Theater - Tanz

Hier geht kein Vorhang auf, hier fällt auch kein Vorhang. Die Bühne im Schauspiel Frankfurt ist offen. Alles und nichts breitet sich aus im Raum. Zu sehen ist: eine Matratze links im Bild. Darauf liegt ein Mensch. In der Mitte des Raumes steht ein leise vor sich hin brabbelnder Fernseher.

Rechts vorne die Stehlampe mit ihren vier Armen aus den Sechzigern. Hinten sind ein paar Dinge zu ahnen. Alles hier ist bereit für George Taboris Welttheaterstück „Die Goldberg-Variationen“. Zu erleben ist ein geniales, zeitloses, zeitgenössisches, lebendiges und lebhaftes Theaterstück, dargeboten von nahezu traumwandlerisch, perfekt agierenden Schauspieler*innen. Der alte, einst erfolgreiche Regisseur Mr. Jay (super: Peter Schröder) hat sie ein letztes Mal gerufen, um mit ihnen das Buch der Bücher zu inszenieren, die Bibel.

 

Doch zunächst einmal sehen wir, das Publikum, dem alternden einst erfolgreichen Regisseur zu, wie er versucht, sich von der Schlafstatt in seiner mehr schlecht als recht eingerichteten Einraumwohnung (Bühne und Kostüme: Wolfgang Menardi) zu erheben. Das allein scheint eine geradezu lebensbedrohliche Herausforderung für Mr. Jay zu sein. Denn, obwohl sich die Schlafstatt direkt über dem Fußboden in Form einer Matratze befindet, dauert es eine (gefühlte) Viertelstunde, bis Mr. Jay das Aufstehen gelingt. Ob es ihm im Verlauf des Theaterstückes auch gelingen wird, mit seinem alten Schauspielerteam an seine alten Glanzzeiten als Regisseur anzuknüpfen, das ist von Anfang an fraglich. Genauer gesagt, ist das eher unwahrscheinlich.

 

Die Bühne alias Einraumwohnung, wo sich Mr. Jay gerade mühsam von seiner Schlafstatt erhoben hat, präsentiert sich insgesamt karg, lebensunfreundlich, unwohnlich. Vor dem Fenster, aus dem Mr. Jay auf seiner Matratze stehend in die Dunkelheit blicken kann, schützt eine defekte, im Laufe ihres Lebens unförmig geformte Jalousie den Durchblick zur Außenwelt. Mitten im Raum läuft ein Fernseher. Zu hören – mehr zu ahnen - sind gesendete Katastrophen aus aller Welt. Hier, in der kleinen Welt des Mr. Jay, findet eine andere aktuelle Katastrophe statt. Der Untergang der kleinen Welt in der großen. Der Untergang des Theaters im Leben und der Untergang des Lebens im Theater. Das ist eine der vielen möglichen Interpretationen. Doch „Die Goldberg Variationen“ wären kein Tabori-Theaterstück, wenn hier irgendetwas eindeutig wäre.

 

Die Goldberg Variationen 01 F Jessica Schaefer

Die Goldberg-Variationen von George Tabori. Foto: Jessica Schäfer

 

Die Viertelstunde qualvoller Stille ist vergangen. Das Publikum hört erste Worte. „Dunkel ist es“, stellt Mr. Jay fest. „Es werde Licht. Scheinwerfer an“, ruft er, a ls die Schauspielertruppe beisammen ist und fragt, „Wollen wir anfangen?“ Womit? fragt sich der Zuschauer. Dies allerdings nicht spöttisch, geschweige denn kritisch, sondern neugierig und gespannt. Vielleicht passiert gleich oder bald das, was Mr. Jay auf jeden Fall verhindern will: „Wir versuchen, diese Produktion davor zu bewahren, der apokalyptische Flop des Jahrhunderts zu werden“, erklärt er seinem Team. All die Schauspieler*innen seiner einst so erfolgreichen Aufführungen sind inzwischen in der Einraumwohnung, auf der Bühne eingetroffen und Mr. Jay (Peter Schröder) ist nun umgeben von all seinen Lieben. Die heißen: Goldberg (Torsten Flassig), Wolfgang (Mark Tumba), Mark (Wolfgang Vogler) und Terese Tormentina (Anna Kubin). Nach der anfänglichen, für das Publikum nur schwer zu ertragenden Langsamkeit kommt Tempo auf: Dafür sorgt vor allem Moppelchen, wie Mr. Jay sie nennt. „Mein Name ist Mops“, berichtigt Terese. Und Mr. Jay antwortet cool: „Den Namen muss man sich erst mal verdienen.“

 

Moppelchen alias Mops alias Terese ist die einzige Frau auf der Bühne, dafür aber in diversen Rollen. Von der Putzfrau bis hin zur Eva im Paradies (die sich weigert, in der Paradiesszene nackt aufzutreten) ist sie der weibliche Star auf der Bühne. Egal, was Terese gerade ist, macht oder darstellt: Anna Kubin ist großartig in jeder dieser Rollen, die ihr zugeeignet sind. Sie agiert unglaublich agil, gibt sich mal fragil, mal beinhart, mal kapriziös und feingliedrig, mal plump und schnodderig - immer aber ist sie gelenkig wie eine Zirkusprinzessin am Trapez. Wie ein Derwisch saust sie über die Bühne, wie ein Götterfunke erhellt ihr glitzerndes Spiel den dunklen Raum und das Publikums.

 

Die Goldberg Variationen 03 F Jessica Schaefer

Die Goldberg-Variationen von George Tabori. Foto: Jessica Schäfer

 

Auch vom alten Glanz des Regisseurs scheint noch etwas durch. Doch der Schein trügt. Zunächst glaubt Mr. Jay noch, er habe alles im Griff. Doch allmählich entgleiten ihm die Proben, er verliert den Kontakt zu den Schauspieler*innen, und mehr und mehr gleitet Mr. Jay hinein in die Bedeutungslosigkeit. Geprobt werden wieder und wieder Szenen aus der Heiligen Schrift. Vom Garten Eden bis hin zur Kreuzung auf Golgatha ist alles dabei. Wir befinden uns auf einem Theaterkreuzweg: Licht und Musik kommen stets zur falschen Zeit, Schauspieler*innen können ihren Text nicht. Und somit geraten die Proben des Stücks im Stück bald aus dem Ruder. Hier kämpft jeder gegen jeden – nicht nur, dass Kain, wie es die Bibel beschreibt, seinen Bruder Abel ermorden soll und will. Allmählich gerät alles außer Kontrolle, Chaos bricht aus. Mal legt Mr. Jay seinen heißen Kopf zur Abkühlung in den Kühlschrank, ein anderes Mal steckt jemand seinen Kopf in den Backofen des Gasherdes.

 

Alles ist hier möglich, auch das Unmögliche. Der (optische) Wirrkopf Goldberg (auch er großartig in seiner Rolle) ist bald nah am Nervenzusammenbruch ob seines Bemühens, dem einst berühmten Regisseur einen letzten guten Abgang zu verschaffen. Für dieses Vorhaben opfert er sich sogar als Jesus und lässt sich ans Kreuz nageln. Jetzt ist Mr. Jay Gott und Vater, und Goldberg Jesus und Sohn. „Gut, der Mensch ist nicht Gott“, sagt Mr Jay. „Aber was, wenn Gott auch nicht Gott ist?“ Kurze Zeit später herrscht er seinen Assistenten an: „In diesem Theater erzähle ich die Witze, Goldberg. Nur dass die Zeit der Witze vorbei ist.“ Doch die Zeit der Witze war für Tabori nie vorbei. In den Goldberg-Variationen macht er sogar Witze über Auschwitz. Dies, als Mr. Jay sieht, dass Goldberg eine Nummer in den Arm tätowiert hat und ihn fragt: „Welches Lager?“ „Nur das beste ist gut genug“, kommentiert er dessen Antwort. In all diesem taumeligen Welt-, Mensch-, Theater- und Bibelgeschehen erklingen im Frankfurter Schauspiel zwischendurch immer wieder Parts aus Bachs Goldbergvariationen am Klavier (Pianist: Jonas Xaver Harksen). Das geht so bis zum offenen, traurigen Finale, das dem Zuschauer nahelegt, Mr. Jays letztes Werk, sein Lebenswerk, wird es nie zur Aufführung schaffen. Mr. Jays herzzerreißende Flucht in die Kunst ist ergo eine finale Flucht aus der Realität.

 

Die Goldberg Variationen 02 F Jessica Schaefer

Die Goldberg-Variationen von George Tabori. Foto: Jessica Schäfer

 

George Tabori hat es als Autor und Theatermacher immer vermieden, Vergangenheit bewältigen zu wollen. Ihm war vielmehr wichtig, Schauspieler*innen und Zuschauer*innen von jeglichen Tabus zu befreien, zu erlösen und das gemeinsame Erinnern in den Mittelpunkt zu stellen. Dies gemäß Siegmund Freuds therapeutischem Ansatz, „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“. Genau hier setzt auch der reale Regisseur Data Tavadze aus Tiflis, Georgien, an mit seiner Inszenierung der Goldberg-Variationen. Es ist eine gemeinsame Erinnerungsübung, die hier in traumwandlerischen Bildern erzählt wird. Es ist die Geschichte vom Ursprung der Welt, von der Erschaffung des Theaters in der Welt, von der Erschaffung der Welt als Theater und das Theater als Erschaffung der Welt. Vielfältige Bedeutungsebenen kämpfen in diesem Stück gegen drohende Bedeutungslosigkeiten der Protagonisten, mitunter geschieht dies bei aller Dramatik mit Humor. Ganz gemäß George Tabori: „Humor ist eine Lebenshaltung, ein Rettungsweg, der zu tun hat mit Toleranz und mit dem Prinzip Hoffnung, dass Weiterleben möglich ist.“ Es lebe das Prinzip Hoffnung. Es lebe das Theater.


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George Tabori: „Die Goldberg-Variationen“

am Schauspiel Frankfurt, Neue Mainzer Straße 17, in 60311 Frankfurt am Main

Regie: Data Tavadze

Bühne und Kostüme: Wolfgang Menardi

Musik: Nik Pasuri

Dramaturgie: Julia Weinreich

Licht: Johannes Richter

Dolmetscherin: Irina Bondas

Mit: Anna Kubin (Terese Tormentina), Peter Schröder (Mr. Jay), Mark Tumba (Wolfgang), Torsten Flassig (Goldberg), Wolfgang Vogler (Mark), Jonas Xaver Harksen (Live-Musik)

 

Weitere Termine:

Montag, 07.11., 20.00 Uhr

Freitag, 02.12., 20.00 Uhr

Kartentelefon: 069 – 2124 9494

Weitere Informationen

 

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