Johann Sebastian Bach: Weihnachtsoratorium. Vom Fürstenruhm zum Gotteslob II
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Was war da geschehen?
Es gab immer wieder Klagen, der Kantor komme seinen Pflichten an der Thomasschule nicht nach, besonders nicht dem ungeliebten Lateinunterricht – „Der Cantor tuet nichts!“ hieß es. Es gibt Streit mit einem Präfekten des Thomaner-Chores, der bis vor den Rat gebracht wird. Das stieß den Ratsmitgliedern sauer auf. Im Ratsprotokoll vom 2. August 1730 heißt es: Weil er „über alle Maßen halsstarrig und incorrigibel“ sei, wurde beschlossen, „dem Kantor die Besoldung zu verkümmern“.
Tiefpunkt der Zusammenarbeit ist Bachs „Kurtzer; iedoch höchstnöthiger Entwurff einer wohlbestallten Kirchen Music; nebst einigem unvorgreiflichen Bedencken von dem Verfall derselben“ – seine ausführliche Denkschrift von Ende August 1730 an den Rat der Stadt, in der er klagte, er habe 2summa 17 zu gebrauchende, 20 noch nicht zu gebrauchende und 17 untüchtige“ Sänger zur Verfügung. Eine qualitativ hoch stehende Kirchenmusik war häufig nur möglich, weil Leipziger Studenten und einige Schüler und Söhne Bachs aushalfen.
In einem Brief an seinen Freund Georg Erdmann lässt der Cantor einen Blick darauf zu, wie es in Bach damals gekocht haben muss. Bach schreibt, dass er es mit einer „wunderlichen und der Musik wenig ergebenen Obrigkeit“ zu tun habe, und mithin fast in stetem Verdruß, Neid und Verfolgung leben muß, als werde genöthiget, mit des Höchsten Beystand meine Fortun anderweitig zu suchen.“
Heißt im Klartext: Ich suche mir eine neue Stelle, am liebsten anderswo. Und als er realisiert, dass das nicht so einfach möglich sein wird, packt er ein zweites Eisen ins Feuer. Deshalb schreibt er an den Kurfürsten weiter in seinem Begleitbrief zur h-Moll-Messe: Er hoffe, „dass, die Bekränckungen aber gänzlich nachbleiben möchten, daferne Ew. Königliche Hoheit mir die Gnade erweisen und ein Praedicat von Dero Hoff-Capelle conferiren, und deswegen zu Ertheilung eines Decrets, gehörigen Orths hohen Befehl ergehen laßen würden.
Solche gnädigste Gewehrung meines demüthigsten Bittens wird mich zu unendlicher Verehrung verbinden und ich offerire mich in schuldigsten Gehorsam, iedesmahl auf Ew. Königlichen Hoheit gnädigstes Verlangen, in Componirung der Kirchen Musique sowohl als zum Orchestre meinen unermüdlichen Fleiß zu erweisen, und meine ganzen Kräffte zu Dero Dienste zu widmen, in unauffhörlicher Treue verharrend Ew. Königlichen Hoheit unterthänigst-gehorsamster Knecht Johann Sebastian Bach.“
Manchmal helfen Huldigungsmusiken
Was hätten die Leipziger wohl dazu gesagt? Bach geht mit diesem Brief ein hohes Risiko ein. Der erhält den königlichen Eingangs-vermerk vom 19. August 1733. Und dann passiert – erst mal gar nichts. Doch Bach lässt nicht locker und nutzt jede Gelegenheit, sich in Erinnerung zu bringen. Und komponiert vor allem weiter seine Huldigungskantaten, prächtige, königliche Musik, gern mit Pauken und Trompeten.
Schließlich erneuert er seine Bitte am 27. September 1736 nochmals, und am 19. Oktober 1736 wird ihm der wohlklingende Titel eines „Kurfürstlich-sächsischen und königlich-polnischen Hofcompositeurs“ verliehen. Bach reist umgehend zu einem großen Dankkonzert in der Dresdner Frauenkirche, spielt dort auf der neuen dreimanualigen Silbermann-Orgel. Dann steht es Anfang Dezember endlich auch in der Zeitung, und jeder kann es lesen, auch in Leipzig.
Der Dresdner Hoftitel schützte Bach vor weiteren Nickeligkeiten der Leipziger Obrigkeit – niemand anderes hatte so etwas in Leipzig, er steht unter dem direkten Schutz des Königs und ist für den Rest seines Lebens nahezu unverwundbar.
Das war also der Hintergrund eines guten Teils der weltlichen Kantaten. Es ist wunderbare Musik, denn es war Bach ja auch sehr ernst mit dem erhofften Schutz aus Dresden.
Muss man erwähnen, dass Bachs der Schaffensdrang für das sächsische Königshaus vom Herbst 1736 an zügig abnimmt? Dafür hat er nun ein anderes Problem: Schubladenweise hat er großartig instrumentierte Kantaten herumliegen, die er eigentlich nicht mehr nutzen kann. Er kann ja schlecht beim nächsten Geburtstag dem Kurfürsten mit derselben Kantate kommen wie im Jahr zuvor.
Zweitverwertung für den Fürstenruhm
Gleichzeitig hat er einen enormen Produktionsdruck, jeden Sonntag und Feiertag eine neue Kirchenkantate zu präsentieren. Was liegt da näher, als den Fürstenruhm einer Zweitverwertung als Gotteslob zuzuführen? Und wir fragen uns heute: Ja, durfte er das denn?
Heute denken wir oft, Bach ist ein Riese der Musikgeschichte, ein Solitär. Und vergessen dabei: Bach mit seiner ganzen Kunst kommt ja nicht aus dem Nichts. Er steht auf breiten und soliden Schultern einer ganzen Reihe von Musiker-Generationen. Der begnadete Bach-Interpret Ton Koopman hat das vor Jahren mal in einem denkwürdigen Konzert im Bucerius Kunstforum in Hamburg demonstriert: Er spielte Werke aus Bachs Bibliothek.
Bach besaß eine sehr vorzeigbare Noten-Bibliothek mit Werken damals zeitgenössischer Komponisten, er hatte ihre Stilmittel gut studiert: die Chromatik zum Beispiel von Michelangelo Rossi, Formen wie die Toccata, die Ciaccona oder die Fuge bei Buxtehude in Lübeck. Wir erinnern uns an seine Reise im Jahr 1705 zu Dietrich Buxtehude nach Lübeck, wo er seine vier Wochen Urlaub um glatte drei Monate überzog und sich in Arnstadt, wo er als Organist hätte arbeiten sollen, ordentlich Ärger einhandelte deswegen.
Bach hat Themen von Corelli auf der Orgel fugiert, hat etliche von Vivaldis Violinkonzerten zu Orgel- oder Cembalo-Konzerten umgearbeitet, mit Hinweis auf das Original stehen sie heute in Bachs Werkeverzeichnis.
Ich erinnere ein Konzert des Briten Andrew Parrott in St. Michaelis, ebenfalls mit Werken anderer Komponisten aus Bachs Bibliothek. Und an die Erleuchtung, die mich überfiel, als ich das Vokalstück eines Komponisten hörte, dessen Name leider mir entfallen ist, hörte, das aber ohne große Umarbeitung die Blaupause zum Crucifixus der h-Moll-Messe abgegeben hat.
Bach hatte, genau wie Monteverdi, Telemann, Händel oder Hasse, kein Problem damit, sich an fremden Stücke und Ideen zu orientieren – das Urheberrecht war noch nicht erfunden. Und warum sollte er da ausgerechnet bei dem Komponisten nicht abschreiben, den er am besten kannte und den auch hoch schätzte – bei sich selbst?
Parodie oder Originalität?
Dieses sogenannte Parodie-Verfahren, Musik in anderen Zusammenhängen wiederzuverwenden, Musik mit anderen Texten aufzuführen als denen, für die sie ursprünglich mal komponiert war, war damals in der feudal strukturierten Gesellschaft weit verbreitet. Es verschwand langsam von der Bildfläche, als mit dem Erstarken des Bürgertums sich die Idee von der Einzigartigkeit des genialen Individuums und der Originalität seiner künstlerischer Hervorbringung durchsetzte und eine Wiederverwendung als mindestens minderwertig, wenn nicht sogar verwerflich galt.
Bach hat noch fröhlich umgedichtet, allein im Weihnachtsoratorium stammen 22 von 64 Musiknummern aus früheren Werken und wurden mit einem neuen Text versehen. Ganz ähnlich ging er bei der in seinen letzten Lebensjahren zu kompletten lateinischen Messe ausgebauten h-Moll-Messe vor, die ja ganz direkt zum religiös unterfütterten Fürstenruhm gedient hatte. Bach verwendet für viele der lateinischen Messe-Bestandteile weltliche Musik aus seinen Schubladen:
▪ für das Crucifixus und das Qui tollis peccata mundi
▪ für das Osanna, in dessen Originaltext es heißt:
„weil Gott den Thron deines Königs erhält Fröhliches Land
Danke dem Himmel und küsse die Hand
Die deine Wohlfahrt noch täglich lässt wachsen
Und deine Bürger in Sicherheit stellt
▪ für das Gratias agimus tibi
▪ für das Et expecto, und für etliche andere.
Die h-Moll-Messe ist auch keineswegs eine Endlagerstätte. Ihr „Gloria“ wandert 1745 weiter in eine prachtvolle Weihnachtskantate.
Im Internet findet sich eine lange Liste von Originalen und Parodien im Schaffen Bachs, in der man sehen kann, wie vielfältig er seine Musik eingesetzt hat: Duette aus Kantaten wandern in die Schübler-Choräle für Orgel. Ein Vivaldi-Thema findet sich in der Sinfonia der Kanate „Ich hatte viel Bekümmernis“ wieder. Etliche Takte aus einem ansonsten verlorenen Cembalokonzert hat Bach in der Kantate „Geist und Seele sind verwirret“ recycelt.
Ein Satz aus dem 3. Brandenburgischen Konzert 3 wird zur einleitenden Sinfonia der Kantate BWV 174.
Wundersame Wege der Bach-Musik
Die Sinfonia einer Kantate wiederum kann zum Eingangssatz einer Triosonate für Orgel werden. Arien wandern in das Klavierbüchlein für Anna Magdalena Bach. Der erste Satz aus der 4. Orchestersuite taucht in einer Kirchenkantate wieder auf.
Ein Satz einer Violinsonate wird einer geistlichen Arie unterlegt.
Anders herum liefert eine Arie aus einer weltlichen Kantate das Thema zum Dritten Satz einer Violinsonate. Oboenkonzerte werden zu Klavierkonzerten. Und heute verlorene Violinkozerte begleiten, wohl etwas modifiziert, Arien in Kantaten und Messen.
Teil 3 folgt morgen.
Empfehlenswerte Aufnahmen:
h-Moll-Messe
▪ Collegium vocale, Philippe Herreweghe, 2012. Phi
▪ La capella reial de Catalunya, Le Concert des Nations, Jordi Savall, 2012. CDs und DVDs, Alia Vox
+DVD1: Aufführung der Messe während des Fontfroide Festivals 2012
+DVD 2: Dokumentation (in frz. Spr.) "Bach and Savall" über die Proben zur Messe
▪ Petite Bande, Sigiswald Kuijken, 2009. Challenge Classics
▪ Cantus Köln, Konrad Junghänel, 2003. Harmonia Mundi
Abbildungsnachweis:
Header: Detail aus Rogier van der Weyden, Anbetung der heiligen drei Könige, Mitte 15. Jh. Urspr. in St. Columba in Köln
Galerie:
01. Titelseite und erste Seite des Librettos, Leipzig 1734
02. Eröffnungschor aus Teil I, in dem Bach den Text der Parodievorlage „Tönet, ihr Pauken! Erschallet Trompeten!“ in die Partitur übernimmt, durchstreicht und zu „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage“ korrigiert. 1734
03. Govaert Flinck, Ankündigung an die Hirten, 1639, Louvre Paris
04. DVD-Cover La capella reial de Catalunya, Le Concert des Nations, Jordi Savall, 2012
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