Film

London, 1988. Schuldgefühle quälen den alternden Nicholas Winton (gespielt von einem grandiosen Sir Anthony Hopkins) mehr denn je. Vor fünfzig Jahren hatte er 669 jüdische Flüchtlingskinder vor den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten retten können, doch der Gedanke an alle, die vergeblich auf Hilfe hofften, lässt ihn nicht los.

 

Regisseur James Hawes („Black Mirror“) inszeniert „One Life“ mit großem Einfühlungsvermögen für jenen scheuen, trotzig melancholischen Mann, der als britischer Oskar Schindler bezeichnet wurde, sich selbst aber nie als Held sah, nie über die traumatischen Erlebnisse sprach. Am Ende ist es eine Fernseh-Show, die Wintons Leben grundlegend verändert. 

 

London, Dezember 1938. Eigentlich plante der 29jährige Börsenmakler Nicolas Winton (Johnny Flynn), genannt Nicky, in die Schweiz zum Skilaufen zu fahren, aber als ihm sein Freund Martin (Jonathan Pryce) schildert, in welch entsetzlicher Lage sich die jüdischen Flüchtlingsfamilien in der Tschechoslowakei befinden, reist er stattdessen nach Prag. Das Elend ist grauenvoll, die Invasion der Nazi-Truppen steht bevor. Nicky will wenigstens den Kindern helfen, für sie gibt es noch die Chance auf Einreisevisa nach England. Als er ihnen zum ersten Mal begegnet, draußen vor den behelfsmäßigen Zelten im dreckigen Schneematsch, wirkt der sonst so couragierte Londoner Banker eingeschüchtert, etwas ungelenk, wie umgehen mit der Verzweiflung anderer? Das Gefühl von Ohnmacht, von Versagen bleibt. Bis an sein Lebensende kämpft er dagegen an, nicht das Gefühl, sondern den Zustand: "Wenn etwas nicht unmöglich ist, dann muss es einen Weg geben“, wird seine Devise. Und während er einen Riegel Schokolade unter den frierenden, hungrigen Kindern verteilt, verspricht er „mehr", meint damit nicht die Schokolade, sondern Sicherheit, Wärme, Geborgenheit, eine Zukunft.

 

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Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, im Münchner Abkommen vom September 1938 beschlossen England, Frankreich, Italien die von Hitler geforderte Abtretung der Sudetengebiete an das Deutschen Reich, so grenzt seit dem Beitritt Österreichs fast die gesamte Tschechoslowakei an Deutschland. Die Evakuierung der Kinder erfordert enorme administrativen Anstrengungen, Widerstände tauchen auf, wo Außenstehende sie kaum vermuten. Das Prager Büro des Britischen Komitees für Flüchtlinge (BCBR) erstickt unter einer Flut von Dokumenten, Formularen und Akten. Die Leiterin Doreen Warriner (Romola Garai) und Trevor Chadwick (Alexander Sharp), ein ehemaliger Lehrer, sind Profis an vorderster Front und nicht unbedingt begeistert vom naiven Idealismus dieses britischen Börsenmaklers, doch sie erkennen bald seine Stärken. Als erstes müssen Listen von den Kindern erstellt werden, nur schon das Wort Liste löst Furcht und Misstrauen unter den Flüchtlingen aus. Die Nationalsozialisten perfektionierten die Bürokratie der Vernichtung, niemand gibt freiwillig seine Identität preis. Der Rabbi beharrt gar auf jüdischen Pflegefamilien in London, Nicky, selbst jüdischer Herkunft aber getauft, muss harte Überzeugungsarbeit leisten, ihm geht es grade nicht um Religion, Rasse sondern um Demokratie, um Menschenwürde, er will Leben retten, ist wie sein Freund Martin überzeugtes Labour-Mitglied. Zurück in England kämpft Nicky verzweifelt um Aufenthaltsgenehmigungen, sucht fieberhaft Pflegefamilien, die Behörden fordern pro Kind 50 Pfund als Unterhaltsgarantie, (vielleicht vergleichbar mit 10.000 Euro). Seine Mutter, Babette Winton (hinreißend: Helen Bonham Carter), deutsch-jüdische Immigrantin und konvertiert zum christlichen Glauben, versteht sich auf den Umgang mit britischen Beamten: Wo Charme, Chuzpe und Überzeugungskraft nicht ausreichen, greift sie ungerührt zu emotionaler Erpressung.

 

Die Zeitebenen des Films überschneiden und vermischen sich durch die Erinnerungen des Protagonisten. Den etwas brummigen fast Achtzigjährigen drängt seine Ehefrau, endlich das Arbeitszimmer mit den unzähligen Kisten, Aktenordnern und Dokumenten zu entrümpeln. Eigentlich meint sie damit, die Vergangenheit hinter sich lassen, fokussieren auf Familie und das neue Enkelkind. Sie selbst ist die nächsten Tage unterwegs, also genug Zeit für diese Aufgabe. Es ist ein wundervolles lichtdurchflutetes Haus mit hügeligem weitläufigem Garten und Swimmingpool, doch Winton scheint mit den Gedanken weit weg, sitzt in der Küche, murrt über Politik und einen Knopf in der Sammelbüchse, sein soziales Engagement ist ungebrochen. Fit ist er auch, nicht übel der Kopfsprung in den Pool, selbst in einem solchen Moment holen ihn die traumatischen Erlebnisse von vor fünfzig Jahren wieder ein. Und auch in unser Gedächtnis haben sich die Gesichter jener Kinder eingeprägt. Da ist das Mädchen mit der Zahnlücke, die so hoffnungsvoll in die Kamera lächelt, die drei Jungen, die ihr Vater gar nicht hatte mitreisen lassen wollen, und dann doch zuletzt einwilligt. Die Erwachsenen werden sich immer mehr der Aussichtslosigkeit ihrer Situation bewusst, sie sind aus Deutschland und Österreich vor den Nationalsozialisten nach Prag geflüchtet, wissen also, was sie erwartet. Und wir wissen es auch. Sind doch die Filme über den Holocaust längst Teil der globalen Erinnerung. Nicky hat in England nur Pflegeeltern für zwei der Brüder gefunden, der Vater und der andere Sohn halten sich tapfer, um den Abschied für die Jüngeren nicht noch schmerzvoller werden zu lassen. Die Kinder ahnen nicht, dass sie Eltern, Geschwister, Verwandte nie wiedersehen werden. 

 

Dem britischen Regisseur James Hawes gelingt es trotz der kurzen schlaglichtartigen Szenen für uns eine Beziehung zu den einzelnen Kindern herzustellen, genau wie es Nicholas Winton damals gelang. Die Kleinen fassen schnell Vertrauen zu ihm, wie die beiden Schwestern, plötzlich aus ihrem unbeschwerten bürgerlichen Leben gerissen, vor einem Jahr waren sie wahrscheinlich noch Skilaufen und beklagten sich höchstens, weil sie Klavier üben sollten. Nicky gibt ihnen Vertrauen, läuft doch auch er gerne Ski wie sie und spielt Klavier. Die Fremde, wo man niemanden kennt, ist so weniger bedrohlich. Wenn er die Jungen und Mädchen fotografiert, lächeln sie, jedes auf seine ganz eigene Art, und dieses Lächeln schmerzt, denn nicht alle Kinder können gerettet werden. Und es nützt wenig, wenn Babette Winton ihren Sohn zu überzeugen versucht, dass er sich das verzeihen muss. Unermüdlich arbeiten die beiden Seite an Seite Tag und Nacht. Acht Kindertransporte sind in London eingetroffen, 699 jüdische Kind vor dem Tod in den Vernichtungslagern bewahrt, dann marschiert die Wehrmacht in die Tschechoslowakei ein. Der neunte Zug wird aufgehalten. 

 

Fünfzig Jahre später steht Nicholas Winton in seinem Garten, er lässt das Wasser aus dem Swimmingpool ab. Riesige Aktenberge gehen daneben auf dem Rasen in Flammen auf. Was bleibt ist ein persönliches Scrapbook mit Dokumenten, Souvenirs, den Fotos der Kinder, den Namenslisten und jene braune Aktentasche, die ihn überall hinbegleitet hat. Winton überlegt, ob er die verbliebenen Unterlagen einem Holocaust Museum überlassen soll, aber er möchte, dass die Erinnerung lebendig bleibt. Der Chefredakteur einer Tageszeitung winkt beim Angebot verächtlich ab, ihm fehlt die Aktualität, die Brisanz des Themas. Ähnlich wie sein Freund Martin hat Winton nie mit Außenstehenden über die Vergangenheit gesprochen, vielleicht typisch für jene Generation, aber sie wussten, andere würden ihren Schmerz nie wirklich nachvollziehen können. Heißt nicht, dass Winton nicht auch witzig und ironisch sein kann, Beweis eine herrliche Anekdote über seine Tätigkeit bei der Telefonfürsorge, wo man ihn vor die Tür setzte. Die beiden Männer verstehen sich ohne viel Worte: „Fragst du dich manchmal, was aus den Kindern geworden ist?".

 

Den Wert der Dokumente erkennt Elisabeth Maxwell, Holocaust-Forscherin und Ehefrau des Medientycoons Robert Maxwell. Die populäre britische Magazin-Sendung „That’s Life“ (1973-1994) greift den Fall auf und holt 1988 den scheuen Nicholas Winton ins Rampenlicht. Da steht er, der Schweigsame, Introvertierte, der immer seine Gefühle verbarg, umringt von Dutzenden von Menschen, die ihm danken wollen für ihr Leben und verändern damit sein Leben. Eine der herausragendsten schauspielerischen Leistungen in der Karriere des zweifachen Oscar-Preisträgers Sir Anthony Hopkins. Er prägt „One Life“, der Film ähnelt seinem Protagonisten, unsentimental, zurückhaltend, Gefühle werden nur angedeutet. Und doch oder grade deshalb, kann kaum jemand die Tränen zurückhalten, oder "müsste schon ein Herz aus Stein haben", wie es der britische Filmkritiker Peter Bradshaw (The Guardian) formulierte, wenn man nicht berührt wäre. Der Titel des Films bezieht sich auf den Talmud „Wer ein einziges Leben rettet, rettet die Welt“. 

 

Bedauerlicherweise gibt es Journalisten im deutschsprachigen Raum, die nur Verachtung zeigen für Filme wie „One Life“. (Übrigens der Chefredakteur jener Zeitung, der Winton so kühl abservierte, bereute seine Entscheidung später, die herzzerreißenden Momente der BBC-Sendungen mit Nicholas Winton wurden Jahrzehnte hindurch millionenfach immer wieder auf YouTube angeklickt). „Der Nationalsozialismus zum popkulturellen Klischee verkommen", das klingt vielleicht modisch smart, aber für mich eher arrogant irritierend. „One Life“ ist die Geschichte eines gewöhnlichen Mannes, der Außergewöhnliches leistete. Wer schon per se Filme wie „Schindlers Liste“ (Steven Spielberg,1994) als unerträglich sentimental und Hilflosigkeit historischer Realität gegenüber abtut, dem kann ich nur misstrauen. Kino ist lebendige Historie und „One Life“ ein packendes Zeitzeugnis.

 

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Originaltitel: One Life

Regie: James Hawes

Drehbuch: Lucinda Coxon, Nick Drake basierepnd auf Barbara Wintons Buch „If it’s not impossible"

Darsteller:  Anthony Hopkins, Johnny Flynn, Helen Bonham Carter, Jonathan Pryce

Produktionsland: Großbritannien, 2024

Länge: 109 Minuten 

Kinostart: 28. März 2024

Verleih: SquareOne Entertainment

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: SquareOne Entertainment

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