Film

Seine sanfte Tragikomödie „Fallende Blätter“ inszeniert Aki Kaurismäki als poetische Hommage an das Kino, Zufluchtsort unserer Sehnsüchte, an Filmemacher, die er, der finnische Kult-Regisseur, vergöttert: Bresson, Ozu und Chaplin.

 

Die zärtliche lakonische Liebesgeschichte zweier verlorener Seelen am Rande der Gesellschaft reflektiert auch seine eigenen frühen Werke und erhielt in San Sebastian den FIPRESCI Grand Prix 2023 als Bester Film des Jahres und in Cannes den Prix du Jury.

 

Freitagnacht in Helsinki. Nur widerwillig folgt Holappa (Jussi Vatanen) seinem Kumpel Huotari (Janne Hyytiäinen) zum Karaoke-Abend in die Bar: „Harte Kerle singen nicht“, erklärt er. Der eher schweigsame Arbeiter haust in einem Container auf der Baustelle. Er trinkt zu viel, weil er depressiv ist, und ist depressiv, weil er zu viel trinkt. Das ist seine Art der Logik. Doch dann trifft er auf die scheue, etwas mürrische Supermarktangestellte Ansa (grandios: Alma Pöysti), wie Holappa um die 40 und ebenso einsam. Stoisch haben beide die Trostlosigkeit im sozialen Abseits ertragen, aber trotz aller Enttäuschungen die Suche nach der großen, einzigen und endgültigen Liebe nie ganz aufgegeben.

 

Ihr erstes Date führt ins Arthaus-Kino zum Zombie-Epos „The Dead Don’t Die“ (2019) von Regisseur Jim Jarmusch (ein begeisterter Kaurismäki-Fan). Was so vielversprechend beginnt, scheitert zunächst an verlorenen Telefon-Nummern, der Unkenntnis von Namen und Adresse des anderen. Verzweifelt lungert Holappa Abend für Abend vor dem Kino herum, raucht eine Zigarette nach der anderen, während Ansa daheim auf das Telefon starrt, die Stille nur unterbrochen von den Radio-Nachrichten über den Krieg in der Ukraine. Eigentlich hatte der Regisseur 2017 beschlossen, das Flüchtlings-Epos „Die andere Seite der Hoffnung“ solle sein letzter Film sein, um so beglückender die Rückkehr in den uns wohl vertrauten Kaurismäki-Kosmos mit seinen wortkargen spröden Proletarier-Helden. Dieses Helsinki war immer schon wie aus der Zeit gefallen, eine Atmosphäre der Sechziger, Siebziger Jahre, oder das, was wir heute dafürhalten: das Interieur unverändert von Dekaden oder digitaler Ära, antiquierte Rechenmaschinen, dickbäuchige Transistorradios, verrauchte freudlose Kneipen. Dieses Helsinki will ein allegorischer und realer Ort zugleich sein, minimalistische Seelenlandschaft und kapitalistisches Territorium. In „Fallende Blätter“ verschmelzen Gegenwart und Vergangenheit nicht unbedingt friedlich: Bedrohlich der (soziale) Rückschritt wie der (technische) Fortschritt, die Zukunft ungewiss.

 

Ansa verliert ihren Job im Supermarkt, sie hat ein Sandwich mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum eingesteckt, das sonst im Müll geendet wäre, nun spült sie Geschirr in einer Gaststätte Noch vor der ersten Lohnzahlung, verhaftet die Polizei den Chef wegen seiner Drogen-Deals, das Lokal wird geschlossen. Die Einsamkeit lastet zäh und schwer auf den Menschen, man arrangiert sich im Prekariat zwischen Unsicherheit, Entbehrungen und Demütigungen, das Glück trifft Kaurismäkis Helden unvorbereitet. Für das erste gemeinsame Abendessen bei ihr daheim muss die Protagonistin schnell noch einen zweiten Teller erstehen, doch Ansa hat Prinzipien, ein Mann, der trinkt, kommt für sie als Partner nicht in Frage, erklärt sie unmissverständlich. Ihr Bruder hat sich zu Tode gesoffen, so wirft sie den zweiten Teller weg, stattdessen teilt sie ihr Leben nun mit Chaplin, einer Hündin, der ein schlimmes Ende drohte, und arbeitet tagsüber in der Stahlfabrik. In ihrem dunklen Overall erfüllt sie mehr die Vorstellung von einem richtigen Kerl als Holappa, der wird zum wiederholte Male gefeuert wegen seines Alkoholkonsums und landet auf der Straße. Und doch, Armut ist bei Kaurismäki nie hässlich, im Gegenteil, sie besitzt jene unwiderstehlich schwermütige Schönheit ähnlich den Gemälden Edward Hoppers, mit dem Unterschied, dass hier jedes Detail wie das altmodische Blumenmuster der Spitzenvorhänge oder die zerfranste türkisfarbene Hundeleine von Chaplin gestochen scharf hervortritt, seinen Anspruch auf Individualität erhebt. Schönheit fern einer überladenen Konsumgesellschaft, wundervoll wie jene gedämpften Rot und Blautöne die Schäbigkeit des Alltags durchbrechen. Die Kamera von Timo Salminen bleibt auf Distanz, bewegt sich nur, wenn es unvermeidlich scheint.

 

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Kaurismäki amüsiert sich in „Falling Leaves“ über die interpretationssüchtigen Cineasten. "Hat mich sehr an Bressons „Tagebuch eines Landpfarrers“ erinnert“, erklärt ein Kinozuschauer nach dem Abspann von „The Dead Don’t Die", der ältere ergraute Herr neben ihm hält dagegen:“Ich habe an Godards „Außenseiterbande" denken müssen." Grußlos verschwinden die beiden in entgegengesetzten Richtungen. Aber sind wir FilmkritikerInnen so viel anders? Wir können es nur hoffen, und bezeichnen unsere Rezensionen vorsichtshalber als Reviews, wollen nicht urteilen, sondern Perspektiven eröffnen. Obwohl, der Regisseur selbst hatte, bevor er begann Filme zu drehen, bei der Post gearbeitet, als Tellerwäscher in einem Grandhotel und eben auch als Filmkritiker. Ansa verkündet am Ende der Vorstellung, sie hätte selten so gelacht, eine unerwartete Reaktion. Es gibt noch zwei, drei weitere Chancen auf die große Liebe für das Paar, aber nicht ohne Hindernisse. Holappa kommt bei einem schweren Unfall nur knapp mit dem Leben davon, Ansa wacht an seinem Bett. Bewundernswert ihre trotzige Gelassenheit. Was innerlich in ihnen vorgeht, die Akteure schweigen darüber. Kaurismäki beherrschte schon immer auf magische Weise die Kunst der Aussparung. Die Musik übernimmt. „Fallende Blätter“ ist nach dem Chanson von Jaques Prévert benannt. In der Karaoke Bar hofft Huotari, die weiblichen Gäste zu beeindrucken. Die Schubert-Serenade kann sich behaupten gegen die Hits aus der Jukebox „We are the Champions“ und der finnischen Version des „Mambo Italiano“. Das heimische Pop-Duo Maustetytöt der Schwestern Anna und Kaisa Karjalainen trifft mit ihren finster poetischen Texten den Irrwitz des Daseins. Und immer wieder erklingt das Sehnsuchtsmotiv aus Tschaikowskys „Pathétique“.

 

Der Meister der Melancholie, liefert mit seiner scheuen Lovestory einen Nachtrag zu seiner berühmten Arbeiterklassen-Trilogie: „Schatten im Paradies" (1986), „Ariel“ (1988) und „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“. Die Beweggründe für „Fallen Leaves“ formuliert Aki Kaurismäki auf eine für ihn nicht untypische eigenwillig Art: „In der Vergangenheit habe ich mir als Regisseur von irrelevanten, gewaltvollen Filmen eine fragwürdige Reputation erarbeitet. Da mich der Gedanke an die sinnlosen, unnötigen und kriminellen Kriege in unserer Welt sehr quält, habe ich beschlossen, eine Geschichte über die wenigen Themen zu schreiben, durch die meiner Meinung nach in der Zukunft eine Chance auf mehr Humanität in unserer Gesellschaft besteht: Eine Geschichte über die Sehnsucht nach Liebe, nach Solidarität, nach Hoffnung und dem Respekt für andere Menschen, für die Natur und allem, was in ihr lebendig oder tot ist- vorausgesetzt das Subjekt dieser Geschichte verdient diese Aufmerksamkeit. In „Fallen Leaves“ ziehe ich meinen zu kleinen Hut vor meinen Göttern Bresson, Ozu und Chaplin – aber sollte das Unterfangen scheitern, meine Geschichte zu erzählen, dann bin ich es höchstpersönlich, auf dessen Mist diese Katastrophe gewachsen ist."

 

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Fallende Blätter

Originaltitel: Kuolleet lehdet | Internationaler Titel: Fallen Leaves

Regie: Aki Kaurismäki

Drehbuch: Aki Kaurismäki

Darsteller: Alma Pöysti, Jussi Vatanen, Janne Hyytiäinen

Produktionsland: Finnland, Deutschland 2023

Länge: 81 Minuten

Kinostart: 14. September 2023

Verleih: Pandora Film Medien GmbH

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: © Pandora Film Medien GmbH

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