Wie bewahren wir jene Musik von Menschen, die millionenfach ermordet wurden? Im Herzen, im Geist, auf der Bühne, als Publikum. Klingt nach Erinnerungskultur pur, jedoch im folgenden Fall mit viel zeitgenössischer Chuzpe*(1) und Verve und über Kontinente hinweg.
Tacheles(2) von Geoff Berner, dem kanadischen Punk-Klezmer-Musiker formuliert: „Ich will originelle Klezmer-Musik machen – betrunken, dreckig, politisch und leidenschaftlich! Als Jude osteuropäischer Abstammung sehe ich es als meine Pflicht, diese Musik lebendig zu machen, und sie nicht hinter Glas aufzubewahren, wie in einem Museum.“
„Grand Hotel Cosmopolis“, ist der Titel des neuen Albums, das in dieser Woche erscheint. Nach u.a. „Whiskey Rabbi“ (2005), „We Are Going to Bremen To Be Musicians” (2015) und „Canadiana Grotesquica” (2017) hält er strickt sein zuvor formuliertes Versprechen. Seine Kompositionen und bemerkenswerte Texte in englischer und jiddischer Sprache sind politisch, humorvoll, direkt, erinnernd, bissig-links, freiheitlich, zielgerichtet, ein bisschen „meschugge“(3) und in der Gefühlswelt zwischen Lebenslust und Melancholie. Berner handelt zudem nach jüdischer Art: er will „klern“(4) – so heißt es im Jiddischen – das bedeutet nicht mit anderen ‚etwas klären‘, sondern zunächst mit sich und seinem Inneren, selbstreflexiv. Wie muss ein jüdischer Musiker sein, sich fühlen, sich geben etc.? (Tracks beispielhaft dazu: „Not The Jew I Had In Mind" und „What Kind Of Bear Am I?").
Das macht er einerseits methodisch, andererseits extrem vielseitig. So finden sich auf der neuen Platte eine Fülle sehr unterschiedlicher Titel, mal gehen sie hinein in die Geschichte (Tracks: „Vilne" und „Zog Nit Keyn Mol"), mal sind sie ins Brandaktuelle geholt (Tracks: „Grand Hotel Cosmopolis" und „Why Don’t We Just Take the Billionaires’ Money Away?"), mal folgen sie balladenartigen Melodien, mal der Wut des Punks. Er möchte alles und alle versammeln – so heterogen sie sind –, wie die Besucher seines Grand Hotels (und seiner Konzerte/Parties) eben zu sein haben! Diese Haltung kreiert vielleicht auch so etwas wie Solidarität – auch mit den heutigen Migranten und jenen, die auf der Flucht sind, entheimatet, zukunftsunsicher. (Track: „Would You Hide Me?") Kosmopolitisch im urbanen Raum, denn anders geht es für ihn nicht. Genug erlebt, genug gelitten, nun reicht es allemal. Das Credo: besser machen, und noch besser: zusammen!
Live auf der Bühne ist der Mann mit dem Akkordeon sehr präsent. Zugegeben, ein wenig intellektuell zu sein ist eine gute Voraussetzung, um auch die Sprachgewandtheit, die Zwischentöne, die offenen und versteckten Botschaften mitzubekommen. Ein wenig tanzendes Chaos gehört dazu, von jemanden, der zwar in Vancouver lebt, sich im Grund genommen hier und dort traditionell osteuropäisch, ja, ‚chassidisch‘ gibt. Nicht im Sinne der strengen orthodoxen Religiosität, sondern was der Auffassung von Musik entspricht, die nach mystischer Anschauung einen göttlichen Ursprung hat. Ihr kommt eine zentrale Bedeutung zu. Gesangsmelodien werden im Chassidismus teilweise sogar höher gewertet als gesprochene Gebete. Dem Gesang sprach man die Fähigkeit zu, die Seele eines Menschen auszuloten und sie in eine höhere Existenzebene zu versetzen. Und der Tanz dazu bringt Verstand und Körper in Einklang.
Er bevorzugt es, Songtexte zu schreiben. Das kann er beurteilen, denn er hat auch einen Roman geschrieben („The Fiddler Is A Good Woman“, 2017) und so bevorzugt Berner die schnellen, spontanen Überprüfungen seiner Texte auf der Bühne. Das Zusammensein, interagieren und sich ergänzen, sind wichtige Indikatoren der Live-Konzerte – ab November in Österreich und Deutschland zu erleben.
So, let’s get together and „toda raba"(5), Zaddik(6) Geoff!
* Kleine Hilfestellung:
(1) Chuzpe (hebr. chuzpáh): Dreistigkeit, Frechheit
(2) Tacheles (jidd. tachles): offen und unverblümt seine Meinung äußern, Ziel, Zweck
(3) Meschugge (hebr. meshugáh): verrückt (ein nicht dauerhaft anhaltender Zustand)
(4) Klern: grübeln, nachdenken, sinnen.
(5) Toda raba: Vielen Dank
(6) Zaddik: (hebr. zedek): Gerechtigkeit, Gerechter, im Sinne von Weiser, Gelehrter
Geoff Berner: Grand Hotel Cosmopolis
Geoff Berner: vocals, accordion | Diona Davies: violin, vocals | Brigitte „Briga“ Dajczer: violin, vocals | Wayne Adams: drums, percussion | Keith Rose: bass | Josh “Socalled” Dolgin: piano | Giselle Webber: vocals on 3 | Michael Winograd: clarinet | Eli Camilo: trombone | Eleonore Weill: hurdy gurdy | Paul Rigby: guitar | Carolyn Mark: vocals on 7Label: COAX Europa
OAX 054
Tracklist: 01. Not The Jew I Had In Mind 2:48 | 02. What Kind Of Bear Am I? 5:16 | 03. Ven Kimsti? 4:12 | 04. Would You Hide Me? 3:36 | 05. Vilne 4:14 | 06. Grand Hotel Cosmopolis 3:19 | 07. The Drummer Requests 3:30 | 08. Oh You Survivalists 3:30 | 09. Why Don’t We Just Take The Billionaires’ Money Away? 4:27 | 10. Zog Nit Keyn Mol 3:35
YouTube-Video:
- Geoff Berner: Not the Jew I had In Mind (With Permission from Thomas King)
- Geoff Berner: Vilne (live in Toronto)
- Geoff Berner: What Kind of Bear Am I?
- Geoff Berner: Take the Billionaire's Money Away (live in Seattle)
Und zur Erinnerung:
- Geoff Berner: Whiskey Rabbi
Tourdaten:
19.11.2019 AT - Wien argfabrik / KlezMore
20.11.2019 DE - Viechtach Altes Spital
21.11.2019 DE - Augsburg / Grandhotel Cosmopolis
22.11.2019 DE - Augsburg / Grandhotel Cosmopolis
24.11.2019 DE - Mainz Hafeneck
25.11.2019 DE - Aachen Domkeller
26.11.2019 DE - Köln Hängende Gärten von Ehrenfeld
28.11.2019 DE - Stuttgart Laboratorium
30.11.2019 DE - München Bellevue di Monaco
02.12.2019 DE - Mannheim Altes Volksbad
03.12.2019 DE - Erfurt Offene Arbeit
05.12.2019 DE - Hannover Feinkost Lampe
10.12.2019 DE - Dresden Societaetstheater - Tickets
11.12.2019 DE - Bremerhaven Pferdestall
12.12.2019 DE - Hamburg Betahaus
13.12.2019 DE - Bremen Creative Hub (ehem. Bundeswehrhochhaus)
14.12.2019 DE - Berlin Supamolly
Abbildungsnachweis:
Header: PR/Geoff Berner, Band-Foto
CD-Cover
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