Film

Mit der poetischen Charakterstudie „Perfect Days“ gelingt dem 78jährigen Regisseur Wim Wenders Jahrzehnte nach „Paris Texas“ (1984) und „Himmel über Berlin“ (1987) wieder ein Meisterwerk. Der in japanischer Sprache gedrehte Film verändert unseren Blick auf die Welt und auf uns selbst.

 

Hirayama (überragend: Kōji Yakusho) reinigt öffentliche Toiletten in Tokio. Den Ablauf seines Alltags hat der Mittsechziger methodisch durchstrukturiert vom morgendlichen Bartstutzen bis zur abendlichen Buchlektüre kurz vor dem Einschlafen. Im Park während der Mittagspause holt er seine analoge Pocket-Kamera heraus: Komorebi, das Lichtspiel der Blätter im Wind entwickelt sich zum Spiegel seines Daseins.

 

Zurückgezogen lebt unser Protagonist allein in einem kleinen spartanisch eingerichteten Apartment, ohne Bad aber mit großen Fenstern. Sein erster Blick nach dem Aufwachen gilt dem Himmel, dem Morgenlicht, das versucht durch die Vorhänge einzudringen in den grauen Dämmerzustand der Abgeschiedenheit, jeden Morgen neue Kompositionen kreiert auf Wänden und Fußboden (grandios Kameramann Franz Lustig). Mit wenigen Handgriffen verschwindet das Bettzeug, Hirayama putzt sich die Zähne, rasiert sich, stutzt den Bart, besprüht die Setzlinge aus dem Park, schlüpft in den blauen Overall mit dem Aufdruck ‚The Tokyo Toilet'. Das Lächeln, mit dem er in der Früh aus dem Haus tritt und nach oben schaut zu den Wolkengebilden, besitzt etwas Entwaffnendes. Wir spüren, er hat viel gesehen, viel erlebt. Was, darauf wird der Film im Einzelnen nie eingehen, aber nun konzentriert sich Hirayama auf das, was für ihn entscheidend ist, die Schönheit im Alltäglichen. 

 

Aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinübergerettet hat er nur die Musikkassetten seiner Jugend: Lou Reed, Nina Simone, Patti Smith, The Kinks, Van Morrison, Velvet Underground und einen altmodischen Recorder. Und so erklingt im Mini-Van auf dem Weg zu den Arbeitsstätten „House of the Rising Sun“ von den Animals oder „Perfect Day“ von Lou Reed, – der Song versehen mit einem zusätzlichen s gab dem Leinwand-Epos im Format 3:4 seinen Titel. In „Perfect Days“ kehrt Wim Wenders zu dem von ihm favorisierten Genre des Roadmovies zurück. Die Fahrten quer durch Tokyo sind pure ästhetische Magie. Ruhig und konzentriert geht der Protagonist seiner Tätigkeit im Stadtbezirk Shibuya nach, antwortet nicht auf das törichte Geplapper seines faulen, jungen Kollegen Takashi (Tokio Emotional). Kein Wort der Kritik, höchstens ein besorgtes Lächeln. Seine wahre Leidenschaft ist das Beobachten der Welt um sich herum, die Stadt mit ihren extremen Gegensätzen, Wolkenkratzer, stark befahrene mehrstöckige Autobahnen, beschauliche Wohnsiedlungen, Labyrinthe aus engen Gassen, alten Holzhäuser umgeben von futuristischen Bauten, ein Miteinander von Zukunft und Vergangenheit. Das erste Drittel des Films ähnelt einem Stummfilm, der Toilettenreiniger mit der Aura eines gebildeten Mannes ist schweigsam, aber nicht verschlossen

 

Sein ausdrucksvolles Gesicht braucht kaum Worte. In der letzten Szene des Films, Hirayama sitzt hinter dem Steuer, mischen sich in sein Lächeln, Wehmut, Trauer, Verzweiflung. Verlust schmerzt, aber das Lächeln verschwindet nie ganz. Diese Augenblicke reflektieren seinen jahrzehntelangen Überlebenskampf. Auf den Filmfestspielen in Cannes wurde Kōji Yakusho („Babel“, 2006) als Bester Schauspieler ausgezeichnet. 


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Der Ablauf der Tage und Wochen ähnelt einander in dem scheinbar monotonen Rhythmus: Immer derselbe Platz im Park für den Mittags-Snack, ein Lächeln für die Banknachbarin und den Obdachlosen, nach der Arbeit der Besuch im Badehaus, Abendessen in einem Pendler-Restaurant für Sportbegeisterte. In der Freizeit vertauscht er den Van mit dem Fahrrad, bringt seine Wäsche in den Waschsalon, ersteht in der Buchhandlung gebrauchte Paperbacks, einen Faulkner, und auf Empfehlung der Verkäuferin Patricia Highsmith, die wisse alles über Angst. 1976 drehte Wim Wenders den Neo Noir „Der amerikanischer Freund“ nach dem Roman „Ripley’s Game“ von Patricia Highsmith mit Bruno Ganz und Dennis Hopper in den Hauptrollen. 

 

Wenn Hirayma nach der allabendlichen Lektüre auf der Schlafmatte seine Brille abnimmt und die Leselampe ausschaltet, beginnt er zu träumen in verstörenden Schwarz-Weiß-Bildern (Donata Wenders). Zur Routine gehören auch Barbesuche und verborgene Gefühle, und zur Routine gehören ebenso Abweichungen und Störungen: Der törichte junge Kollege braucht Geld, um eine vergötterte Schöne zu erobern bei der er nicht die geringste Chance hat, aber Hirayama hilft, wie öfter in diesem Film. Etwas widerwillig gibt er nach, wohl wissend, nur durch Fehlschläge lernt der Youngster seine Lektion, dass nicht jede Liebe käuflich ist. Der jungen Femme fatale gefällt Hirayama besser, vor allem dessen Musikgeschmack, schon verschwindet heimlich eine Kassette in ihrer Tasche. Der Protagonist sucht nicht die Nähe zu Menschen, aber er meidet sie auch nicht, behandelt jeden mit der gleichen Generosität. Gegen Ende ein Moment der Verspieltheit nahe dem Tode, ein Tanz der Schatten und Nebenbuhler. Dann taucht unerwartet die Nichte auf, von zuhause ausgerissen.  Zu zweit durchqueren sie nun auf ihren Fahrrädern die Stadt, besuchen das Badehaus, teilen die Bank in der Mittagspause. Die Konfrontation mit der Vergangenheit ist schmerzlich für den Protagonisten und doch genießt er die gemeinsamen Stunden mit dem Teenager, die akzeptiert, wie er lebt, akzeptiert, dass er als Mann aus wohlhabender Familie bewusst die Armut wählt als Schutz vor Verletzungen.

 

Die Toiletten, die Hirayama reinigt, ähneln winzigen Tempeln, jene architektonischen Wunderwerke in Parks eingebettet, waren für Wenders die Inspiration zu „Perfect Days“. Ein Sozialprojekt realisiert von berühmten Architekten als Zeichen japanischer Willkommenskultur. Den Vorschlag aus Tokio vier Kurzfilme zu drehen, verwarf Wenders. Seiner Ansicht nach reflektieren Spielfilme am überzeugendsten die Magie einer Metropole, bester Beweis „Der Himmel über Berlin“. Das Drehbuch entwickelte er gemeinsam mit dem Kreativdirektor und Romanautor Takuma Takashi. „Takuma und ich, wir haben uns jemanden vorgestellt, der einmal privilegiert und wohlhabend war, dann aber von diesem Leben immer weniger erfüllt ist und schließlich voll abstürzt. Eines Tages, am Tiefpunkt seines Lebens, an dem er schon bereit ist, diesem ein Ende zu bereiten, hat er eine Erleuchtung. Als er morgens in seinem schäbigen Hotelzimmer aufwacht, ohne sich zu erinnern, wie er da gelandet ist, starrt er auf die kahle Wand ihm gegenüber. Er empfindet nichts mehr, weder für sich noch für die Welt. Und auf einmal erscheint auf dieser leeren Fläche vor ihm ein Schattenspiel, das von den Sonnenstrahlen hervorgezaubert wird, die irgendwie durch den Baum bis in sein düsteres Zimmer fallen. Und wie er ungläubig auf diese Erscheinung schaut, diesen Tanz der Blätter im Wind oder besser, die Reflektion dieses flüchtigen Vorgangs, da wird ihm bewusst, dass dies nur für ihn sichtbar ist, für ihn allein, erschaffen von nichts als Blättern, Wind und einer Lichtquelle aus weiter Ferne, aus dem All, von der Sonne. Er hält den Atem an, wie wenn er eine große Wärme aufsteigen fühlt, weil ihm plötzlich bewusst, wird wie einzigartig er selbst und sein Leben ist. Und er murmelt das Wort vor sich hin, dass es in der japanischen Sprache für dieses Lichtspiel der Blätter im Wind gibt: „Komorebi“.“ 

 

Von der Vergangenheit des Protagonisten erfahren wir im Film kaum etwas, und doch erahnen wir es. Frappierend für uns ist Hiraymas Entscheidung, Toiletten zu reinigen. "Der Begriff Dienstleistung hat in Japan eine völlig andere Bedeutung als bei uns", erklärt Wenders in einem Interview: „Am Ende der Dreharbeiten traf ich zufällig einen berühmten amerikanischen Fotographen, der es nicht fassen konnte, dass ich grade einen Film über einen Mann gedreht hatte, der Toiletten putzt. „Das ist meine Lebensgeschichte! Als ich als junger Mann nach Japan kam, auf der einen Seite, um der Einberufung nach Vietnam zu entgehen, auf der anderen, um asiatischen Kampfsport zu lernen, sagte der Meister zu mir: ‚Wenn Du ein Jahr lang täglich öffentliche Toiletten reinigst, kannst du wiederkommen.' Das habe ich gemacht, bin jeden Tag um sechs Uhr aufgestanden, um in einem der ärmsten Viertel Tokios öffentliche Toiletten zu reinigen. Der Meister hat dies aus der Ferne beobachtet und mich dann als Schüler aufgenommen. Aber ich putze bis heute noch einmal im Jahr eine ganze Woche lang Toiletten“ (Der Mann ist mittlerweile über 60 und ist übrigens nie nach Amerika zurückgekehrt.) Aber das ist nur ein Beispiel von vielen. Es gibt Berichte von Führungskräften großer Unternehmen, die den Respekt ihrer Mitarbeiter erst dadurch erwarben, dass sie vor allen anderen zur Arbeit kamen und die Toiletten putzten. Das ist keine ‚minderwertige‘ Arbeit, sondern vielmehr eine spirituelle Haltung, eine Geste der Gleichheit und Bescheidenheit“.

 

Die Bewunderung für einen Film wie „Perfect Days“ in Worte zu fassen, ist fast unmöglich. Das herkömmliche journalistische Vokabular (poetisch, berührend, spirituell) greift plötzlich nicht mehr, scheint unzureichend, zu oft benutzt, und damit abgenutzt, höchstens mangels besserer Alternativen als Notlösung akzeptabel. Das Überragende kommt am überzeugendsten zum Ausdruck, wenn man ihn dem Dokumentar-Epos „Anselm - Das Rauschen der Zeit“ gegenüberstellt. Beide Werke von Wim Wenders liefen auf dem diesjährigen Festival in Cannes“, lösten ähnliche Begeisterung bei den Kritikern aus. Die Filmporträts zweier Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite der bild- und wortgewaltiger Leinwand-Koloss in 6K-3D, eine assoziative Spurensuche zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Film und Malerei, Realität und Vision. Der Zuschauer mittendrin im Kosmos des heute in Frankreich lebenden Malers und Bildhauers Anselm Kiefer, er sieht, wie der Künstler mit dem Fahrrad durch seine gigantische Produktionsstätte fährt. Hirayami, der Toilettenreiniger, radelt zum Waschsalon und doch besitzt grade „Perfect Days“ mit seinem minimalistischen Ansatz die Qualität eines Meisterwerks, Wim Wenders hat es Ozu gewidmet. 

 

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Perfect Days

Regie: Wim Wenders  

Drehbuch: Wim Wenders, Takuma Takasaki

Darsteller: Kōji Yakusho, Tokio Emoto, Arisa Nakano, Yumi Aso 

Produktionsland: Japan, 2023

Länge: 123 Minuten

Kinostart: 21. Dezember 2023

Verleih: DCM Film Distribution GmbH

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: © Master Mind Ltd. / DCM Film Distribution GmbH

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