Film

„Rimini“ erzählt von der grotesk verzweifelten Suche nach einem letzten bisschen Glück am Ende von Leben oder Karriere. Pathos und Kläglichkeit, Kitsch und Sehnsucht kollidieren, wenn der abgehalfterte Schlagerstar Richie Bravo (Michael Thomas) wieder einmal sein „Amore mio“ liebeshungrigen Seniorinnen in geisterhaft leeren Hotelhallen entgegen schmettert. 

 

Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl tritt den Protagonisten mit jener radikalen Aufgeschlossenheit gegenüber, die ihn zum viel gepriesenen Ausnahmekünstler machte. Aber mit sich selbst dort auf der Leinwand konfrontiert werden in wenig heldenhafter Pose, kann es junge Laiendarsteller vielleicht überfordern? War dies der auslösende Faktor zu den Konflikten um Seidls Film „Sparta“?

 

Greisinnen eines Pflegeheims aufgereiht in ihren Rollstühlen singen auf Kommando „Kein schöner Land in dieser Zeit als hier das uns're weit und breit“. Ulrich Seidl versteht sich auf die facettenreichen Formen von Trostlosigkeit und Kälte. Auch wenn manche Kritiker „Rimini“ als ein emotional eher leichter zu verkraftendes Opus empfanden, mich packte das kalten Entsetzen, wahrscheinlich weil andere Exkursionen des begnadeten Provokateurs wie der Dokumentarfilm „Safari“ (2016) nie direkt mein Umfeld berührten, Altwerden dagegen ist eine Realität auch für mich. In „Safari" ging es um das boomende Geschäft mit dem Jagdtourismus. Obsession oder barbarische Eitelkeit? Was treibt Menschen an, in Urlaub zu fahren, um Gnus oder Zebras zu erlegen? Seidl kehrt das Innerste nach außen. Es fließt viel Blut, aber erst beim Abhäuten und Ausschlachten. 

 

Immer wieder beschleicht den Zuschauer das unbehagliche Gefühl, dass über den Tötungsakt menschliche Nähe entsteht. Eine Giraffe stirbt qualvoll. Wenig später fallen sich Vater und Sohn tief bewegt in die Arme, gratulieren einander zu dem gelungenen Abschuss, vor Rührung werden Tränen vergossen, Küsse verteilt. Dergleichen Szenen wiederholen sich in verschiedenen Variationen. Jagd als Tradition oder ultimativer Kick ist vorstellbar, aber dieses kitschig heimelige Glück verblüffte denn auch den Regisseur: „Der Akt des Tötens scheint für sie eine Art emotionale Befreiung zu sein... Töten als Lust, ohne dabei selbst in Gefahr zu geraten.” Nichts erinnert an Ernest Hemingways „Die grünen Hügel Afrikas". Hier sitzt ein österreichisches Ehepaar beim gemütlichen Plausch, beide älter, übergewichtig, passionierte Großwildjäger. Er: „Ein Kudu ist eigentlich immer recht preisgünstig, also der bewegt sich zwischen 780 und 800.” Sie: „Und ein Weißschwanzgnu?” – Er: „Weißschwanzgnu ist ein bisschen teurer, kostet um die 800 oder was.” In solchen Szenen entwickelt „Safari” eine bizarre unfreiwillige Komik, die uns zugleich erschaudern lässt. Die kurzen Ausflüge in die Savanne dagegen haben etwas von einem mobilen Exekutionskommando.

 

Tod, Geld und Selbstverwirklichung bleiben grundlegende Elemente. „Rimini“ beginnt in Österreich, Schlagersänger Richie ist aus der Ferne angereist zur Beerdigung seiner Mutter. Mit Bruder Ewald (Georg Friedrich) trifft er sich im Elternhaus. Hier ist die Zeit stehen geblieben, der Partykeller voller Hirschgeweihe und an der Wand im Kinderzimmer Poster von Charlton Heston und Roy Black. Die Brüder lassen sich volllaufen. Ihr Vater (grandios verkörpert von Hans-Michael Rehberg) ist an Demenz erkrankt, lebt in dem bereits erwähnten Pflegeheim, das Schicksal seiner Frau, er versteht es nicht, schiebt seinen Rollator langsam durch die tristen Gänge, hinter irgendeiner Tür versteckt sich sein tristes Zimmer, eine gemalte Frucht statt Name oder Nummer an der Tür soll dem Bewohner die Erinnerung erleichtern, sie tut es nicht. Misstrauisch wacht der alte Mann über seine Habe, das Vertrauen in seine Söhne hat er schon vor Jahrzehnten verloren.  „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“ singt er mit zittriger Stimme vor der geschlossenen Fahrstuhltür, Richie hält mit „Amore mio“ dagegen. Erfolglos.

 

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Im winterlichen Rimini liegt hoher Schnee und die besten Tage des Sängers Ritchie weit zurück, falls es sie denn je gab. Das Ferienparadies aus Betonklötzen an der Adria-Küste versprüht selbst bei strahlendem Sonnenschein in der Hochsaison wenig italienischen Charme, aber selbst auf den deutschen Massentourismus ist kein Verlass mehr. Seidl kennt Rimini aus der Kindheit, nun dient es als Unterschlupf für den erfolglosen übergewichtigen Schnulzensänger, fast alle Hotels sind geschlossen, die wenigen Auftritte vor ältlichen Touristinnen reichen nicht zum Überleben, doch seine Fans sind treu und umschwärmen ihn. Nächtliche Besuche bei den Damen werden gut honoriert, die Tätigkeit bereitet dem stimmgewaltigen Koloss nicht unbedingt Vergnügen, doch Gigolo Richie bemüht sich, Lust überzeugend zu präsentieren, es soll ein Tauschgeschäft sein, von dem beide Seiten profitieren. Das eigene kitschige Domizil mit weißem Konzertflügel vermietet er an ein Ehepaar, das sich glücklich schätzt, zumindest die Ehefrau, dem großen Künstler so nahe sein zu dürfen. Einsam stapft der Sänger durch Nebel und Schnee am Strand entlang zum nächsten Sex-Rendezvous. Er trinkt, viel und oft, verspielt das wenige Geld an Automaten, bettelt bei den Veranstalten vergeblich um höhere Honorare. Vor den verschlossenen Strandkabinen hocken Flüchtlinge, versuchen sich irgendwie vor der Kälte zu schützen, die Zeit will nicht vergehen. 

 

Dann plötzlich taucht Tessa (Tessa Göttlicher) auf, jene Tochter, um die sich Richie nie wirklich gekümmert hat, mittlerweile erwachsen und mit einem Muslim liiert, verlangt sie eine angemessene finanzielle Entschädigung für die verpfuschte Kindheit. Ohne kriminelle Aktivitäten lässt sich das Geld nicht beschaffen. Seidl verrät seine Protagonisten nie, enthält sich moralischer Wertungen und das in einer Ära, wo sie quasi zur Pflicht erklärt worden sind. Der Filmemacher weiß um die Abgründe der Menschen, ist überzeugt, dass jeder von uns, und auch er selbst, so eine dunkle Seite besitzt. In Richie Bravo verschmilzt die fiktive Figur des Schlagerbarden mit dem realen Background von Michael Thomas, Schauspieler, Sänger, Stuntman, Schwergewichts-Boxer. Er überzeugt in der Rolle des erbärmlichen Macho wie einst Mickey Rourke in Darren Aronofskys „The Wrestler“, gibt dem aufgedunsenen Schnulzensänger mit der blondierten Mähne und den prahlerisch grellen Anzügen die notwendige Tragik und Glaubwürdigkeit des Scheiterns. Unabhängig davon bleiben Bühne und Schlager Mittelpunkt seines prekären Daseins. Die Dialoge sind wundervoll abgewetzt, aus der Mode gekommene Schmeicheleien, aber maßgerecht fürs Seniorenpublikum und noch heute als Rarität in deutschtümelnden Shows geschätzt.

 

Musik ist hier mehr als ein Soundtrack, weit verzweigte Seelenlandschaft, ein hochriskanter Hoffnungsträger. Die Komponisten Fritz Ostermayer und Herwig Zamernik definieren Schlager „…als Volksmusik ohne geographische Heimat. Liebe, Sehnsucht, Schmerz, Verlust und Freude verpackt in die schönste unumwundenste Melodie, so direkt und einfach wie möglich.“ Durch Michael Thomas erhält selbst der ärgste Schmalz eine zutiefst menschliche, fast gebrochene Dimension. Was Kitsch war, kommt als Verzweiflung raus. „Da Schlager ja kollektive Wachträume sind, gehorchen sie, wie alle Träume, nicht der Logik und Vernunft, sondern Wünschen und Ängsten. Und Michael lebt diese Sehnsüchte und Unsicherheiten grandios, im echten Leben wie in der Filmrolle.“ Doch die eindrucksvollste schauspielerische Leistung vollbringt der 1938 geborene Hans-Michael Rehberg, er hatte mit Regisseuren gearbeitet wie Ingmar Bergman, Peter Zadek, Luc Bondy, Peter Stein, Claus Peymann, Robert Wilson, Dieter Giesing, Hans Neuenfels. Immer wieder verkörperte er das Abgründige, das Dämonische. Wieviel Mut gehörte dazu, nun kurz vor dem Tod die Rolle eines senilen, hilflosen Alt-Nazis zu übernehmen, mit der eigenem Gebrechlichkeit als Ausdrucksform zu experimentieren. Es ist als würde er damit seine Privatsphäre zur Bühnenausstattung erklären, dem Tod trotzen bis zum letzten Atemzug. Rehberg starb 2017 kurz nach Beendigung der Dreharbeiten. 

 

Ulrich Seidl begann seine Karriere mit preisgekrönten Dokumentarfilmen wie „Good News“ (1990), „Tierische Liebe“ (1995) oder „Models“ (1998). Mit seinem Spielfilm-Debüt „Hundstage“ gewann er 2001 den Großen Preis der Jury bei den Filmfestspielen von Venedig. „Import Export" folgte 2007, „Paradies-Trilogie“ 2012, deren Filme in den Wettbewerben von Cannes, Venedig und Berlin ihre Uraufführung feierten.

 

„Rimini“ ist als Gratwanderung zwischen Fiktion und Realität gelungen, seine Authentizität atemberaubend. Gefährlich wurde die Gratwanderung für Seidl durch „Sparta“, die Charakterstudie handelt von der Unentrinnbarkeit der eigenen Vergangenheit, dem Schmerz, sich selbst zu finden. Oder ist es der Schmerz, sich nie wirklich zu finden? Ewald (Georg Friedrich), den Bruder von Ritchie Bravo, hat es nach Rumänien verschlagen, er ist Ingenieur in einem Kraftwerk, seine Partnerin drängt auf Heirat, mehr Sex. Der Mittvierziger zieht sich immer mehr in sich selbst zurück, glücklich scheint er nur, wenn er mit den Neffen seiner Freundin herumtobt. Ewald flieht, er weiß um seine pädophile Neigung, weiß, er darf ihr nicht nachgeben. Noch einmal besucht er den Vater im Altersheim, dann bricht er auf, zieht in eine verarmte ländliche Gegend Rumäniens. Das völlig verfallene Schulgebäude baut er mit den Jungen des Dorfes zu einer Art Festung um. Er bietet Kindern und Jugendlichen gratis Judo-Unterricht an. Von daheim kennen die Kids nur Armut, Gewalt, Alkoholismus, sie sind aggressiv, verängstigt, gehemmt, manche misstrauisch, andere dankbar für die ungewohnte Zuwendung. Die Trostlosigkeit dieser Gegend ist unerträglich, es ist, als hätten die Menschen schon vor langem das Miteinander-Sprechen verlernt. Zwischen den Jungen entwickelt sich eine Art von Rivalität genau wie zwischen Ewald und den Vätern. Die Unbeschwertheit ihrer Söhne, das Engagement des Fremden weckt den Argwohn. Eigentlich ist es nur Eifersucht auf den Österreicher mit seinem zerbeulten SUV, der sich spendabel gibt und eigentlich die Kinder ausnutzt, so will man es zumindest sehen, um das Wohl der Söhne geht es weniger. Das Misstrauen wächst. 

 

Doch bevor jemand den Film sah, erschien der Spiegel-Artikel mit einer vernichtenden Überschrift, die für immer den Ruf des renommierten Regisseur beschädigte. Was geschah wirklich? Film, das klingt nach Glamour, Ruhm, sozialem Aufstieg. In einem internationalen Film mitspielen zu dürfen, es klingt in dieser Einöde der Hoffnungslosigkeit für Kinder wie auch ihre Eltern nach der Verwirklichung eines Traums. Doch dann auf der Leinwand erscheint die Realität in all ihrer Tristesse, man fühlt sich wie auf frischer Tat ertappt, voller Scham über das eigene Scheitern und das Elend, was einen tagtäglich umgibt. Die Rüstung mit den Schwertern, nun im Film ist sie lächerliches Requisit, man ist kein Superheld nur ein staksiger Junge. Die Söhne waren nach Ende der Dreharbeiten wieder allein mit ihren frustrierten Vätern, die sie wahrscheinlich büßen ließen für ihr Interesse an dem Regisseur aus Österreich. Seidls Bilder sind intensiv ob ihrer Authentizität, ich sehe immer noch Rehberg als verwirrten gebrechlichen Greis vor mir und die Angst lähmt mich.

 

Die Fragen von ReporterInnen beeinflussen oft die Antwort des Gegenüber, wer glaubt, jedes Statement entspräche der Wahrheit, nur weil es dem Zeitgeist entspricht, irrt. Noch nie war Seidl so behutsam mit einem Thema umgegangen. Welche Ironie, dass grade „Sparta“ ihm zum Verhängnis wurde. In seiner Stellungnahme wehrt sich Ulrich Seidl gegen die Vorwürfe und schreibt unter anderem: Immer versuchte ich in meiner Arbeit, das Widersprüchliche in unserem Handeln und Denken als Essenz des Menschseins zu ergründen. Mir ist bewusst, dass meine künstlerische Weltsicht, und wie ich sie in meinem Film ausdrücke, nicht zuletzt in krassem Gegensatz steht, zu einem gegenwärtigen Zeitgeist, der ein verkürztes, vielfach kontextloses „Entweder – Oder“ verlangt, wo ein „Sowohl - Als auch“ die menschliche Erfahrung deutlich besser beschreibt.

 

In allen meinen Filmen, in meinem gesamten künstlerischen Werk verlange ich nach Empathie für die Angeschlagenen und Abgestürzten, für die Abgedrängten und Geächteten: Ich stelle sie nicht an den (moralischen) Pranger, sondern fordere dazu auf, sie als komplexe und auch widersprüchliche Menschen wahrzunehmen. Die daraus sich ergebenen Ambivalenzen zwischen Fürsorge und Missbrauch zu erkennen und zu beschreiben, hinzuschauen, statt weg zu sehen und sie damit auszublenden- darin sehe ich eine wesentliche Verantwortung- als Künstler und als   Mensch.“ Die Premiere in Toronto wurde abgesagt, dank dem Hamburger Filmfest und seinen Veranstaltern, dass sie den Film im Programm ließen, ihre Zuschauern die Möglichkeit gaben, sich selbst ein Bild zu machen. Die ReporterInnen des Spiegels sollen nie um eine Sichtung gebeten haben. Vielleicht könnte so eine Story auch anders aufgezogen werden, versuchen mit den Betroffenen einen Dialog zu entwickeln, das Konzept Seidl zu erklären. Die Kinder nicht zu Opfern stilisieren, sie loben, dass sie den Mut hatten, sich in all ihrer Unzulänglichkeit der Kamera zu stellen. So sähen wirkliche engagierte Schauspieler aus, Konfliktsituationen darstellen, gibt Kraft. Nur Filmkritiker, die den Stil von Seidl als Voyeurismus abqualifizieren, wird niemand überzeugen.

 

Kinder oder Jugendliche vor der Kamera, es verändert immer ihr Leben. Wir erinnern uns an Luchino Viscontis „Tod in Venedig“ (1971), Reflexionen über Liebe und Kunst. Der 1955 in Stockholm geborene Björn Andrésen spielte die Rolle des Tadzio. Der damals 16jährige fühlte sich erdrückt von der Aufmerksamkeit, den Avancen von Männern und Frauen. Kurz vor der Premiere begann der Regisseur von ihm als dem „schönsten Jungen der Welt“ zu sprechen. In ihrer Doku „The Most Beautiful Boy in the World“ zeigt Kristina Lindstörm die Probeaufnahmen mit Visconti. Es wird wird deutlich, der schüchterne Junge hasst es, sich mit nacktem Oberkörper der Kamera zu präsentieren. Doch seine Großmutter träumt von einem berühmten Enkelkind, sie entscheidet. Nach dem Film avancierte Andrésen in Japan zum Teenie-Star, irgendwann lief alles aus dem Ruder. Eine Familie, Geborgenheit, schrieb jemand, das war, was der 16jährige sich eigentlich wünschte. Nun, die Geborgenheit riskiert mancher Youngster gern für den Glamour der Filmbranche.  

 

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Originaltitel: Rimini

Regie: Ulrich Seidl

Drehbuch: Veronika Franz, Ulrich Seidl

Darsteller: Michael Thomas, Tessa Göttlicher, Hans-Michael Rehberg, Georg Friedrich, Inge Maux, Claudia Martini

Produktionsland: Österreich, Frankreich, Deutschland 2022

Länge: 114 Minuten 

Kinostart: 6. Oktober 2022

Verleih: Neue Visionen

 

Originaltitel: Sparta

Regie: Ulrich Seidl

Drehbuch: Veronika Franz, Ulrich Seidl

Darsteller: Georg Friedrich, Florentina Elena, Hans-Michael Rehberg, Marius Ignat, Octavian-Nicolae Cocis

Länge: 101 Minuten

Produktionsland: Österreich, Frankreich, Deutschland 2022

Verleih: Neue Visionen

Filmfest Hamburg: 5. Oktober 2022


Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Neue Visionen

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