Pünktlich zum Jubiläumsjahr und 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini (1922-1975) erscheint das ins Deutsche übersetzte, unvollendet gebliebene Treatment zu seinem letzten Film mit dem provozierenden Titel „Porno – Theo – Kolossal“. Es sollte sein letzter werden, bevor sich der italienische Ausnahmeregisseur, Künstler, Poet, Intellektuelle, Verfasser der „Freibeuter“-Schriften und Galionsfigur der 68er-Generation ganz dem Schreiben widmen wollte.
Doch sein gewaltsamer Tod auf den 2. November 1975 durchkreuzte alles. So blieb dem internationalen Filmpublikum zuletzt der noch im gleichen Jahr in die Kinos gekommene, höchst umstrittene Film „Die 120 Tage von Sodom“ („Salò“, 1975) in Erinnerung. Jetzt zeigt sich, dass Pasolini eigentlich einen ganz anderen cineastischen Schlussakzent setzen wollte, denn soeben ist das Drehbuch zu seinem „Porno – Theo – Kolossal“-Projekt in deutscher Sprache erschienen und bietet in mancher Hinsicht eine Überraschung: Der vielseitig begabte Freidenker und vehemente Gegner eines neokapitalistischen „Raubtier-Konsumismus“ aus Italien konnte auch anders.
Als „Teaser“ zur Neuerscheinung veröffentlicht Kultur-Port.De im Folgenden den „Prolog“ von „Porno – Theo – Kolossal“ ab. Was auf diesen Auftakt folgt, ist ein – sowohl mythisch als auch real, teils utopisch und teils dystopisch anmutendes – Roadmovie, in dem ein älterer Gelehrter aus Neapel (designierter Schauspieler war der gebürtige Neapolitaner, Theaterintendant und Komiker Eduardo De Filippo) den Stern des neu- oder wiedergeborenen Messias aufgehen sieht. Zusammen mit seinem kauzigen, jüngeren Diener (Ninetto Davoli) folgt er ihm – von einer inneren Stimme geführt – von Neapel über „Sodom“ (Rom) und „Gomorra“ (Mailand) nach „Numantia“ (Paris) bis in die archaische Stadt „Ur“ in Nahost.
Im Zuge der Reisestationen überdenkt und versammelt Pasolini alle seine großen Lebensthemen und seine Kultur-, Gesellschafts- und Ideologiekritik. In ihrem thematischen Reichtum und der angedachten Vielgestaltigkeit der Inszenierung – im weiten Bogen von Komödie bis Apokalyptik, von Genderdebatten bis Glaubensfragen – ist die literarische Fassung des „Porno – Theo – Kolossal“-Projekts aus heutiger Sicht ein Schlüsselwerk und Schlussstein von Pasolinis künstlerischem Gesamtkonzept: Es sollte nichts Geringeres als die „Summe“ seines Filmschaffens werden, das der deutsche Leser nun in Buchform entdecken kann.
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„Prolog“:
Wir befinden uns im Dunkel und in der Stille kosmischer Höhen. Im Hintergrund sieht man, zu unseren Füßen, die Erdkugel.
(Es wäre natürlich angebracht, hier keine künstliche Kugel zu zeigen, sondern den wirklichen, echten Erdball, genau so wie er auf Fotografien aussieht, die ein Astronaut von einem Raumschiff aus aufgenommen hat).
Man sieht die faltigen Züge der Erde, die bleiernen Flecken der Meere, die Grenzen der Kontinente, usw., usf., bis sich vor unseren Augen ab einem bestimmten Moment – denn der Globus dreht sich natürlich – die nebelverhangenen rötlichen Umrisse Italiens abzeichnen.
Von da an lassen sich so etwas wie ferne Stimmen hören, Schreie, Rufe, sogar eine Stimme, die ein altes neapolitanisches Volkslied singt, auf die Entfernung ziemlich leise.
Wir kommen immer näher, und ... nun erscheint das Panorama von Neapel. Neapel von oben gesehen, mit seinen Gassen, seinen Plätzen, seinen Elendsvierteln.
Der Morgen dämmert, die Stimmen, die wir hören, sind noch vereinzelt: Stimmen von Frauen, Straßenjungen ... Der Sänger ist ein Straßenkehrer, der durch die Gassen zieht.
Doch trotz dieser alltäglichen und ruhigen Atmosphäre des frühen Morgens, spürt man, dass in diesen Stimmen etwas seltsam Aufgeregtes, irgendwie Dramatisches ist. Was es ist, bleibt unklar.
Dann, im nächsten Augenblick, öffnet sich an der abgeblätterten Wand eines Gässchens ein kleines Fenster, aus dem Eduardo De Filippo verschlafen und strubbelig hervorlugt. Er blickt um sich und sagt: «...........»
Aus dem Inneren der Wohnung antwortet ihm eine weinerliche weibliche Stimme – seine Frau: «...........»
In aller Ruhe dreht er sich um, schließt das Fenster, kehrt in die Wohnung zurück und bereitet sich auf seinen langen Tag vor. Er hält noch einen kleinen Schwatz mit seiner Frau – eine Neapolitanerin, alt wie die Welt, fett, zerzaust und ständig im Bett, mit gewaltigen Beinen. (Und vielleicht in der Nähe eine Frau, die ihr hilft, bleich, schwarz und stumm).
Letizia Battaglia: Pier Paolo Pasolini im Circolo Turati, Mailand, Ende der 1960er Jahre. (Mit freundlicher Genehmigung von Letizia Battaglia)
Im Flur befindet sich noch eine andere Person, ganz zerzaust und struppig: der Diener. Wir wissen sofort, dass Eduardo De Filippo ihn am Abend zuvor eingestellt und ihm im Flur ein Feldbett zum Schlafen aufgestellt hat.
Eduardo weckt den Diener, gibt ihm Zeichen, ihm zu folgen, sie nehmen eine große Tasche und verlassen das Haus, um einzukaufen.
Der am Abend zuvor eingestellte Diener macht schon bei seinem ersten Auftritt klar, dass er in keiner Weise die Absicht hat, seinen Herrn zufriedenzustellen, in keiner Weise an dessen Leben teilzuhaben, sondern vielmehr darauf bedacht ist, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Er gehorcht, er dient, mehr aber auch nicht. Sein Verhalten – würde ich sagen – ist nicht feindselig, aber sehr seltsam, sehr distanziert, sehr barsch, fast unhöflich. Eduardo jedoch, ganz neapolitanischer Signore vom alten Schlag, ignoriert das alles.
Die beiden gehen die Treppe hinunter, treten auf die Gasse hinaus und beginnen mit ihren Einkäufen.
Die Unruhe, die dramatische Spannung, die bereits in den konfusen Stimmen in der Morgendämmerung zu spüren war, wird immer deutlicher und irritierender.
Je näher die beiden dem Marktplatz kommen, desto intensiver wird die Spannung, bis Eduardo und sein Diener Ninetto schließlich in eine ganz und gar außergewöhnliche Situation geraten.
Es geht um Folgendes: In Neapel leben, weinen, lachen, verzweifeln, diskutieren, streiten, beten und singen alle, weil sich die geheimnisvolle Nachricht verbreitet hat, dass irgendwo auf der Welt der Messias geboren ist.
Und dieser Messias, so heißt es, würde den Menschen Glück, Ordnung, Reichtum, Güte, Brüderlichkeit und all die anderen Dinge bringen, die sich die Menschen, und besonders die Neapolitaner, wünschen: selbst die einfachsten und harmlosesten Dinge.
Bernardo Bertolucci und Pier Paolo Pasolini am Set von „Accattone“, 1962. Fotograf: unbekannt. Public domain.
Es gibt Leute, die – unter Geschrei – daran glauben, und andere, die – unter Geschrei – nicht daran glauben: Und so streiten diejenigen, die daran glauben, mit denjenigen, die nicht daran glauben. Kurzum, es tobt das alte neapolitanische Durcheinander bei großen Anlässen. Eigentlich das, was jeden Tag in Neapel stattfindet, aber dieses Mal ist nicht zu übersehen, dass der Grund dafür wahrhaft einzigartig, außergewöhnlich und historisch ist. Die Geburt des Messias!
«O’ Messia ca’, o’ Messia là ... o’ Messia vene, o’ Messia nun vene, nun è o vero, site buciarde, site ricchione ... struonze ...». Eduardo bleibt stehen, um allen mit großer Neugier und mit gespitzten Ohren zuzuhören: Er ist ergriffen und verfällt in eine beinahe feierliche Stimmung, so als handele es sich um etwas Entscheidendes für sein Leben. Denn Eduardo De Filippo ist ein Magierkönig.
Mit gutem Grund hat er auf eben diesen Tag, den er auf der Basis seiner astrologischen Studien und kabbalistischen Deutungen berechnet hat, schon seit Monaten, vielleicht schon seit Jahren gewartet: auf den Tag der Ankündigung der Geburt des Messias. Da er nun aus des Volkes Stimme heraushört, dass sich seine Prophezeiung vielleicht erfüllt, überströmt ihn nach jener feierlichen Ergriffenheit ein tiefes Glücksgefühl, und er versucht sich Ninetto mitzuteilen, stotternd, lachend ... Doch Ninetto gibt ihm nicht einmal in diesem so außergewöhnlichen Fall auch nur die geringste Genugtuung und scheint zu sagen (er ist Römer): «Aho, so’ cazzi vostri, che me frega a me del vostro Messia!».
Ohne Einkäufe, mit leeren Taschen, eilt Eduardo zurück nach Hause, tritt ein und berichtet seiner Frau atemlos die Neuigkeit, fast schon in einem Zustand delirierender Glückseligkeit. Ninetto hält sich skeptisch zurück, schmollt und gibt sich ein wenig ironisch (hin und wieder wirft er natürlich eine witzige Bemerkung ein). Kaum hat er das große Ereignis seiner Frau verkündet, macht sich Eduardo eilends daran, seine Papiere und Bücher zu konsultieren: Ja, genau an diesem Tag sollte der Messias zur Welt kommen...
Der Magierkönig verbringt den ganzen Tag mit Berechnungen und mit dem Studium seiner Texte ... Dann, am späten Nachmittag, schleppt er wieder seinen Diener mit sich durch die Straßen, um hier und da in der Stadt mehr in Erfahrung zu bringen ... In Forcella ..., auf dem Vomero ... und in Margellina ... Ganz Neapel ist nur noch ein großes Theater, in dem die bedeutendste Szene seiner Geschichte aufgeführt wird ... Schließlich wird es Abend. Eduardo befindet sich wieder am Fenster seiner Wohnung: Es geht um das abendliche Ritual, wie schon sein ganzes Leben lang. Er muss das Fenster genauso schließen, wie er es morgens geöffnet hat. Und in diesem Augenblick, als er gerade den wackeligen Fensterladen zu sich heranziehen will, kommt es zum letzten, entscheidenden Ereignis dieses denkwürdigen Tages: gleichsam dessen höchste Besiegelung. Hoch oben, rein und glasklar sieht Eduardo in den Tiefen des klaren Nachthimmels den Kometenstern.
Er weiß gleich genau, dass dieser Stern dort steht, um ihm den Weg zu weisen, dem er folgen muss, um den Messias anzubeten.
Pasolini Grafitti in Rom. Foto: Igiaba Scego
Von noch größerer, noch stärkerer, noch umfassenderer Freude ergriffen, entscheidet sich Eduardo (und verkündet es dem ganzen Haus), dass er am nächsten Tag aufbrechen wird. Sofort wird damit begonnen, die Bündel zu schnüren. Für ein Fest? Für einen letzten Abschied?
Am Morgen danach öffnet Eduardo wieder das kleine Fenster und ist reisefertig. Und tatsächlich, dort oben bewegt sich der Komet, als wolle er ihm den Weg weisen.
Gefolgt von Ninetto stürzt er die Treppe hinunter, tritt auf die Gasse hinaus und macht sich zum Bahnhof auf, die Augen stets zum Himmel und punktgenau auf den Kometenstern gerichtet.
Vorneweg De Filippo – ein geheimnisvolles Bündel an die Brust gepresst – triumphierend, aber auch noch verwirrt und ein wenig gerührt (er trocknet sich mit dem Taschentuch die Tränen des Abschieds von seinem Haus, von der Frau und nun auch von seiner Stadt: aber es sind halb Schmerzens- und halb Freudentränen), gefolgt von Ninetto mit den großen Koffern.
Sie erreichen den Bahnhof von Neapel und treffen dort auf andere Magierkönige, die ebenfalls dem Kometenstern folgen, aber sie sind sich über die Richtung nicht einig: Der eine bricht gen Süden, der andere gen Osten auf. Eduardo und Ninetto hingegen nehmen den Zug, der nach Norden fährt.
So beginnt ihre Reise, die lange Reise ihres Lebens.
Während der Zug ratternd nordwärts fährt, ergibt sich die erste kleine Szene (die sich im Laufe des Films mehrmals wiederholen wird), in der Ninetto (der Situation geschuldet) ein neapolitanisches Lied zu singen beginnt, während Eduardo einen «komischen Konterpart» gibt.
Die Zeit vergeht mit diesem neapolitanischen Abschiedsliedchen, und schon sind wir in der Nähe dessen, was geografisch Rom sein müsste, angekommen, aber in unserem Film (der eine einzige, gewaltige Metapher ist, die die Realität umkehrt und neu erfindet) präsentiert sich die Stadt unter dem Namen Sodom.
Rom im November 1975. Pier Paolo Pasolinis Sarg: daneben Autor Franco Citti und der Generalsekretärder Kommunistischen Partei Italiens (2.von rechts), Enrico Berlinguer. Quelle: La storia della foto di Benigni e Berlinguer, su ilpost.it, 25 maggio 2012. Fotograf unbekannt. Gemeinfrei
Pier Paolo Pasolini: „Porno – Theo – Kolossal. Pasolinis letztes Filmprojekt“
übersetzt aus dem Italienischen ins Deutsche von Dagmar Reichardt, hg. von Dagmar Reichardt und Reinhold Zwick, mit zwei kritischen Begleittexten der Herausgeber,
Marburg
Schüren, 2022, 208 pp.
Weitere Informationen (Homepage Verlag)
Filmclip zum Buch:
You-Tube Video einer künstlerischen Filmadaptation (Regie: Matteo Cerami und Mario Sesti) von Pier Paolo Pasolinis Drehbuch „Porno – Theo – Kolossal“ (mit Pasolinis Originalstimme), in dem Teile des „Prologs“ von Pasolini, Toni Servillo und Graziella Chiarcossi gelesen werden (auf Italienisch).
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