Ihr Blick trifft uns mitten ins Herz, – ein Blick voller Zorn, Entschlossenheit, Schmerz und Trauer. Cynthia Erivo spielt die Rolle der legendären afroamerikanischen Freiheitskämpferin aus dem 19. Jahrhundert: Harriet Tubman. Sie wuchs in Maryland als Sklavin auf, flieht 1849 allein zu Fuß 100 Meilen durch Wälder und unwegsames Gelände nach Pennsylvania, gehetzt von Hunden und Sklavenjägern. Doch die politische Aktivistin kehrt immer wieder heimlich zurück in die Südstaaten, um Hunderte von Leidensgenossen über die Grenze zu schleusen.
Das berührende Bio-Pic „Harriet – Der Weg in die Freiheit” inszeniert Regisseurin Kasi Lemmons ästhetisch virtuos als Mix aus feministischem Western und intimer Charakterstudie voll alttestamentarischer Power. Die Heldin in der Tradition von Jeanne d'Arc vertraut allein auf Gott und ihre Visionen, wenn es sein muss, greift sie auch zur Waffe. Ihr Deckname lautet Moses.
Dorchester County, Maryland. Noch heißt die Protagonistin Araminta „Minty” (Cynthia Erivo) und arbeitet als Sklavin im Haus und auf der Plantage von Edward Brodess, sie träumt davon, mit ihrer Familie eines Tages in Freiheit leben zu können. Eigentlich ist das Gesetz auf ihrer Seite, Edwards Großvater hatte testamentarisch verfügt, dass Mintys Mutter Rit im Alter von 45 Jahren zusammen mit ihren Kinder in die Freiheit entlassen werden soll. Doch nun mit 57 ist Rit noch immer Sklavin, genau wie ihre Töchter und Söhne. Ein Anwalt hat das Dokument überprüft, der Plantagenbesitzer zerreißt dessen Schreiben wutentbrannt, verbietet Mintys Ehemann John (Zackary Momoh), einem freien Schwarzen, je wieder sein Land zu betreten. Bald darauf stirbt der alte Brodess unerwartet, sein Besitz geht an die Witwe Eliza und den Sohn Gideon (Joe Alwyn). Die rebellische Sklavin soll in den tiefsten Süden verkauft werden. Spätestens in diesem Moment begreift Minty, dass sie nicht mehr das Eigentum eines Anderen sein kann. Als junges Mädchen hat sie Gideon rührend umsorgt und gepflegt, er war an Typhus erkrankt. Zwischen den beiden besteht seitdem eine Art unsichtbares Band, Minty, wie viele Sklaven, empfindet sich der weißen Herrschaft gegenüber in der Pflicht, auch der Priester predigt Gehorsam und demutsvolle Unterwerfung. Sympathien von Weißen für Sklaven, welcher Art auch immer, sind ein Tabu, Gideons Vater warnte einst den Sohn, verglich das Phänomen des Lieblingssklavens mit dem eines Lieblingsschweins, das nichtsdestotrotz irgendwann geschlachtet wird. Der junge Mann kompensiert seine unterschwelligen Gefühle mit extremer Aggressivität.
Das Drehbuch schrieb die 59jährige US-amerikanische Filmemacherin („Eve's Bayou”) zusammen mit Gregory Allen Howard, bewusst wird auf ein Übermaß an Action verzichtet, Gewalt an Schwarzen wie in „12 Years a Slave“ nicht reproduziert. Die Gräuel und Demütigungen der Sklaverei vermittelt uns Lemmons meist verbal, durch Worte, die sich schmerzhaft in unser Gedächtnis einbrennen: "Kinder werden geschlagen, weil sie nicht arbeiten, bevor sie überhaupt wissen, was Arbeit ist! Mädchen missbraucht vor ihrer ersten Blutung. Brüder ausgepeitscht, bis die Haut in Fetzen fällt; Schwestern verkauft ohne ihre Babys. Ihr Leidensweg ist unvorstellbar." Was wir visuell wahrnehmen, sind die Wunden, die nie wirklich verheilen, die Schmerzen und Ängste. Mit dreizehn Jahren war Minty von ihrem Master am Kopf schwer verletzt worden, noch immer leidet sie unter Ohnmachtsanfällen. So lernen wir sie kennen, ausgestreckt auf der Erde, Erinnerungen vermischen sich mit Visionen, es sind göttliche Prophezeiungen, davon ist Minty überzeugt. Ihr Allmächtiger ist kein Gott der Ausgrenzung, sondern ein Gott, der nicht will, dass Menschen andere Menschen besitzen. Dieser Glaube gibt ihr die Unerschrockenheit, Kraft, jene unerschöpfliche Energie für die gefahrvolle Flucht und auch für all die Jahrzehnte danach. „Freiheit oder Tod” ist ihre Maxime. Verkauft zu werden wie ihre Schwestern, würde bedeuten, die Eltern nie mehr wiederzusehen, die kleine Welt zu verlassen, in der sie fest verwurzelt ist. Die Fluchtpläne vertraut sie nur ihren Mann an, der will sie begleiten, sie lehnt ab, fürchtet, auch ihn in Gefahr zu bringen. Von der Mutter verabschiedet sie sich aus sicherer Entfernung mit einem klassischen Spiritual, das von der Suche nach dem gelobten Land erzählt. Ben Ross rät der Tochter, sich mit Reverend Samuel Green in Verbindung zu setzen. Auf den Plantagen im Beisein der Weißen predigte der Geistliche die Würde harter Arbeit und den Edelmut der Knechtschaft. Als Mitglied der African Methodist Church nutzte er aber seine Position, um Freiheitssuchende zu unterstützen.
Der Film ist auch die Geschichte der Fluchthelfer-Organisation „Underground Railroad”, das geheime Netzwerk, mit dem die Gegner der Sklaverei bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs entflohene Sklaven aus dem Süden der USA in den Norden geleiteten. Zwischen 1810 und 1860 sollen rund 50.000 von weißen und schwarzen Helfern durch ein Geflecht aus Verstecken, Routen, Vorratslagern geschleust worden sein. Der Geheimcode für den ersten Ansprechpartner lautete „Zugführer“, Begleiter waren „Schaffner“, Gastgeber „Stationsvorsteher“, die Flüchtlinge wurden als „Gepäckstücke“ bezeichnet und von „Depot“ zu „Depot“ weitergereicht, von entscheidender Bedeutung auch die sogenannten „Anteilseigner“, die mit Geld, Beziehungen sich für das Netzwerk einsetzten. Die Helfer stammten oft aus religiösen Gemeinschaften, viele waren Quäker. Nur Minty ist bei ihrer Flucht oft völlig auf sich allein gestellt. Sie wird von ihren Verfolgern in die Enge getrieben, steht auf einer hohen Brücke, blickt hinab die Tiefe. Entkommen scheint unmöglich. Gideon versucht sie mit verlogenen Versprechungen zu überlisten. Die Verlockung ist groß, noch einmal dem weißen Mann Glauben zu schenken. „Freiheit oder Tod” ist ihre unmissverständliche Antwort, sie stürzt sich hinab in die reißenden Fluten. Vieles wird nur angedeutet, die Gefahr bleibt immer präsent, aber der Überlebenskampf wird nie zum spannungsgeladenen suggestiven Bilderrausch umfunktioniert wie in Sam Mendes’ „1917”.
In Philadelphia macht Minty bei der Pennsylvania Anti Slavery Society die Bekanntschaft von William Still (Lesie Odom Jr.), hier wählt sie ihren neuen Namen: Harriet Tubman. Schauspielerisch überragend die Leistung von Cynthia Erivo, sie gibt dem Epos seine Intensität. Beeindruckend die Verwandlung von der verängstigten Sklavin zur selbstbewussten berufstätigen Frau, die zum ersten Mal ihr eigenes Geld verdient, und später dann zur berühmtesten Fluchthelferin der Vereinigten Staaten avanciert. Die neu gewonnene Freiheit kann Harriet nicht genießen, während so viele Menschen in der Sklaverei zurückbleiben. Sie beschließt ihren Mann John und andere Familienmitglieder in den Norden zu schleusen. Doch wann immer die junge Frau sich ein Ziel setzt, wird sie in ihre Grenzen verwiesen: "Die Rettung von Sklaven erfordert Geschick und sorgsame Planung. Und man muss lesen können, Harriet! Kannst Du Schilder lesen, Karten, Straßennamen? Kannst Du überhaupt lesen?" – "Ich bemühe mich eher, ganz klar Gottes Stimme hören zu können." – "Du hattest Glück, Harriet! Es gibt nichts mehr, was du tun kannst." - "Erzähl mir nicht, was ich tun kann! Ich bin allein bis hierhergekommen. Gott hat über mich gewacht. Aber es waren meine Füße, die rannten, bluteten, ich bin geklettert, fast ertrunken, hatte nichts zu essen tagelang. Aber ich bin jetzt hier! Also sag mir nicht, was ich kann oder nicht kann." Sie ist stur, unbeugsam, kühn, ihr gelingt, was sonst keinem gelingt. Sie antizipiert Gefahr, verlangt von sich und anderen Disziplin, Mut. Und doch ist sie verletzlich wie jeder von uns. Sie muss entdecken, dass John in der Annahme, sie sei umgekommen beim Sturz von der Brücke, eine neue Ehe eingegangen ist. Lange hat er nicht getrauert. Sie ist enttäuscht, verzweifelt, aber überzeugt, dass Gott sie zu einem höheren Zweck berufen hat. 13 Mal kehrt sie mit gefälschten Papieren in den Süden zurück, bringt 70 Menschen in Sicherheit, jedes Mal wächst die Gefahr ihren Gegnern in die Hände zu fallen.
Hollywood mit seiner Tradition als Traumfabrik, sonst so versessen auf Helden und Heldinnen, ignorierte über Jahrzehnte hinweg Harriet Tubman bewusst. Die Abolitionistin mit dem Status einer Ikone war nicht nur Fluchthelferin der Railway Underground. Sie verdingte sich auch als Spionin für die Unionsarmee, führte im Bürgerkrieg ein Bataillon von Soldaten an und kämpfte in späteren Jahren für das Frauenwahlrecht. Nun endlich ist ein Film über sie entstanden. In den USA demonstrieren Hunderttausende in den Straßen gegen Rassismus und Polizeigewalt. "Black Lives Matter" heißt es auch in Deutschland und nun reagieren die heimischen Kritiker mit leichter Verachtung. Die Sklaverei würde zu zahm dargestellt, man vermisst das Bestialische des Systems wie in Steve McQueens Werk „12 Years a Slave“. Zugegeben, ein grandioser Film, nur müssen wir uns jedes Mal am bildgewaltigen Elend der Unterdrückten delektieren? Kasi Lemmons Charakterstudie wird abgetan als Erlöserkitsch. Sitzt man da nicht vielleicht den eigenen Klischees auf? Unter den Umständen hätte heute eine Jeanne d'Arc wohl auch keine Chance mehr. Religion generell schon als lächerlich abzutun, aber gerne doch mit fernöstlicher Esoterik kokettieren, entspricht dem Zeitgeist. „Altbacken, holprig“, solche herablassenden Kommentare will ich einfach nicht lesen, wo mit Begeisterung jede neue Netflix-Serie durchgewinkt wird. Kasi Lemmons hat als Schauspielerin angefangen, spielte an der Seite von Jodie Foster im „Schweigen der Lämmer“. Spannende Kinounterhaltung ist ihr also ein Begriff, sie selbst bevorzugt einen nüchterneren Stil. Eigentlich sollte Harriet Tubman mit ihrem ungeheuren Mut eine Provokation für jeden von uns sein, wann haben wir das letzte Mal Mut bewiesen, für andere Menschen etwas riskiert?
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Originaltitel: Harriet
Regie: Kasi Lemmons
Drehbuch: Gregory Allen Howard, Kasi Lemmons
Darsteller: Cynthia Erivo, Leslie Odom Jr., Joe Alwyn, Clarke Peters, Janelle Monae
Produktionsland: USA, 2019
Länge: 125 Minuten
Verleih: Universal Pictures International Germany
Kinostart: 9. Juli 2020, ursprünglich 23. April
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Universal Pictures International Germany
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