Nicht aus Pappe: „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“
- Geschrieben von Isabelle Hofmann -
Jonas Jonassons Bestseller „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ auf die Bühne zu bringen, ist zweifellos ein ambitioniertes Projekt, zumal für das durch finanzielle Lecks und Umbauarbeiten gebeutelte Altonaer Theater.
Größenwahnsinnig, haben vielleicht einige gedacht. Wie wollen die so eine wunderbar verrückte Reise durch das 20. Jahrhundert und drei Kontinente in drei Stunden erzählen? Mit umwerfenden Witz und Einfallsreichtum lautet die Antwort. Zur Uraufführung am Sonntag gab es stehenden Stakkato-Applaus für eine ganz und gar hinreißende Inszenierung, die punktgenau die liebenswerte Skurrilität der Romanvorlage trifft.
Ein fast leerer Raum, unterteilt in Ebenen und Rahmen, die Zeit- und Handlungsebenen verdeutlichen. In der Mitte ein beschriftetes Pappquadrat: „Das Fenster zum Hundertsten“. Heraus klettert Titelheld Allan Emmanuel Karlsson. Auf seinen Pantoffeln macht er sich auf zum Bahnhof, um dort en passant einen Koffer mit 50 Millionen Kronen zu klauen und eine irrwitzige Verfolgungsjagd quer durch Schweden in Gang zu setzen. In ihrem Verlauf findet der Hundertjährige neue Freunde, bringt zwei schwere Jungs um die Ecke und treibt einen Kommissar zur Verzweiflung. Doch das ist nur die Rahmenhandlung für seine Lebensgeschichte(n) in Rückblenden: Als Sprengmeister, Spion und Erfinder der Atombombe traf Allan so wichtige Persönlichkeiten der Zeitgeschichte wie Franco, Truman, Mao und Stalin.
Man glaubt es kaum, doch die komplexe Story hat in Axel Schneiders Bühnenfassung kaum an Substanz verloren. Und mit Eva Hosemann als Regisseurin ist dem Theaterchef ein echter Coup gelungen. Hosemann verlässt sich ganz auf die Spielfreude des Ensembles und verzichtet klug auf allen Naturalismus. Mit ihrem Bühnenbildner Stephan Bruckmeier schafft sie die schnellen Zeit- und Szenenwechsel buchstäblich im Handumdrehen. Es gibt keine Kulisse, lediglich ein paar Versatzstücke, beschriftete Wände, Kisten und Podeste aus Pappe oder Pressspan, die in ihrer Einfachheit und Multifunktionalität sicher nicht von ungefähr an ein bekanntes schwedisches Möbelhaus erinnern. Einfach genial, wie Bolzens Beine zu den langen Hebeln der Flucht-Draisine mutieren. Wie Allan mit Freund Julius und Fahrer Benny hinter ihrem Pappauto über die Bühne schieben und Sonja, der Elefant, in Form eines riesigen grauen Sitzsacks auf den armen Humpen plumpst. Das hat etwas von Peter Brooks armem Theater, von DADA und ursprünglichem Spiel auf höchstem Niveau. So wie ein Buch, ein paar Buchstaben ganze Welten öffnen, lassen hier die einfachsten Mittel der Phantasie freien Lauf.
Man kann Eva Hosemann zu diesem Regie-Wurf nur beglückwünschen. Und zu ihrem großartigen Ensemble, das sich als umwerfend wandlungsfähig erweist. Allen voran Jörg Schüttauf als liebenswert schelmischer Alter, dessen Charme und Unbedarftheit ein wenig an Ibsens verträumten Peer Gynt erinnert.
Keine Frage: „Der Hundertjährige“ ist mit Abstand die bislang beste Literaturbearbeitung des Altonaer Theaters. Überzeugen Sie sich selbst.
Bis 23.11. zu sehen im Altonaer Theater, Museumstraße 17, in 22765 Hamburg. Zeiten und Programm.
Fotonachweis: (c) Joachim Hiltmann
Header: Jörg Schüttauf mit Dirk Hoener als Schalterbeamter
Galerie:
01. Plakatmotiv (c) Altonaer Theater
02. Jörg Schüttauf mit Klaus Peeck als Freund Julius und dem toten Humpen (Alexander Klages), dessen Beine hier zu Draisinen-Hebeln mutieren.
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