Film
“Blau ist eine warme Farbe”. Oder die Grenzen des Glücks

Eine hinreißende Liebesgeschichte von verstörender Eindringlichkeit und Intimität.
Sie endet als stille Tragödie, Grund: die sozialen Unterschiede. Große Gefühle in Nahaufnahme meisterhaft inszeniert von Regisseur Abdellatif Kechiche.
Atemberaubende schauspielerische Leistung von Adèle Exarchopoulos: Jedes Zucken des Mundes, die Andeutung eines Lächelns, Verlegenheit, Begierde, Angst, keine Nuance des Mienenspiels entgeht der Kamera (Sofian El Fani). Die Magie des Films ist, dass auch der Zuschauer 179 Minuten lang so viel Nähe zulässt.

Die 15jährige Adèle (Adèle Exarchopoulos) begegnet auf der Straße einer geheimnisvollen Frau mit blau gefärbten Haaren in enger Umarmung mit einer anderen Frau. Die Fremde wirft ihr einen wissenden Blick zu, grinst leicht amüsiert. Es ist Liebe auf den ersten Blick, trifft die junge Protagonistin wie ein Blitzschlag, sie begehrt Emma (Léa Seydoux) schon bevor sie deren Namen kennt. Mädchen gehen mit Jungs aus, das war bisher für die Schülerin eine Selbstverständlichkeit, das tat auch sie, zwar mit wenig Enthusiasmus, doch nun träumt sie von der verführerischen Unbekannten.

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In einem Lesbenclub trifft sie wieder auf Emma, die rebellische Kunststudentin aus der Oberschicht verkörpert Schönheit, Intelligenz, Freiheit. Sie gibt sich selbstbewusst, charmant, weltgewandt, scheint sich ihres Erfolgs immer sicher. Von Malerei hat Adèle wenig Ahnung. “Picasso” seufzt sie und damit hört es auch schon auf. Sie liebt Literatur, will Grundschullehrerin werden, im Arbeiterviertel zählt ein sicheres Einkommen mehr als künstlerische Ambitionen.

Doch Jean-Paul Satre und Bob Marley genügen als gemeinsamer Nenner für die beiden Mädchen, nach der ersten verlegenen Umarmung sind alle Unterschiede vergessen. Behutsam, zärtlich, ungestüm. Ihre verzehrende Leidenschaft ist wie ein Rausch, der sie erfasst, trotz aller Ekstase von frappierender Natürlichkeit, fast einer Form von Unschuld. Die Emotionen geben den Erzählrhythmus vor, Minuten, Stunden, Jahre, auch der Zuschauer verliert das Zeitgefühl.

In der Schule gibt es gehässig ordinäre Bemerkungen, lesbisch, das stößt auf Ablehnung und Aggression, ist Stigma, unumstößliches Tabu. Da hilft manchmal nur Leugnen und auch vor den jeweiligen Eltern gibt man sich eher kameradschaftlich. Sonst aber wird lesbische Liebe nie zum zentralen Problem. Der französische Regisseur tunesischer Herkunft geht damit so selbstverständlich um wie seine Protagonistinnen. Er wählte bewusst zwei Frauen, wollte beweisen, dass homosexuelle Liebe sich nicht unterscheidet von heterosexueller. Sein Ziel: die Mechanismen der Liebe zu dechiffrieren.

Der Originaltitel “La Vie d’ Adèle- Chapitres 1 & 2” bezieht sich auf den unvollendete Roman von Pierre Carlet de Marivaux “La vie di Marianne”(1731). Er steht auf dem Stundenplan von Adèle. Abdellatif Kechiche verbindet in seinen Filmen immer wieder französische Klassiker mit proletarischer Realität wie in “Esquive”(2003), dort probt eine Gruppe von Jugendlichen die Komödie “Das Spiel von Liebe und Zufall”. Bei Marivaux helfen die großen Gefühle Standesunterschiede zu überwinden. “In Blau ist eine warme Farbe” gelingt es den Akteuren nicht.

Das spießige kleinbürgerliche Elternhaus hat Adèle geprägt. Sie ist idealistisch, lebenslustig, warmherzig, lacht gerne, kann phantastisch mit Kids umgehen und hat einen unstillbaren Appetit. Sie ist Sinnlichkeit pur. Ihr beim Essen zuzuschauen ein Erlebnis. Und genau deshalb entschied sich der Regisseur auch für sie. Was ihr völlig fehlt, die Raffinesse, Selbstsicherheit, das Upper Class Gehabe von Emma. Jahre sind vergangen, die beiden leben zusammen. Tagsüber arbeitet Adèle in einem Kindergarten, während ihre Partnerin eine Party nach der anderen feiert und an ihrer Karriere bastelt. Die junge Künstlerin ist wie geschaffen fürs Rampenlicht, genießt es im Mittelpunkt zu stehen. Ihre Freunde behandeln Adèle mit arroganter Herablassung, sie macht hier nur eine unglückliche Figur. Emma hat versucht sie zum Schreiben zu überreden, hofft auf eine Künstlerin an ihrer Seite. Eine Kindergärtnerin gilt in dieser Welt als unendlich langweilig und peinlich.

Die physische Anziehungskraft lässt nach, die Kluft zwischen den beiden Frauen wächst. Adèle wird eifersüchtig, betrügt Emma aus Rache mit einem Mann. Die Freundin kann oder will ihr nicht verzeihen. Das ist das Ende. Jahre sind vergangen, Adèle arbeitet als Grundschullehrerin, sie hat sich verändert, an das vor Lebensfreude sprühenden junge Mädchen erinnert wenig. Emma ist bis heute noch ihre große Liebe, die einzige Frau, die sie liebt. Die beiden haben sich nie wieder gesehen.

An diesem Tag findet eine Vernissage statt, wie zu erwarten wurde Emma eine erfolgreiche Malerin. Und nicht nur das, sie, die stets auf Freiraum und Unabhängigkeit beharrte, hat nun eine kleine Familie, eine zauberhafte Partnerin mit Kind. Und trotzdem wagt Adèle das Wahnwitzige, sie bittet Emma zu ihr zurückzukommen. Man möchte schreien: Tu es nicht. Aber zu spät. Die Antwort ist abzusehen. Und jetzt folgt eine der herzzerreißendsten Szenen der Filmgeschichte. Adèle weint, mit der gleichen Kraft, Intensität mit der sie all die Jahre geliebt hat, ohne Vorbehalt, absolut, für immer. Emma hatte sie gewarnt schon ganz am Anfang, umsonst. Die Protagonistin heult Rotz und Wasser. Ihr Gesicht beherrscht die Leinwand. Dieses Schluchzen ist das Gegenstück zu jenen spektakulären, viel diskutierten Sex-Szenen. Spätestens jetzt haben sie ihre Berechtigung.

Der unerträgliche Schmerz, die Einsamkeit der Protagonistin erinnert an Francois Truffauts “Die Geschichte der Adèle H.”(1975) mit Isabelle Adjani in der Hauptrolle. Die Tochter des französischen Schrifttellers Victor Hugo verliebt sich unsterblich in den britischen Offizier Lt. Albert Pinson und folgt ihm 1863 nach Halifax Kanada. Obwohl der Leutnant sie zurückweist, schreibt sie ihrer Familie, dass sie ihn geheiratet habe. Sie folgt Albert nach Barbados, lebt nur noch in der Wahnwelt ihrer obsessiven, aber unerwiderten Leidenschaft. Natürlich ist “Blau ist eine warme Farbe” als Chronik einer Liebe in seiner Thematik einfacher, scheinbar alltäglicher. Doch die Wucht, die Eindringlichkeit der Gefühle ist die Gleiche. Es gibt kein Entrinnen für die Betroffenen. Abdellatif Kechiche und seine Co-Autorin Ghalya Lacorix haben bei der Adaption von Julie Marohs Grafic Novel bewusst darauf verzichtet, dass die Protagonistin stirbt wie in dem Comic. Zwar wird Adèle vom Schmerz überwältigt, aber, so der Regisseur: ”Irgendwie hält sie dem Schicksal stand. Wenn ich erlebe, wie ein Mensch, wer immer das sein mag, so viel Mut aufbringt, dann verwirrt mich das geradezu.” Das Wissen um diese unendliche Traurigkeit der Heldin macht den Film zur Tragödie.

In Cannes war die Mehrzahl der Kritiker begeistert, hingerissen von dem einfühlsamen Liebesdrama. Jury-Präsident Steven Spielberg zeichnete nicht nur, wie sonst üblich, den Regisseur mit der Goldenen Palme aus sondern auch die beiden Hauptdarstellerinnen. “Die längsten, intimsten und explizitesten Sex-Szenen in der Geschichte des Mainstreamkinos,” schrieb Peter Bradshaw vom Guardian. Dem französischen Autorenfilmer war “vor allem daran gelegen, das zu zeigen, was mir selbst schön erscheint. Also haben wir diese Szenen so gedreht, als hätten wir mit Gemälden oder Skulpturen zu tun”.

Kritik gab es trotzdem, und zwar sehr harsche. Julie Maroh, Autorin der ‚Grafic Novel’ beklagt sich, dass der Film eine reine Männerphantasie sei. Pornographisch hieß es von anderer Seite, das bestimmt nicht. Vielleicht zu harmonisch, zu choreographiert, aber genau das wollte Kechiche. Die Euphorie und der Beginn einer großen Liebe verklärt alles, es gibt nichts, keine Probleme, Differenzen, nur den Rausch, die Schönheit des Moments. “Die Zeit ist reif für solche Bilder”, erklärte der Regisseur, da mag er sich getäuscht haben. Die Auseinandersetzung scheint um so bedauerlicher, weil man als Zuschauer eigentlich spüren muss, wie Kechiche seine Schauspielerinnen beschützt, respektiert. Die Akteure erinnern ein wenig an “Die Badenden” von Pierre-Auguste Renoir. Grade die sanften Formen von Adèle haben das seltsam Antiquierte impressionistischer Gemälde. Die Parallelen sind nur angedeutet, doch unübersehbar auch in der Farbgebung. Das rebellische Blau wird zum Synonym für Glück, Lebensfreude, verschwindet dann aber langsam ganz aus dem Film.

“Nicht überzeugende lesbische Sexszenen” lautet der Vorwurf von Maroh. Gehe ich wegen “überzeugender” Sexszenen in ein Arthauskino? Bestimmt nicht. Gefährliches Terrain, man will nicht als politisch unkorrekt eingestuft werden. Meinetwegen hätten die Szenen kürzer oder auch nur angedeutet werden können. Aber hier haben sie ihre Berechtigung, machen einen Teil der Magie aus. Der Film hat eine große Wahrhaftigkeit fern jeder Sentimentalität. Sogenannte Männerphantasien, das sei ergänzt, fallen meist etwas härter aus. Dass es für beide Darstellerinnen ein Schock gewesen mag, plötzlich ihren Körper in Cinemascope auf der riesenhaften Leinwand zu sehen, möglichst Vater, Mutter, Tanten drei Sitzreihen hinter ihnen, okay.,. aber das müssen sie mit sich selbst ausmachen. Ich wage nur zu bezweifeln, dass weibliche Phantasien oder überzeugende lesbische Sexszenen ihnen die Arbeit einfacher gemacht hätten. Natürlich wenn in einem Take gedreht wird, wieder und wieder dieselbe Szene, das mag hart sein, nur wenn ein Oeuvre so einhellig als Meisterwerk gepriesen wird, sollte einem spätestens dann klar werden, dass der Aufwand und die Anstrengung berechtigt war.

Vielleicht ein besseres Argument: das Schwarzweiß-Foto von Susanne Lothar als Lulu in der Inszenierung von Peter Zadek, 1988. Sie sitzt auf dem Schoß von Ulrich Wildgruber. Das war eine extreme Rolle, dazu gehörte Mut. Sie war grandios, nicht nur in diesem Part. Wenn junge Darstellerinnen jammern, sie hätten keinen Stunt gehabt für solche Rolle, kann man nur die Achseln zucken. Zuletzt war der Regisseur so erbost, dass er den Film zurückziehen wollte. Verständlich, solche Negativ-PR kann tödlich sein für die Karriere.

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Originaltitel: La Vie d’ Adèle – Chapitres 1 & 2
Regie: Abdellatif Kechiche
Darsteller: Léa Seydoux, Adèle Exarchopoulos, Salim Kechiouche
Frankreich 2013, Länge: 179 Min, Verleih: Alamode
Kinostart: 19. Dezember 2013

Fotos & Video: Copyright Alamode

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