Achim Freyer und sein „Parsifal“ in Hamburg: Viel Bühne, wenig Weihe, eine Menge Spiel
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Es ist dunkel in der Hamburger Gralsburg, als Achim Freyer mit seiner „Parsifal“-Interpretation den Start in die neue Saison der Staatsoper zelebriert. Der 83 Jahre junge Regie-Zauberer setzt seine Akzente für Richard Wagners Bühnenweihfestspiel klar: ganz viel Bühne, ganz wenig Weihe, eine Menge Spiel mit Wagners Ideen – und ein Sänger- und Orchesterfest ist es.
Doch der Reihe nach: Bert-Brecht-Schüler Freyer, der nicht nur Regie, sondern auch Bühnenbild, Licht und Kostüme dieser Aufführung verantwortet, verortet die Geschichte in einer bühnenhohen Spirale, die gespiegelt ins Unendliche zu reichen scheint. Auf ihr agiert der Chor der Gralsritter, wird der alte Gralskönig Titurel im Rollstuhl verschoben, tritt Parsifal auf und auch der böse Illusionist Klingsor, während die in eigenen Haarfilz gehüllte Kundry gern per Meteorit ins Geschehen einschlägt. Der Erzähler und Gralshüter Gurnemanz hütet außerdem den vorderen linken Bühnenrand, von dem er sich kaum einmal fortbewegt.
Bühnentechnik, Lichtpunkte und Projektionen sorgen dafür, dass der Raum, zu dem hier laut Gurnemanz die Zeit wird, oft in Bewegung zu sein scheint – ein hübsches Verwirrspiel mit einer Handlung, die selbst wenig Bewegung fordert.
Freyer tut, was er kann, um das meist weihevoll aufgefasste Geschehen zu verfremden: Alle zeigen dick schwarz-weiß geschminkte, expressionistische Gesichter, die Choristen tragen als Requisiten die Errungenschaften der Menschen und Symbole mit sich herum, Blut (wie das aus Amfortas’ Wunde oder beim gemeuchelten Schwan) wird durch rote Tücher imaginiert, der heilige Speer schwebt als Star-Wars-kompatibles Lichtschwert über der Szene. Das Jesus-Blut des Grals erscheint wie eine rote Ladeanzeige in den weißen Leuchten der Ritter, die als düsterer Geheimbund auftreten. Und zuweilen wird ein Teil des Publikums dezent ausgeleuchtet.
Die Blumenmädchen als Fleisches-Lusthäppchen
Im Klingsor-Teil wird es bunter. Nicht nur könnte man beim gefallenen Gralsritter mit blonder Tolle und Magenta-Krawatte über der misslichen, unwiderruflichen Keuschheit bescherenden Schnittstelle an einen aktuellen US-Präsidenten denken. Freyer evoziert Jahrmarktsflair durch farbige Kugelleuchten und luftballonartig schwebende Lichtkreise. Die Blumenmädchen müssen als karikierte Fleisches-Lusthäppchen herumalbern – ach ja...
Damit man nicht auf falsche Gedanken kommt, lässt Freyer Kernwörter als Denk-Wegweiser projizieren: Nacht und Schwarz zu Beginn, Leid, Klage, Schuld, oder Flucht, Liebe, Licht, Traum, Erlösung und viele andere, mal einzeln, mal als ineinander verstrickte Wort-Collage. Von der, als Parsifal vom törichten Jüngling zum verantwortungsvollen Gralskönig gereift ist, der seine eigene Schuld begriffen und Kundry sowie Amfortas erlöst hat, als programmatisches Wort stehenbleibt: Anfang.
All das sorgt dafür, das Wagners religiös waberndes Mysterienspiel in die Tableaus einer Graphic Novel versetzt scheint, was ihm keine Chance lässt, ins dumpfe Überpathos des Bayreuther Meisters wegzurutschen und dem Publikum hehre Gefühle einzuimpfen. Freyer meistert das mit einigem Augenzwinkern (wie bei den Häschen-Zitaten von Schlingensiefs Bayreuther Dauerdrehbühne oder der manierierten Gestik aus dem direkten Hamburger Vorgänger-„Parsifal“ von Bob Wilson). Seine Bühne ist fesselnd, atemberaubend zuweilen und manchmal hinreißend poetisch.
Eindeutige Erkenntnisse darf man nicht erwarten, stattdessen kann sich jeder Zuhörer ein individuelles Päckchen voller eigener Problemen, Fragen, Andeutungen, Bilder, Erinnerungen schnüren und zu Hause weiterdenken. In dieser Inszenierung findet sich eine Überfülle an Dingen, die Anstoß dafür sein könnten und sollten.
Kent Nagano und die Philharmoniker im stoffüberdeckelten Orchestergraben tragen das ideologiekritische und menschennahe Konzept Freyers grandios in Wagners Partitur. So transparent und schlank hörte man das Grals-Drama selten. Und mit einer Extra-Portion Intonationsfreude musste man keine Angst mehr haben vor lang ausgehaltenen Bläser-Terzen. Lupenrein auch das Blech, quer durch die Partitur viele Nebenstimmen hörbar, kein blindes Vertrauen auf Klangrausch außer beim Abendmahlspathos. Naganos Konzept vereinte feine Balance und Präzision, blieb allerdings bei den großen Emotionen manchmal zu zurückgenommen, was beispielsweise den Schmerz des wunden Gralskönigs Amfortas schon fast beiläufig machte.
Apropos Schmerzen – wenn man die Blumenmädchen (Athanasia Zöhrer, Hellen Kwon, Dorottya Láng, Alexandra Steiner, Gabriele Rossmanith, Nadezhda Karyazina) schon optisch veralbert, hat man ihnen dann per Regieanweisung auch noch allzu viel und homogenen Wohlklang untersagt? Da musste Parsifal leider so gar keine Angst vor musikalischer Verführung haben.
Hervorragende Visitenkarte für die Hamburgische Staatsoper
Eher schon die Tenor-Fans, die von Parsifal-Sänger Andreas Schager, der die Rolle dieses Jahr auch in Bayreuth sang, bestens bedient wurden: fein angeschärftes Timbre, makellose Höhen und bewundernswertes Stehvermögen. Große Textverständlichkeit, bei Wagner keine Selbstverständlichkeit, brachte an diesem Abend erfreulicherweise nicht nur Schager mit, sondern die Solisten aller großen Partien. Der profunde Gurnemanz von Kwanchul Youn – in der Rolle ebenfalls Bayreuth-gestählt und eine sichere Bank – ließ ebenfalls keine Wünsche offen.
Vladimir Baykov als Klingsor sang mit Verve und Feuer, Claudia Mahnke brachte die komplexe Figur der Kundry mit eindrucksvoll expressivem Spiel und hochexpressiver Stimme auf die Bühne, rau anfangs, dann zunehmend weicher und verführerischer – sie lotete die vielen Facetten von Kundrys Persönlichkeit sorgfältig aus. Da fiel unter den Hauptfiguren nur Wolfgang Koch etwas zurück, der dem leidenden Amfortas am Premierenabend nicht immer zur letzten Eindringlichkeit verhalf.
Bleibt der Chor, den Eberhard Friedrich auf den Moment genau zur Höchstleistung einstellt. Das klappte auch diesmal fast durchgehend, allerdings gab es einige Stellen, an denen die Koordination von der dunklen Bühne herab mit dem Orchester unter der Plane hörbar rumpelte.
Insgesamt ist dieser „Parsifal“, vom Publikum auffällig ausdauernd und geradezu frenetisch bejubelt, eine hervorragende Visitenkarte für die Hamburgische Staatsoper. Und ein Highlight, das Legende entgegenstehen wird, nur Elbphilharmonie und Musicals seien, kulturell betrachtet, den Besuch in Hamburg wert.
Richard Wagner: Parsifal
Staatsoper Hamburg, Großes Haus, Dammtorstraße 28, 20354 Hamburg
Nächste Aufführungen: 24., 27. und 30. September (jeweils 17 Uhr), 3. Oktober, 16 Uhr.
Preise: 8,00 EUR bis 195,00 EUR
Musikalische Leitung: Kent Nagano
Inszenierung, Bühne, Kostüme und Licht: Achim Freyer
Mitarbeit Regie: Sebastian Bauer
Mitarbeit Bühnenbild: Moritz Nitsche
Mitarbeit Kostüm: Petra Weikert
Lichtdesign: Sebastian Alphons
Video: Jakob Klaffs/Hugo Reis
Dramaturgie: Klaus-Peter Kehr
Zwei Pausen von je 25 Minuten nach dem 1. und 2. Akt
In deutscher Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln
Unterstützt durch die Stiftung zur Förderung der Hamburgischen Staatsoper
Abbildungsnachweis: Alle Fotos Hans-Jörg Michel
Header: Athanasia Zöhrer, Vladimir Baykov, Alexandra Steiner
Galerie:
01. Tigran Martirossian, Wolfgang Koch, liegend: Andreas Schager, Herrenchor der Hamburgischen Staatsoper
02. links: Tigran Martirossian, Wolfgang Koch, Herrenchor der Hamburgischen Staatsoper; mitte,rechts: Andreas Schager
03. Andreas Schager, Claudia Mahnke
04. Klingsor Double, Kwangchul Youn, Sascha Emanuel Kramer
05. Claudia Mahnke, Vladimir Baykov
06. Andreas Schager, Claudia Mahnke
07. Kwangchul Youn, Andreas Schager, Claudia Mahnke
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