Film

„Verlorene Illusionen“ schildert die Geburtsstunde der Trollfabriken und Fake News im Paris des frühen 19. Jahrhunderts. Eine Gesellschaft im Umbruch, die französische Metropole entpuppt sich als Monster, verführerisch, rachsüchtig und gierig. 

 

Für eine Verfilmung von Honoré de Balzacs dreibändigem Roman braucht es Courage und auch eine Spur von Genialität. Regisseur Xavier Giannoli katapultiert die Zuschauer mitten hinein in den Strudel der Ereignisse: Was als scheinbar konventionell opulentes Historiendrama beginnt, entwickelt sich unerwartet zum rasanten gesellschaftskritischen Mix aus Gangster-Farce und Intrigen-Epos. 

 

Angoulême, 1821. Lucien Chardon (Benjamin Voisin) arbeitet in einer Druckerei, seine Leidenschaft jedoch gehört der Dichtkunst. Auf das eigene Talent vertrauend ebenso wie auf die Unterstützung seiner generösen Mäzenin und heimlichen Geliebten Louise (Cécile de France) ist der ambitionierte Naivling überzeugt, Paris würde ihm bald zu Füßen liegen. Kurz entschlossen entledigt sich er sich seiner wenig glamourösen Herkunft, und tritt von nun unter de Rubempré auf, dem adligen Namen seiner Mutter. Nur lassen sich die Aristokraten der Hauptstadt nicht so leicht blenden, -als lächerlich herausgeputzter Provinzler blamiert er seine verheiratete Gönnerin in aller Öffentlichkeit, zu den Zeugen des peinlichen Zwischenfalls gehören unter anderem die bösartige Marquise d’Espard und der brillante Schriftsteller Nathan d’Anastazio (Xavier Dolan), letzteren bewundert unser Protagonist insgeheim, wenn er es auch anfangs nicht eingestehen mag.

 

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Der Traum von einer künstlerischen Blitzkarriere ist ausgeträumt, Lucien in Ungnade gefallen und bettelarm, doch schnell findet sich wieder jemand, der ihn unter die Fittiche nimmt. In Frankreich boomt die Zeitungsbranche, sie gewinnt an Macht und Einfluss, moderne Drucktechnik ermöglicht Massenauflagen. Ein Heer zwielichtiger Journalisten hat sich spezialisiert auf Verleumdungen, Gerüchte und getürkte Rezensionen, -alles auf Bestellung. Der Kunde zahlt, ob Verriss oder Lobeshymne, Theaterpremiere oder Roman, die Willkür kennt keine Grenzen. Vergessen die hehre Kunst der Sonette, skrupellos und mit großem Vergnügen widmet sich Lucien seiner neuen, höchst profitablen Tätigkeit. Unter Chefredakteur (Vincent Lacoste) steigt er zur Celebritiy auf, gefürchtet und hofiert. Nur in Gegenwart des Rivalen Nathan d’Anastazio schlägt bisweilen sein Gewissen. Das leicht verdiente Geld verschwindet mit unglaublicher Geschwindigkeit, ob am Spieltisch, bei Champagnergelagen und Drogen, oder für glanzvolle Wohngemächer. Die Aristokratie setzt noch immer den Maßstab für die Dekadenz der post-Napoleonischen Ära. Am Ende ist alles nur darauf ausgerichtet, mehr zu sein als man ist. 

 

Gekämpft wird nach Gangster-Manier nur eben mit Tinte und Feder, Luciens Kollegen genießen den Wahnwitz ihres Metiers, jene zynische turbulente Welt, in der (fast) alles käuflich ist oder purer Zufall. Ein Kapuzineräffchen darf bei der Redaktionskonferenz entscheiden, welche literarische Neuerscheinung an diesem Tag verrissen wird. Und die Leser lassen sich nur zu gern manipulieren, je boshafter die Glossen, desto höher die Auflage. Claqueure oder angeheuerte Störenfriede entscheiden über das Schicksal einer Theaterpremiere. Lucien hat sich verliebt in die Schauspielerin Coralie (Salomé Dewaels), setzt alles daran, sie aus der Drittklassigkeit des Boulevard ins Rampenlicht einer anspruchsvollen Inszenierung hinüberzuretten. Selbst der wichtigste Verleger der Stadt, Dauriat (Gérard Depardieu) ein ehemaliger Obsthändler, der weder lesen noch schreiben kann, ist auf Lucien aufmerksam geworden. Doch der Ruhm erregt auch Neid und Missgunst. Ein Rückschlag folgt dem nächsten, die anfängliche Naivität ist längst verschwunden, unser Protagonist muss sich entscheiden, welchen Weg einschlägt. Doch das Monster Paris hat längst Witterung aufgenommen. 

 

Regisseur und Autor Xavier Giannoli über den Background seines achten Spielfilms: „Als Balzac seinen Roman „Verlorene Illusionen“ schrieb, war Marx in den Straßen von Paris unterwegs und Thackeray arbeitete an „Barry Lyndon", der etwas später als Fortsetzungsroman veröffentlicht wurde. Man kann Dutzende weitere Beispiele für AutorInnen finden, die erkannten, dass die Welt in die „eisigen Gewässer des egoistischen Kalküls“- um eine bei MarxistInnen beliebte Phrase aufzugreifen- eingetreten war. So schrieb der Kritiker Georg Lukacs (ungarischer Literaturwissenschaftler und Philosoph, 1885-1971, Red.) seitenweise über diesen bedeutenden Roman der „Kapitalisierung des Geistes“ und „der Kommerzialisierung der Welt“. … Balzac erkennt diesen Moment, in dem das Sein zum Haben und das Haben zum Schein degeneriert, weil er auch von Frankreichs Wandel hin zum Kapitalismus erzählt... von den Schäden im menschlichen, politischen, geistigen und künstlerischen Zusammenhang, die durch diese erdbebengleiche Erschütterung verursacht wurden.

 

Hier stellt sich die essenzielle Frage. Was ist noch von Bedeutung in einer Welt, in der alles vom Marktwert abhängt. Der junge Dichter Rubempré wird ja gejagt und die junge Schauspielerin von der Meute wie in einem heidnischen Ritual geopfert. Hat die Kunst in einer solchen Welt noch Platz? Außerdem fand ich es besonders interessant, diese Fragen im Kino aufzugreifen, von dieser Illusionsmaschine par excellence, dem Spektakel des Lebens… und des Todes. 

 

Die kommerzielle Presse ist in der menschlichen Komödie nur ein Zeichen dieser bedeutenden gesellschaftlichen Bewegung hin zum Gott des Profits. Es ist eine ganze Zivilisation, die weggespült wird, und nicht nur ein einfacher Konzern. Balzac geht hart mit diesen kleinen Zeitungen ins Gericht, die wie gesetzlose „Gangs“ erschienen, die bereit waren, ihre Meinung zu Geld zu machen. Ich wollte diese vermeintlichen JournalistInnen als GangsterInnen abbilden, die Karrieren beenden, ihr Revier in den Theatern verteidigen und mit Tintenfässern bewaffnet Krieg führen. Bosheit, Grausamkeit und böse Absichten sind für mich ebenso kinoreif wie Gewalt. …In einer Zeit, in der sich die Printpresse in einer Krise befindet, war es mir ein besonderes Vergnügen, Tinte, Papier, Bleistifte, Bücher, gespitzte Federn, Zeitungsblätter etc. zu filmen. All diese „Marker“ der Schriftlichkeit, die heute durch die „Zahl“, die Berechnung und die Digitalisierung bedroht sind.

 

Nachdem ich mich jahrelang mit dem Buch und der Geschichte beschäftigt hatte, musste ich davon loskommen und mich konzentrieren, was der Text in mir auslöst; auf meine Gefühle. Ähnlich, wie es die Musik tut. Und als ich tatsächlich viel Musik hörte, merkte ich, wie der Roman allmählich zum Film wurde. Es war die Musik, die mich wiederfinden ließ, was man neben den Worten in der Filmarbeit sucht, besonders wenn es um eine Literaturverfilmung geht. 

 

Einige Stücke tauchen aufgrund meiner eigenen Vorlieben auf. Ich fand darin eine originelle Art, mich der Arbeit an der Adaption zu nähern, wie zum Beispiel das Stück „L’ inquiétudine“ von Vivaldi, das zu Beginn des Films läuft. Es ist Barockmusik aus dem 18. Jahrhundert, die von Karajan in einem „romantischen“ Stil neu orchestriert wurde. Verschiedene Epochen kommen so in eine Harmonie, wie unsere mit der von Balzac. Max Richter ging da noch einen Schritt weiter: Er schrieb Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ um, als wolle er den Geist und die Modernität des Werks zum Ausdruck bringen, ohne es jedoch zu verraten. 

 

Vor allem hörte ich auch Bachs Konzert für 4 Klaviere und Orchester, seine unglaubliche „Chor“-Architektur“, in der die Themen von einem Klavier zum anderen verschmelzen zu scheinen. Ich dachte an all die Charaktere, die es im Roman gab, und an all die Harmonie, die man zwischen diesen für die Verfilmung finden muss, um all diese Lebenslinien, all diese Stimmen, all diese Töne, die Tragik und die Komik verbinden zu können. So kam es, dass sich der Begriff „Bewegung“ durchsetzte, das sehr körperliche Gefühl der Bewegung, sei es musikalisch oder einfach die Bewegung der Körper in den Salons, in den verschiedenen Vierteln von Paris, aber auch die große Bewegung einer Gesellschaft, die sich im Umbruch befand. Ich musste diese Geschwindigkeit und Bewegung spürbar werden lassen und sie ins Zentrum der Inszenierung stellen. Letztendlich habe ich mich auf den zweiten Teil des Romans konzentriert. Die Odyssee eines jungen Mannes aus der Provinz, der in der monströsen Stadt die „Schattenseite des Prunks“ und ein Bewusstsein entdeckt. 

 

Jacques Fieschis Mitarbeit am Drehbuch war sehr wichtig und half mir dabei, den Film zu erfassen. Er verschaffte mir einen sensiblen Zugang zu den Figuren und half mir, ihre Beziehung zu vermenschlichen, wenn ich das Gefühl hatte, das Balzac sich zu sehr über sie lustig machte oder sie strafte.

 

…Ich genoss es wirklich, in die Welt des Paris des 19. Jahrhundert einzutauchen, dieses fantastische, vergessene Theater in Chateau die Compiègne zu entdecken, in dem Coralie am Ende des Film gesteinigt wird. Mit seinen Perspektiven sieht es aus wie eine Zeichnung von Stanley Kurick… Ich habe mit sehr speziellen Objektiven gedreht, die die Perspektiven leicht verzerren und manchmal die Ränder der Leinwand dunkel erscheinen lassen. Ich suchte gleichzeitig nach einem Gefühl von Realismus mit der Präzision der Rekonstruktion, aber auch nach einer Abweichung, einer poetischen und manchmal fantastischen Vision, wie in Theaterkulissen oder der Blick durch Luciens Auge, das die andere Seite der Kulisse entdeckt. Ich wollte vor allem eine Sinnlichkeit finden, eine natürliche Verbindung von Orten und Materialien, von Farben, von damit all dies Form bekommt und zum Kino wird, zu Leben erweckt, zu Ton wird, und in Bewegung kommt. … Ein Kinospektakel in einer Welt, in der die ganze Gesellschaft zu einem Spektakel wird, zu einem Schattenspiel der Illusionen. In der aber Körper, Leidenschaft und Liebe sowie Gewalt sehr echt bleiben. 

 

Balzac ist zugleich sinnlich und philosophisch, Psychologe und Anthropologe, Maler und Regisseur. Liest man beispielsweise die Beschreibung des Boulevard du Crime, hat man das Gefühl, dass er die Filmsprache intuitiv verstand. Das Kino ist organisch mit Balzacs Weltanschauung verbunden.“

 

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Verlorene Illusionen

Originaltitel: Illusions perdues

Regie: Xavier Giannoli 

Drehbuch: Jaques Fieschi, Xavier Giannoli, Yves Stravides basierend auf dem Roman Illusions perdues von Honoré Balzac

Darsteller: Benjamin Voisin, Cécile de France, Vincent Lacoste, Xavier Dollan, Salomé Dewaels, Gérard Depardieu, 

Produktionsländer: Belgien, Frankreich

Länge: 150 Minuten

Kinostart: 22. Dezember 2022

Filmverleih: Cinemien


Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Cinemien

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