ungewöhnlich hübsch, muss noch die Laute, die Don Giovannis Canzonetta begleitet. Und das akustisch weit nach vorn geholte Fortepiano, das in den Rezitativen immer wieder keck kommentierend eingreift.
An beiden Akt-Schlüssen gibt es ganz großes Ohrenkino – bei der erwähnten Maskenszene genau wie beim Gastmahl am Ende, bei der großen Reue-Verweigerung des Bösewichts und seiner Höllenfahrt, bei der man 1:1 hört, was das Libretto vorschreibt: „Feuer von verschiedenen Seiten. Erdbeben. Die Flammen wachsen an; Don Giovanni versinkt und wird von der Erde verschlungen.“
Für das „dramma giocoso“ Mozarts und seines Textdichters Lorenzo da Ponte verwendet Currentzis zwei musikalische Grundstimmungen – das „dramma“ bekommt einen kalten, fast hallenden Klang nach alter Kirche, das „giocoso“, das Heitere, wird aufgehellt gespielt, mediterran barock. Am stärksten ist Currentzis’ Aufnahme nicht da, wo er unter Hochspannung alle Geschwindigkeitsrekorde brechen will und durch die Partitur hetzt, als sei der Commendatore hinter ihm und nicht hinter Don Giovanni her. Sondern dort, wo er in fahlen Farben die verunsicherten verletzten Seelen der Beteiligten auslotet.
Eine Bilanz der Aufnahme: hochtransparent und filigran musiziert, Ausrutscher in extreme Tempi kommen vor, aber so etwas nutzt sich doch ab und wirkt am Ende oft eher manieriert als sinnvoll. Das Originalklang-Instrumentarium von ‚MusicAeterna’ mildert manche Schärfe ab. Eine gut anhörbare, ausgefeilte Aufnahme mit einem Ensemble, bei dem alle auf Augenhöhe singen.
Was schon 2014 zu Currentzis’ „Nozze di Figaro“ auf KulturPort.De stand, gilt ohne weiteres auch für „Don Giovanni“: „Mozart neu erfunden hat er nicht, dieser Teodor Currentzis, dessen „Nozze di Figaro“ aus dem russischen Perm derzeit als Studio-Aufnahme Furore macht. Der Grieche, der in Russland das Alte-Musik-Ensemble ‚MusicAeterna’ gegründet hat, ist aber ganz konsequent und erfolgreich im Entschlacken von Mozart genialer Oper. Etliches, was als Pluspunkt der Aufnahme gilt, machte schon René Jacobs’ inzwischen zehn Jahre alte [SACD]-Referenz-Aufnahme zum staunenswerten Ereignis: die alten Instrumente, wenig Vibrato, das frech parlierende Hammerklavier zu den Rezitativen, hurtige Tempi und große Spannbreite in der Dynamik.“ Anzufügen wäre, dass Kenneth Tarver, der fantastische Don Ottavio, schon zehn Jahre zuvor einen großartigen Ottavio gesungen hat – 2006 bei René Jacobs. Auch der hatte schon die zwei in Wien gestrichenen Nummern der Prager Fassung dabei – als Anhang; Currentzis baut sie am originalen Platz ein.
Mozart: Don Giovanni. MusicAeterna, Leitung: Teodor Currentzis
3 CDs Sony Classical
8898 5316 032
YouTube-Video:
Teodor Currentzis records Mozart's Le nozze di Figaro, Così fan tutte & Don Giovanni
Hörbeispiele
Abbildungsnachweis:
Header: Currentzis und Orchester. Foto: Aleksey Gushchin
CD-Cover, Sony Classical
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