Film
Philomena

Er war drei Jahre alt und hieß Anthony. Irische Nonnen verkauften ihn in die USA.
Stephen Frears inszeniert die Suche nach dem verlorenen Sohn als tragisch komisches Roadmovie. Ein aufwühlender und unendlich trauriger Film. Grandios: Judi Dench!

Es ist eine wahre Geschichte. Die Namen wurden nicht geändert. Nie hat Philomena (Judy Dench) über jenes Geheimnis gesprochen, das sie seit Jahrzehnten quält. An diesem Tag ist der fünfzigste Geburtstag ihres Sohnes. Sie war 17 damals, als sie sich verliebt und schwanger wird. Im streng katholischen Irland eine unverzeihliche Schande. Die Eltern verstoßen die Tochter, geben sie zu den Nonnen ins Kloster Roscrea, in der Gemeinde Tipperary. Hier leben uneheliche junge Mütter wie in einem Straflager.

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Für drei Jahre müssen sie hart arbeiten in den klerikalen Wäschereien als angebliche ‚Entschädigung’ für die Kosten, die ihre Geburt verursacht hat. Nur eine Stunde am Tag dürfen sie ihr Kind sehen. Philomena bricht das Schweigen, erzählt der Tochter Jane (Anna Maxwell Martin) von jenem Moment, als sie im Kirchenchor sang und erfährt, dass Anthony gerade von Adoptiveltern abgeholt wird. Der Alptraum der jungen Mädchen. Die ausbeuterische Arbeit ertragen sie ohne zu klagen, aber der Gedanke ihr Kind nie wieder zu sehen, lässt sie verzweifeln. Philomena (Sophie Kennedy Clark) rast durchs Haus in den Schlafsaal, muss am Fenster zusehen wie unten in der prächtigen Einfahrt der Kleine arglos in eine Limousine steigt. Eigentlich war ein anderes Kind an der Reihe, ein kleines Mädchen mit dem Anthony immer spielte. Rührend wie sie aneinander hingen. Es schluchzt fürchterlich, als es von dem Jungen getrennt werden soll. Um sich weiteren Ärger zu ersparen, nehmen die Adoptiveltern beide Kinder mit.

Jane ist zutiefst erschüttert. An diesem Abend sieht sie auf einer Party zufällig Martin Sixsmith (Steve Coogan), dessen Gesicht sie vom Fernsehen her kennt, sie spricht ihn an und erzählt ihm die Geschichte ihrer Mutter. Sixsmith, ein ehemaliger BBC-Auslandskorrespondent und als Spin-Doctor von Premier Tony Blair in Ungnade gefallen, hat sich noch nicht daran gewöhnt kein ‚Celebrity’ mehr zu sein. Die Presse zieht böse über ihn her, seine Laune ist dementsprechend. Alles was er da hört, klingt nach einer Human Interest Story, seiner Ansicht nach etwas für höchst einfältige Leser und weit unter seinem Niveau. Sixsmith demonstriert unmissverständlich Desinteresse. Nur die Karrierechancen sind mau und so entschließt er sich wenig später, wenn auch recht widerwillig, die Geschichte für eine Tageszeitung zu recherchieren, die auf dergleichen Themen voll abfährt. Was Sixsmith bei einem Treffen in einem Kettenrestaurant – auch unter seinem Niveau – zu sehen bekommt, entspricht seinen schlimmsten Befürchtungen. Eine patente kleine Lady aus der Arbeiterklasse, pensionierte Krankenschwester, die unaufhörlich plappert, keinen seiner coolen zynischen Sprüche auch nur ansatzweise als Humor identifiziert, sondern alles wörtlich nimmt. Tochter Jane weist liebevoll darauf hin, es wäre ein Scherz gewesen, also lacht Philomena pflichtschuldig das nächste Mal, nur das war nun wiederum ernst gemeint. Aber die Story hat Potenzial, nichts anderes zählt für den Journalisten.

Der Film beruht auf Martin Sixsmiths 2009 erschienenem Buch „The Lost Child of Philomena Lee“. Steve Coogan, Co-Autor und Co-Produzent, kommt selber aus einer irisch-katholischen Familie. Er war die treibende Kraft dieses Projekts und ist überzeugter Atheist. Die erste Station der Recherchen ist das Kloster. Die neue Oberin trägt ein modernes Habit, gibt sich betont freundlich und versteht sich aufs Mauern. Sie stellt klar, dass sie mit Fakten leider nicht dienen kann, die Akten sind alle verbrannt, offeriert aber außer Tee und Früchtebrot generös seelischen Beistand. Philomena genügt das vollauf, in ihrer unerschütterlichen Rechtschaffenheit kennt sie kein Misstrauen. Sixsmith, der Politprofi mit einem untrügerischen Gespür für Lügen, weiß zwar, da wird was vertuscht, aber nicht was und wie er an die notwendigen Informationen kommen kann. Bei einem Drink im benachbarten Pub erfahren die beiden, dass es nie einen Brand im Kloster gab, mehr so ein Lagerfeuer wo die kompromittierenden Unterlagen sich in Rauch auflösten. Und dann erzählt der Wirt von Jane Russell und vielen anderen aus den USA, die ins Kloster kamen um sich für 1000 Pfund ein Kind zu besorgen. Genau so war es gewesen. 1952 adoptierte der Hollywoodstar ein in Irland geborenes Baby, was zu Kontroversen und Schlagzeilen führte wie „1,000 Children disappear from Ireland”. Dass Geld im Spiel war, blieb kein Geheimnis, dubiose Beamte hatten für die nötigen Ausreisepapiere gesorgt, damit Export und Verkauf reibungslos über die Bühne ging. Doch schon bald sprach keiner mehr darüber, von staatlicher Seite schien kein Ermittlungsbedarf zu bestehen und 1.000 Kinder blieben spurlos verschwunden.

Steve Cogan und Jeff Pope greifen damit das Thema der Maria Magdalena Heime aus Peter Mullans Film „Die unbarmherzigen Schwestern” (2002) wieder auf, beschränken sich aber nicht auf die Ereignisse jener Jahre, sondern entwerfen ein ironisches Porträt der heutigen Gesellschaft. Die Klassenunterschiede scheinen trotz Demokratie unüberbrückbar. Sicher in der oberen Mittelschicht angekommen, fühlt sich der weltgewandte Bildungsbürger wie Sixsmith mit dem Wissen um Panna Cotta, Freifliegermeilen in der ersten Klasse und dem jeweiligen ‚dernier cri’ der Gastro- oder Modebranche jedem Normalmenschen überlegen. Die Adaption des umfangreichen Materials der Vorlage war bestimmt nicht einfach, aber das Drehbuch ist umwerfend. Sixsmith Zynismus reduziert die Gefahr falscher Sentimentalität. Mit großem Geschick und Einfühlungsvermögen hält er sich leicht im Hintergrund, überlässt seiner 78jährigen Kollegin den Vortritt. Doch jedes Wort von Philomena wird von ihm kommentiert, und wenn es nur mit einer Grimasse ist. Die Rolle der Philomena ist nicht ohne Tücken, Dench weicht ihnen geschickt aus, vermeidet jede Form der Rührseligkeit, sie gibt der Figur eine gewisse Würde. Sie denunziert nie die Gutgläubigkeit der Protagonistin, die ihre Weisheiten aus romantischen Kitschromanen bezieht und diese gern mit Anderen teilen würde. Vielleicht will sie auch nur kompensieren, was sie erlitten hat, flüchtet deshalb für ein paar Stunden in eine heile Welt, in der es noch so etwas wie Gerechtigkeit und ein Happy Ends gibt. Sie ist keine, die viel klagt. Die Schuld sucht sie, so hat es die Kirche sie gelehrt, zuerst bei sich selbst und eigentlich nur bei sich. David Sixsmith ist das genaue Gegenteil. Er und Philomena sind das perfekte ‚odd couple’, ein seltsame Paar, er der smarte Skeptiker, sie die scheinbar Naive. Dench kann umwerfend komisch sein, ironischerweise in dem Part einer Frau, der jeder Humor fehlt. Auch wenn der Zuschauer vielleicht erst über sie lacht, später hat sie seine volle Hochachtung, denn wie sie den selbstgefälligen Zynismus ihres Begleiters unterläuft, ist bewunderungswürdig. Philomena versteht nicht jedes seiner Bon Mots, aber das er sich selbst zerstört mit seiner überzogenen Menschenverachtung, das begreift sie durchaus.

Manche beanstanden mit falsch verstandener teutonischer Gründlichkeit, der Film würde profitieren von dem was er kritisiert, der “Human Interest Story”. Die Tränen der Zuschauer beim 70. Filmfestival disqualifizieren nach dieser Auffassung “Philomena” automatisch als Sob-Story, rührselige Geschichte, das war’s. Arthauskino: Wo Tränen verboten sind. „Human interest“ ist kein Synonym für billigen Sensationsjournalismus. Zwar werden gern heute viele Themen darauf getrimmt, Tendenz zunehmend. Aber wer in “Le Rafle du Vélodrome d’Hiver” (“Die Kinder von Paris”) weint, ist nicht jemand der einer kitschigen Geschichte aufgesessen ist. Eine Schwarzweiß-Dokumentation kann die gleiche Wirkung haben. Die Fähigkeit zur Betroffenheit darf nicht verloren gehen. Stephan Frears Stärke sind wie in “The Queen” die Nuancen, Zwischentöne, Finessen der Sprache. Der Film lebt von seinen Zwischentönen, er wird nie polemisch, gehässig, das überlässt der Regisseur Cogan/Michael als seinem Stellvertreter, der mit Ressentiments und Verachtung nicht zurückhält, in seiner skrupellos zynischen Art gekonnt herzieht über die Doppelmoral der Kirche wie auch die Homophobie der amerikanischen Republikaner. Die Gegensätzlichkeit der Protagonisten führt dazu, dass alles, von der Minibar im Hotel bis zur Existenz Gottes, von zwei Seiten dargestelt wird. Und dabei bleibt es nicht, Philomena und Michael beeinflussen einander, verändern sich, sie beginnen das Weltbild des anderen zu verstehen, in diesem Sinne funktioniert der Film wie ein Entwicklungsroman, ist der Flug nach Washington auch ein Selbstfindungstrip.

Dort angekommen entdeckt Martin Sixsmith dank seiner Kontakte, dass Anthony unbenannt wurde in Michael Hess, in den Achtzigern ein aufsteigender Stern der Republikanischen Partei war, politischer Berater für George W. Bush. Er ist ihm sogar einmal selbst über den Weg gelaufen, zumindest sind sie beide auf einem Foto. Michael war homosexuell und starb an Aids. Am ergreifendsten ist Philomenas enge Beziehung zu ihrem Sohn, sie lebt mit diesem Kind, von dem sie nichts weiter hat, als ein heimlich geschossenes Foto. Sie hat sich täglich gesorgt, ist er obdachlos, ist er.... Als hätte sie ihn hinaus in die dunkle Nacht gejagt. Und so wie sie ihn suchte, genau verzweifelt unternahm der Sohn jede Anstrengung seine Mutter zu finden. Darin liegt eine ungeheuerliche Grausamkeit, dass er angelogen wurde, mit dem Gedanken sterben musste, seine Mutter wolle ihn nicht sehen. Aber beide sind auf ihre Art sich ähnlich, störrisch, unbeirrbar in ihrer Liebe zueinander. Die Trauer über verpasste Gelegenheiten, wenn sie in einem Videofilm die verschiedenen Stationen des Kleinen anschaut, es zerreißt einem fast das Herz.

Als Zuschauer spürt man Wut, Frustration über die Kirche, ihre Verbrechen im Namen des Herrn, über Behörden aber auch Medien, die es wohl nicht als ihre Aufgabe sahen, dieser Story nachzugehen. “Das hätte ich ihm niemals bieten können,” sagt Philomena leise. Der einzige Trost. Und sie, die Ultrakonservative zeigt keinerlei Erstaunen, als sie erfährt, dass Michael gay ist. Sixsmtih befürchtete das Gegenteil, da hat er sich mal wieder gründlich in ihr getäuscht. Nein, das sei ihr schon damals klar gewesen.

Gemeinsam mit Steve Coogan (48) stellte Philomena Lee dem Papst ihre Kampagne vor zur Freigabe von 60.000 Adoptionsakten, die von der Kirche noch unter Verschluss gehalten werden. „Ich setzte immer großen Glauben in die Kirche und den guten Willen, vergangenes Unrecht zurechtzurücken", sagte Lee der „Irish Times". Hauptdarsteller und Co-Produzent Coogan, der sich selbst „gefallener Katholik" bezeichnet, erklärte gegenüber dem Sender BBC, Franziskus habe dem Treffen am Rand der päpstlichen Generalaudienz „vorab seinen Segen gegeben". Die Einladung sei vom Vatikan gekommen, sie nähmen das Projekt wahr als einen Weg, eine Hand auszustrecken und ein deutliches Signal zu geben. Am 5. Februar war eine Vorführung des Films im Vatikan geplant, aber Padre Lombardi, Leiter des vatikanischen Presseamts stritt dergleichen „Gerüchte“ ab, der heilige Vater sehe keine Filme und werde auch diesen nicht sehen. Es sei wichtig zu vermeiden, dass der Papst Teil einer Marketing Strategie werde. Die Website „protecthepope“ wirft Steve Coogan vor, er würde durch Lügen, den Namen von Schwester Hildegard McNulty beschmutzen (Anm. der Red.: Jener Ordensschwester, die verantwortlich für die ‚Adoptionen’ von Anthony und den anderer Kindern) sie hätte im Gegenteil für die Zusammenführung vieler Mütter und Kinder gesorgt.
Leider stimmt davon kein Wort!

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Originaltitel: Philomena
Regie/Drehbuch: Stephen Frears
Darsteller Judi Dench, Steve Coogan, Sophie Kennedy Clark, Anna Maxwell Martin, Ruth McCabe
Produktionsland: Großbritannien, Frankreich, USA Länge: 98 Minuten
Filmverleih: Universum


Fotos & Video: Copyright SquareOne/Universum

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