Film
Ava

„Ava” ist eine Studie weiblicher Sexualität aus der Perspektive einer störrischen Dreizehnjährigen, der Arzt hat ihr grade eröffnet, dass sie in wenigen Monaten erblinden wird. Das Drehbuch schrieb die französische Regisseurin Léa Mysius zusammen mit ihrem Kameramann Paul Guihaume.

Der leicht surrealistische Film mit seinen magischen wunderschönen Bildern entwickelt sich für den Zuschauer zu einem suggestiven visuellen Abenteuer zwischen Sehnsüchten, Bedrohung und Albträumen: Sinnlich, verwegen, von trotziger Eindringlichkeit, unberechenbar wie die Protagonistin selbst.

Sommer, ein überfüllter Strand an der südfranzösischen Atlantikküste. Das flirrende Licht blendet, Vanilleeis tropft auf gebräunte Haut. Der nasse Badeanzug klebt am Körper, Kinder kreischen, die Radios plärren, übertönen das Rauschen des Meeres. Sonnenlotion wird sorgsam auf übergewichtigen Körpern verteilt, Hier kommen die Bewohner aus der Umgebung, keine Schickeria. Jedes Handtuch grenzt sein Territorium ab, streng werden die wenigen Momente unbeschwerten kleinbürgerlichen Glücks fern des Alltags bewacht. Léa Mysius’ Kinodebüt beginnt mit diesem hinreißenden kunstvollen Tableau, kunterbunt wie altmodische Postkarten. Die Kamera folgt scheinbar beiläufig jenem seltsamen, etwas mageren schwarzem Hund, der sich seinen Weg bahnt, als wüsste er genau, wohin die Spur ihn führt. Ein junges Mädchen döst in der Sonne mit einer Schale Pommes auf dem Bauch, sie erwacht, starrt auf den Hund, der ihre Fritten vertilgt. Es ist, als würde sein tiefes Schwarz sie von nun an nie mehr loslassen.

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Unsere Heldin heißt Ava (grandios Noée Abita) und ihre Krankheit ritinitis pigmentosa. „Menschen, die daran leiden, sehen nur noch einen kleinen Kreis,” erklärt die 29jährige Regisseurin: „alles darum ist schwarz. Erst verlieren sie die Sehkraft bei Nacht und dann schließt sich der Kreis langsam immer weiter. Diese Vorstellung brachte meine ureigensten Ängste aus der Kindheit zurück.” Mit einer Binde über den Augen balanciert die Dreizehnjährige in atemberaubender Höhe über die Häuserdächer, sie spielt nicht mit der Gefahr, Ava macht sie zu ihrem Komplizen. Auf die Tränen und unbeholfene Verzweiflung ihrer allein erziehenden Mutter (Laure Calamy) reagiert sie mit Widerwillen und Ekel, genau wie auf deren Affäre mit einem jüngere muskulösen schwarzen Beau (Daouda Diakhaté). Ihre Schwester, dieses schreiende kleine gefräßige Monster von Baby nervt sie nur. „Warum hast Du keinen Freund?” fragt der Lover ihrer Mutter: „Weil ich gemein bin”, Ava bekennt sich ohne Koketterie zur Boshaftigkeit. Die Diagnose ist für den launischen tollkühnen Teenager mehr Herausforderung als Niederlage, das Ende der Kindheit. Ohne sich dessen bewusst zu sein, verabschiedet sie sich Schritt für Schritt von der gewohnten tristen Normalität des Prekariats, kreiert ihren eigenen surrealistischen Kosmos.

Übermütig stürzt sie sich in das Dunkel des Meeres, experimentiert an den Wände der Wohnung mit schwarzer Farbe, fragt sich, ob mit der Sehstärke auch ihre Träume verschwinden werden. In der Stadt hält sie nach dem pechschwarzen Hund Ausschau, er gehört Juan (beeindruckend Juan Cano), einem achtzehnjährigen Roma, der nicht nur mit der Polizei Trouble hat sondern auch mit dem Familien-Clan. Ava spioniert ihm nach, stiehlt bei der nächstbesten Gelegenheit den Hund, tauft ihn um auf den Namen Lupino und versteckt ihn bei sich daheim. Das Tier ist ungebärdig, eigensinnig, zerrt an der Leine, will bestimmen, wohin die Reise geht, aber mit ihm hat die Dreizehnjährige unendlich viel Geduld. Das alles geschieht ohne jede Melodramatik mit jener bezaubernden spontanen Selbstverständlichkeit, die an François Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn” (1959) erinnert. In den ersten Szenen des Films signalisiert das schlaksige Mädchen mit großen den braunen Augen und dem Schmollmund noch ungelenk Abwehr gegen jede Art von Berührung. Strandsegeln am Meer, der Kuss eines braven blonden Jungen lässt sie kalt. Das furchtlos Ungebärdige von Juan dagegen zieht sie unwiderstehlich an, die Metamorphose hat begonnen. Lupino wird das verbindende Element zwischen den Menschen und Orten, Realität und Fantasie. Die Coming-of-Age-Fabel erzählt von Abnabelung und Befreiung, aber auch davon, Schwäche und Hilfe zu akzeptieren.

Der Verlust des Augenlichts steht als Metapher für eine Welt, die immer dunkler wird, bei den Wahlen auf der Halbinsel Médoc erhielt die Front National fast dreißig Prozent der Stimmen. Ein Freund flüstert Ava zu: „Bald kommt das Ende unserer Zivilisation, lies die Zeitungen, schau Dich um und Du siehst nichts als schwarz.” Düsterer noch als die Wirklichkeit sind die Albträume der Dreizehnjährigen. Léa Mysius zwingt dem Zuschauer die aggressiven, fast pornographischen, ungefilterten Bilder gegen seinen Willen auf, wir sollen, so die Regisseurin, die Angst und Gewalt, die Ohnmacht und Eifersucht der Protagonistin spüren. Die Klitoris der Mutter, die Tötung des Babys, alles wird dunkler und dunkler bis zu dem Moment, wo Ava ihr Auge verschluckt. Dann ist wieder Tag, strahlender Sonnenschein. Nach einer Messerstecherei hat der verletzte Juan Unterschlupf gefunden am Strand in einem zerstörten Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Lupino führt Ava zu ihm. „Ich sterbe, wenn ich ihn nicht mehr sehe”, sagt die Stimme aus dem Off. Ihre rebellische Lovestory ist voll großer Pläne und spielerisch krimineller Energie. Nackt mit Sandmatsch und Farben bemalt wie archaische Krieger rauben die beiden dickliche Touristen aus. Als irgendwann die Polizei eintrifft, greift Ava zum Gewehr. Von nun an sind sie auf der Flucht, der Hund hockt zwischen ihnen auf dem Motorroller. Ziel Südamerika. Juan braucht Autoschlüssel und Papiere aus dem Wohnwagen, Ava soll sich als Serviererin bei einer Hochzeitsfeier des Clans einschmuggeln.

Die französische Filmemacherin dreht auf 35 mm, das lichtempfindliche Material ist ideal für die extremen Hell-Dunkel-Kontraste, man glaubt die Farben körperlich zu spüren, nähert sich tastend diesem ungewohnten visuellen Ausnahmezustand zwischen tiefer Traurigkeit und intensivster Lebensfreude. Florencia Di Concilios unheilvoller verstörender Score wird harmonischer, unerwartet erklingt jener Mix aus Etno-Pop und Afro-Blues aus dem iPhone, „Sabali”, der Song von Amadou und Mariam, dem blinden Duo aus Mali. Ava, die bisher kaum gelächelt hat, immer darauf bedacht ihre Gefühle zu verbergen, tanzt, hopst, im Sonnenlicht strahlend vor Glück, so kindlich, sinnlich, entwaffnend natürlich, es ist die Essenz aller Sommer unserer Jugend. Die frappierenden Bilder, die Mysius kreiert, sind wahrhaft meisterhaft, voller Ideen und Bezüge, oft verglichen mit Terrence Malicks „Badlands” (1973), aber eigentlich sind sie genau das Gegenteil: Schatten und Licht sind mehr als Stilmittel der Inszenierung, sie sind Protagonisten wie die Liebenden, ihr Schicksal ist unlösbar miteinander verstrickt. Avas Blickfeld schrumpft, ein nächtlicher Platzregen nimmt ihr die Sicht. Dieser immer kleiner werdende Kreis wird zur symbolischen Linse jenes Kinos, welches das digitalen Zeitalter verdrängt. Doch der Zuschauer muss nicht nach den Bedeutungen der Metaphern forschen, kann sich einfach treiben lassen, diesen fiktiven letzten Sommer genießen, als würde er nie enden. Avas Stimme aus dem Off: „Ich will die Erinnerung retten.”

Leinwandheldinnen in Zeiten von #MeToo: Was hat sich verändert in den letzten Jahren, was verbindet die Protagonistinnen, reflektieren sie unsere Realität oder sollten wir vielleicht eher ihnen nacheifern? Ob die als Edelprostituierte missbrauchte fragile dreizehnjährige Nina (Ekaterina Samsonov) in Lynne Ramsays „You were never really here” oder jene tatkräftige achtzehnjährige Star (Sasha Lane) in Andrea Arnolds „American Honey”, die eben noch zwischen dem Abfall nach Essbarem für die jüngeren Geschwister gewühlt hat, sie kämpfen wütend, verzweifelt, trotzig aufbegehrend ums Überleben, um Gerechtigkeit, Rache, Liebe oder auch das Privileg sich zu verweigern. Sie mögen ihre Kräfte überschätzen oder vor Angst fast krepieren, diese Frauen wollen nicht Opfer sein, auch wenn sie es sind oder waren. Sie würden ihr Schicksal nie Gerichten oder Rechtsanwälten überlassen, wollen kein Schmerzensgeld als Kompensation, wollen einfach nur frei sein, über ihr Leben selbst bestimmen, und natürlich den Gegner in die Knie zwingen. „It is a beautiful day”, sagt Nina in der letzten Szene, dahinter steht auch eine Forderung, ich lasse mir nicht noch einen Tag meines Lebens zerstören, sie hat Joe (Joaquin Phoenix), ihrem Retter, die blutige Aufgabe abgenommen. Zu den Pionieren weiblicher Visionen gehört Jane Campion mit „The Piano” aus dem Jahr 1993, ihr Filmdrama feiert in Großbritannien grade sein Revival. Ramsay inszeniert ihre virtuosen Thriller-Impressionen als Exkursion in die Abgründe der Seele, Arnold ihr schwelgerisches Roadmovie als suggestiven Mix aus iTune-Musical und Cinéma Verité, es vibriert vor Energie. Gemeinsam ist diesen Filmen genau wie „Ava” die körperliche Nähe zu ihren Figuren, das Aufbrechen traditioneller Erzählstrukturen.

Sexualität war kein Tabu für die heute 85jährige Regisseurin Liliana Cavani im katholischen Italien der Nachkriegzeit. „Der Nachtportier” aus dem Jahr 1974 schildert die sadomasochistische Beziehung einer Überlebenden der Konzentrationslager mit ihrem einstigen SS-Peiniger. Der Film sorgte international für Furore, machte die Hauptdarstellerin Charlotte Rampling berühmt. Die italienische Staatsanwaltschaft erklärte das Leinwand-Epos für unmoralisch, beschlagnahmte sämtliche Kopien. Daraufhin organisierte die Filmindustrie einen eintägigen Streik, mehrere Regisseure darunter Luchino Visconti setzten sich für die Freigabe ein. Viele Feuilletonisten empörten sich: ”Anstößig wie schmierig” schrieb Roger Ebert. Lina Werthmüllers Polit-Groteske „Liebe und Anarchie” hatte 1973 dagegen die Filmkritiker begeistert. Avas Sexualität ist weniger spektakulär, eher beiläufig selbstverständlich. Die Protagonistin betrachtet interessiert den Penis ihres Gefährten: „Sieht aus wie ein Tierchen”. Siebzehn war Noée Abita, als sie mit einem Freund die Schule schwänzte, um zum Casting zu kommen. Sie beweist unglaubliches schauspielerisches Gespür, wenn sie sich in die unsichere Dreizehnjährige verwandelt, ein richtiges Kind, das sich seines Körpers noch schämt, sich die Ohren zuhält und genervt wegläuft, wenn die Mutter von ihrem ersten erotischen Abenteuer erzählen will.

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Originaltitel: Ava

Regie / Drehbuch: Léa Mysius
Darsteller: Noée Abita, Laure Calamy, Juan Cano, Tamara Cano, Daouda Diakhaté
Produktionsland: Frankreich, 2017
Länge: 105 Minuten
Kinostart: 27. September 2018
Verleih: Eksystent Distribution

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright
Eksystent Distribution

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