Film
Film: The Artist - Eine Geschichte vom alten Hollywood

Als dieser Film im Mai 2011 bei den 64. Internationalen Filmfestspielen von Cannes gezeigt wurde, hat das Publikum ihn in außergewöhnlicher Weise beklatscht und mit Bravo-Rufen gefeiert.
Außerdem pladderten die Preise: Es gab die Goldene Palme für Hauptdarsteller Jean Dujardin; später beim Hamptons International Film Festival 2011 den Publikumspreis („Best Narrative Feature“); beim Hollywood Film Festival 2011 den „Spotlight Award“ für sowohl Jean Dujardin als auch Hauptdarstellerin Bérénice Bejo; weiter den Europäischen Filmpreis 2011: Nominierungen in den Kategorien Film, Darsteller (Jean Dujardin), Kamera und Filmmusik.
Ganz nebenbei gewann auch noch der kleine weiße Terrier Uggy (gewissermaßen der zweite männliche Hauptdarsteller) den PALM DOG AWARD ‚für eine der besten Darbietungen in der Geschichte des Preises‘. Diese inoffizielle Auszeichnung für den besten Kinohund des Jahres leistet man sich in Cannes seit elf Jahren, dotiert ist er mit einem Halsband und einer Flasche Gin.

In Frankreich thronte das Werk anschließend in den Kino-Charts auf Platz 1.

Ich fürchte, es wird trotzdem hierzulande eher floppen.
Als Popcorn-Knüller gelten ja vor allem technisch raffinierte Leinwandwerke. Die Zeiten sind – wie immer – hart, und welcher Kinobesitzer sollte sich Kunst antun, wenn er 3D zeigen kann?
Wenn in einem Film etwas mehr geredet als gedroschen wird, verwerfen ihn entsprechende Redakteure bereits als ‚dialoglastig‘.
Das allerdings kann man ‚The Artist‘ nun wirklich nicht vorwerfen, denn hier handelt es sich nicht nur um einen Schwarz-Weiß- sondern auch noch um einen Stummfilm.
Wie bitte?
Doch. Um einen Stummfilm aus dem Jahr 2011.
Es gibt natürlich einige (sparsame) Zwischentitel.
Wenn das nicht sprachlos macht…
Ein Liebesfilm übrigens, und das ist mehrdeutig. Einerseits enthält er eine romantische Erzählung um zwei Menschen. Andererseits aber und vor allem macht Regisseur Michel Hazanavicius dem Film an sich, dem Kino, dem Goldenen Zeitalter des alten Hollywoods, einen zärtliche Liebeserklärung. Und das so genial, dass er jedem, der Sinn dafür hat, der ebenfalls das Kino liebt, vermutlich Tränen in die Augen treibt (spätestens in der allerletzten Szene, die ein altes Studio mit Beleuchtern unterm Gebälk und Mikrophon-Galgen zeigt. Man kann die Atmosphäre geradezu riechen!)

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Die Geschichte beginnt im Jahr 1927. George Valentin (Jean Dujardin) ist eine Art Douglas Fairbanks senior mit einigen gehäuften Löffeln Errol Flynn und einer Prise Fred Astaire, der strahlende Held und Draufgänger, der angebetete Superstar, kurz: der König von Hollywood.
Valentin spielt den unbesiegbaren Musketier, den mutigen Piloten, den scharfsinnigen Spion. Er kann praktisch nicht umhin, sich selbst ein bisschen anzubeten, doch sogar das wirkt noch sympathisch, weil Dujardin es so leicht und glücklich serviert. Er tänzelt durch’s Leben, gefolgt von seinem kleinen Hund Jack, der wie ein Körperteil zu ihm gehört und deshalb selbstverständlich auch in Valentins Filmen mitspielt.
Nach der Premiere des neuesten Streifens, ‚A Russian Affair‘, als er von Fans und Presse umringt wird, stolpert ihm eine junge Statistin vor die Füße, Peppy Miller (Bérénice Béjo). Sie stutzen, lächeln sich an – und gerade Dujardin wie auch Béjo sind dafür hervorragend ausgestattet, da beide über imposante, blitzende Zahnreihen verfügen – schäkern ein wenig miteinander und natürlich, weil’s ihnen im Blut liegt, mit den sie umgebenden Kameras. Das Ergebnis, ein Wangenküsschen, landet am nächsten Morgen auf der Titelseite des Variety mit der Schlagzeile: ‚Who's that girl?‘
Darüber kann sich Doris (Penelope Ann Miller), die Gattin des Superstars, gar nicht freuen. Sie ist nicht mal durch die charmanten Schelmereien, die Herr und Hund zur Versöhnung liefern, zu erweichen: wahrscheinlich kennt sie dergleichen inzwischen auswendig. Valentin bittet sein ergebenes Faktotum, den Chauffeur Clifton (James Cromwell), der Schmollenden ein sedierendes Schmuckstück zu besorgen.
Für die ehrgeizige Peppy ist das Titelfoto zunächst weniger hilfreich als gedacht, sie sitzt nach wie vor in der Warteschlange für kleine Komparsenrollen als Tänzerin, jetzt für den Spionagefilm ‚A German Affair‘. Und wieder kommen ihr der Zufall und der König von Hollywood zu Hilfe: Valentin bemerkt Peppys hübsche Beine, ohne ihren Oberkörper zu sehen, hinter einer Kulisse, als sie noch einige Tanzschritte übt. Sofort macht er – ständig zur Selbstdarstellung aufgelegt – sich und den Umstehenden den Spaß, dazu ein Pas de deux zu liefern.
Durch diese Aufmerksamkeit erhält Peppy den begehrten 2-Minuten-Part: einen kurzen Gesellschaftstanz mit dem Hauptdarsteller.

Das ist sicherlich eine Anspielung darauf, wie der Aufstieg von Tony Curtis begann, der 1949 in einer Winzrolle des Films ‚Gewagtes Alibi‘ ein wenig mit Yvonne De Carlo Rumba tanzte: obwohl man ihn nur ungefähr vier Sekunden lang im Profil sehen kann – bei YouTube zu bestaunen – und sein Name natürlich nicht im Abspann vorkommt, wurde das Studio von mehreren zehntausend Briefen plattgewalzt, alle an ‚den schönen Tänzer von Yvonne De Carlo‘.
Wie natürlich überhaupt ‚The Artist‘ vor Anspielungen strotzt, man kann gar nicht alle aufzählen und sollte es auch nicht tun, um den Zuschauern nicht den Spaß zu verderben, sie selbst zu entdecken.

Peppy möchte sich bei George Valentin bedanken, findet seine Garderobe leer und schmust ein bisschen mit seinem Mantel, ein bezaubernder, chaplinhafter Einfall, der zeigt, was sie fühlt. Als er dann doch noch eintritt und beide etwas plaudern, verhilft er ihr spontan mit einem Schminkstift zu ihrem neuen Erkennungszeichen, einem kleinen Schönheitsfleck.

Das alles begibt sich, wie gesagt, 1927. In genau diesem Jahr brach der Tonfilm aus – und dadurch kommt es nun zu dramatischen Verwicklungen.
Viele Mitglieder der Filmbranche hielten diese neue Möglichkeit des Films ja tatsächlich für eine kulturlose Barbarei.
Produzenten Zimmer (John Goodman) zeigt seinem Star ein solch neues Machwerk. Valentin lehnt es spöttisch ab. Wenn das die Zukunft sein soll, möge Zimmer sie gern behalten.
Damit hat der Produzent vielleicht schon fast gerechnet. Er erklärt, das Publikum verlange Frischfleisch – sprechendes Frischfleisch.

Einstweilen hält der König von Hollywood das für Blödsinn. Er beobachtet immerhin, wie Peppy innerhalb der nächsten zwei Jahre ganz groß Karriere macht, immer den kleinen Fleck auf der Oberlippe. Nun hat er selbst zwar auch was auf der Oberlippe, sein schmales Bärtchen nämlich, aber sein Erfolg wird zunehmend dünner.
George produziert also auf eigene Kosten ein Abenteuerepos, in dem er und sein Hund ihre gewohnten Rollen geben, zu dem er das Drehbuch verfasst hat und bei dem er selbst Regie führt. Ein Stummfilm, versteht sich.
Unglücklicherweise erlebt der am selben Abend, Ende Oktober 1929, seine Premiere wie das neueste – tönende – Kinostück der inzwischen zur Filmgöttin aufgestiegenen Peppy Miller. Bei ihm sitzen ungefähr fünf Zuschauer (darunter, getarnt und heulend vor Rührung, Peppy selbst, aber das ahnt George nicht), während sich das Ende der Schlange zu ihrem eigenen Film bis vor seine Tür bäumt.
Es handelt sich sowieso nicht um Valentins Glückstag; genau gleichzeitig stolpert die Börse in den schwarzen Freitag, was für ihn bedeutet, er verliert sein gesamtes Vermögen. George Valentin ist gezwungen, sich radikal einzuschränken. Während einige weitere Jahre vergehen, versteigert er seinen Besitz, bringt seinen Frack zum Trödler, schläft in einem hässlichen Wandklappbett und wird, alles in allem, ganz schön schäbig.
Noch bevor es so trübselig aussieht, verlässt ihn seine Frau. Die hatte sich sowieso schon zu Erfolgszeiten überwiegend damit amüsiert, auf die allgegenwärtigen Zeitschriften- oder Autogrammfotos ihres Star-Gatten Brillen, Vollbärte und Zahnlücken zu malen. Sie beklagt sich noch mal bei ihm in bester gekränkter Ehefrau-Manier, weil er ‚nicht reden‘ will. Dann ist sie weg.
Aber gerade über das Nichtreden will George ja am allerwenigsten reden.
Als eine Passantin mit Jack, dem kleinen Hund, schäkert, findet er das nur so lange nett, bis sie in aller Unschuld meint: „Ach, wenn er auch noch sprechen könnte!“

Chauffeur Clifton übrigens dient dem ehemaligen Star weiter, ganz ohne Bezahlung. Schließlich verbietet George ihm das und schmeißt ihn regelrecht raus.
Nun hat er nur noch den treuen Hund, der sogar bei ihm bleibt, als ihn sein eigener Schatten verlasst, weil der mit so einem Verlierer nichts mehr zu tun haben will.
Eigentlich könnte er ja auch Peppy haben (signalisiert hat sie das immer) und durch sie sogar wieder entsprechende Filmrollen, aber das würde bedeuten, dass er im Film reden müsste – und dazu und überhaupt um von jemandem begönnert zu werden ist George viel zu stolz. Lieber verbrennt er, zusammen mit seinen alten Zelluloidstreifen, oder er erschießt sich, und wenn Jack noch so wütend an seinem Hosenbein zerrt…
So wird die Komödie unversehens und ganz folgerichtig zum Melodram, wobei sie sich die ganze Zeit auf’s anmutigste im Gleichgewicht hält, ohne je ins Alberne oder Kitschige abzustürzen.
Die Lösung schließlich, der Sprung ins Happy-End, ist so verblüffend wie amüsant. Peppy findet für George eine Möglichkeit, sich zu artikulieren, ohne klein beigeben zu müssen. Er kann auf früher bereits angedeutete Talente zurückgreifen, seine Prise Fred Astaire aktivieren – und der Film gleitet nahtlos von den goldenen Zwanzigern Hollywoods in die glitzernden Dreißiger.

Es ist erstaunlich, wie unterhaltsam 100 nahezu stumme Minuten sein können.
Das liegt ebenso an Hazanavicius‘ meisterhafter Regie wie an der Brillanz der Darsteller, allen voran Jean Dujardin, der völlig zu Recht mit der goldenen Palme wedeln darf. Das soll ein Franzose sein? Nicht in diesem Film! Da spricht reinstes, schieres altes Hollywood aus jeder Körperzelle, auch oder gerade weil der Mann selbst nichts sagt.
Die Herausforderung für die Darsteller liegt ja darin, dass sie in den Film-im-Film-Szenen herzhaft übertreiben müssen, wie es damals Sitte war, während sie in den ‚normalen‘, aber ebenfalls stummen Szenen zumindest durch deutliche Mimik zu erkennen geben sollen, was sich in ihnen abspielt – jetzt, ohne zu übertreiben. Das erfordert im einen Fall Zähnefletschen, heftiges Augengekuller sowie elastische Augenbrauen, im anderen ein Spiel bis an die Grenze und niemals darüber rutschend.
Bérénice Béjo (nebenbei bemerkt Hazanavicius‘ Frau) macht das ebenfalls reizend und glaubhaft.
Wunderbar unterstützt werden die beiden Hauptdarsteller durch die alten echten Hollywood-Riesen, den dicken und den dünnen, Goodman und Cromwell, die nett im Hintergrund bleiben und Dujardin in keiner Weise die Schau stehlen.
Vom Hund wollen wir gar nicht erst anfangen. Der hat sich seine Ginflasche wahrhaftig verdient…

Viele Zuschauer interessiert so was überhaupt nicht, ich persönlich kann mich besonders freuen über Kostüme und Frisuren, die einfach ‚stimmen‘, selbst, wenn sie für den heutigen Geschmack wenig schmeichelhaft ausfallen, wie etwa die konsequent klein und dunkel geschminkten Mündchen der Damen.

Michel Hazanavicius hat ein kleines Meisterwerk erschaffen. Er trug sich seit Jahren mit der Idee, einen Schwarz-Weiß-Stummfilm zu drehen und es wurde ihm heftig davon abgeraten, mit Hinweis auf die nötige Reduzierung.
Nun ist es ihm gelungen, gerade diese Reduzierung kreativ zu nutzen.
Wie gut, dass er sich durchgesetzt hat!

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The ARTIST
Kinostart: 26. Januar 2012
Ein Film von Michel Hazanavicius
mit Jean Dujardin, Bérénice Béjo, John Goodman, James Cromwell, Penelope Ann Miller

Fotos & Videos © Delphi Filmverleih

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