„Grenzenlos” ist eine wundervolle, melancholische moderne Liebesgeschichte zwischen Rettung und Untergang unseres Planeten.
Regisseur Wim Wenders will nicht verzaubern sondern behutsam seine Wahrnehmungen vermitteln, so entstand ein vielschichtiges fragiles Kunstwerk über Entfremdung, Erlösung und Einsamkeit. Die meisten Kritiker verweigern sich, reagieren mit wohlfeilem Zynismus, verlangen nach einem zweiten „Paris Texas“ (1984), außer Acht lassend, dass sie wahrscheinlich solch Epos heute ebenso gnadenlos verreißen würden. Der Blick fürs Subtile geht zunehmend verloren, während sich auf den Leinwänden der Kinos die Protagonisten des Comic-Universums zusammenrotten. Action-Spektakel als grandioser post-apokalyptischer Mix aus Operninszenierung und Rockkonzert, „Mad Max” & Co veränderten Sehgewohnheiten wie auch Erwartungen, ‚Netflix‘ produziert, wir konsumieren.
Danny Flinders (Alicia Vikander) ahnt nicht, dass der Mann, der ihr zulächelt, beim britischen Geheimdienst ist. Der Zuschauer weiß es, aber macht sich keine Sorgen, denn James More (grandios James McAvoy), dem gottesfürchtigen Undercoveragenten, sind Gefühle heilig. Da verlieben sich zwei unsterblich ineinander fast schon gegen ihren Willen. Sie könnten gegensätzlicher kaum sein. Das kleine abgelegene Hotel in der Normandie sollte nur ein entspannender Zwischenstopp sein vor der gefährlichen Mission. Er hat den Auftrag als Wasserbau-Ingenieur in Somalia ein Ausbildungslager für Selbstmordattentäter aufzuspüren. Sie, die Biomathematikerin, wird mit Hilfe eines winzigen U-Boots vor Grönland in die unerforschten düsteren Tiefen des Ozeans vordringen.
Der Film basiert auf J.M. Ledgards Roman „Submergence“. Altmeister Wim Wenders ersetzt dessen philosophisch wortgewaltigen Passagen durch elegische sinnliche Bildkompositionen. Mutig trotzt er in „Grenzenlos“ den traditionellen Genres: Spionagethriller, Romanze, Geiseldrama, Unterwasser-Abenteuer werden bei ihm zu Metaphern der Zivilisationskritik und betörenden schwermütigen Seelenlandschaften. Irgendwann droht die Finsternis alles zu verschlingen. Aber diese drei Tage an der Atlantikküste sind für die Protagonisten ein Ausnahmezustand unfassbaren Glücks. Beide sind Kämpfernaturen, eigentlich Einzelgänger, ihre Dialoge seltsam gestelzt, künstlich. James, von fast altmodischer Behutsamkeit, zitiert Dichter John Donne, Danny gibt sich kühn verführerisch, sie schwärmt vom Hadopelagial, jener schwarzen lichtundurchlässigen Zone, bei ihr klingt es mysteriös-poetisch, ein unzerstörtes Ökosystem, das unser Ursprung war und vielleicht unsere Rettung sein wird. Die Wurzeln des Terrorismus erscheinen der Wissenschaftlerin dagegen eher insignifikant, für sie zählt allein der Klimawandel.
Eine letzte Umarmung vor der Abreise, die gemeinsame Zukunft ist beschlossen. Liebe macht verletzlich, unerträglich der Schmerz der Trennung, die plötzliche Einsamkeit. James wird von Dschihadisten gefangen genommen. Danny starrt immer wieder enttäuscht auf ihr Handy, kein Anruf, keine Textnachricht. Was um sie herum geschieht, die Expedition verliert an Bedeutung: Verzweiflung im digitalen Zeitalter. McAvoy hat die weitaus spannendere Rolle, als James klammert er sich mit all seiner Kraft an die Erinnerung, Terrorismus und Gewalt aus dem ungewohnten Blickwinkel eines Liebenden. Der Regisseur von „Der Himmel über Berlin“( 1987) jongliert mit Perspektiven und Wahrnehmung, James bewundert seine Gegner für ihren unbeirrbaren Glauben. Halbverhungert, durstig, schwer verletzt hockt er in einem düsteren Kerker, flüstert mit halb erstickter Stimme zärtlich Beschwörendes, nur durch einen Spalt in der Wand dringt ein wenig Licht. Mit diesem Bild hatte der Film begonnen, im Ozean endet er.
J.M. Ledgard berichtete als politischer Korrespondent für The Economist aus 50 Ländern und über zahlreiche Kriege. Seine Tätigkeit in Ostafrika, Somalia inspirierte ihn zu „Submergence“: „Mich interessierte besonders unsere eingeschränkte Wahrnehmung von der Welt, in der wir leben“, erklärt er. „Sie ist so viel größer, als wir denken und so viel komplizierter, als wir es uns vorstellen können. Die Ozeane haben mich schon immer fasziniert. Dabei vor allem die Vorstellung, dass es offensichtlich viel mehr Leben im Ozean gibt, als die Oberfläche vermuten lässt, insbesondere das Leben von Mikroorganismen wie Bakterien, Viren und mikroskopischen Algen in sehr tiefen Meeresregionen. Diese Lebensformen übertreffen zahlenmäßig alle anderen Lebewesen auf der Erde. Sie sind älter, sie sind widerstandsfähiger und sie sind kräftiger. Und was auch immer mit den Menschen passieren wird, dieses Leben wird fortbestehen.“
Wissenschaft, Glaube, Liebe sind die Elemente des Romans, es geht um die Frage unseres Ursprungs und unserer Zukunft. Nichts erinnert in “Grenzenlos“ an die US-amerikanischen Filme oder Fernsehserien über Terrorismus, wenn die Al-Shabaab-Milizen zusammen mit dem kleinen Sohn ihres Anführers eine „Bambi“-DVD anschauen müssen, und auch der angrenzende Raum plötzlich in kitschig-bunten Walt-Disney-Farben erstrahlt.
Nachdem James More gekidnappt wird, landet er in einem Umfeld, wo die religiöse Überzeugung alles dominiert so wie andernorts die rein wissenschaftliche Denkart. Zur Darstellung der Terroristen erklärt Wenders: „Ich fand, dass die einzig mögliche Herangehensweise an die Charakterisierung der Dschihadisten war, sie als Menschen zu zeigen, vor allem als Menschen, die an etwas glauben. Auch wenn es ein Glaube ist, den ich auf keinen Fall teilen kann, fand ich es interessant und war der Meinung, dass wir sie ernst nehmen mussten. In der Realität gibt es im Moment keinen Dialog mit ihnen- der einzige Dialog besteht darin, sie aus dieser Welt zu bomben- aber ich vermute, dass ein Mensch wie unsere Filmfigur James, wenn er mit ihnen in Berührung kommt und sie tatsächlich kennenlernt, mehr über die Dschihadisten erfahren und auch wissen will, wer hinter ihnen steht.“ Das Drehbuch schrieb Erin Dignam. Vielleicht waren es diese ungewohnten Zugeständnisse, die manche Kritiker unbewusst mit Abwehr auf den Film reagieren ließen, James der eigentlich ja ausgebuffte Spion, der sich von niemandem in die Karten schauen lässt, begegnet seinen Feinden mit ähnlichem Respekt wie der Geliebten, wenn auch seine Loyalität allein Großbritannien gehört, nichts kann ihn dazu bringen, zu konvertieren, überzulaufen. Aber genau diese Haltung nimmt auch der Feind ein, verweigert sich dem technischen Fortschritt, jedwedem Hilfsangebot der sogenannten Ungläubigen.
Die Chemie stimme nicht zwischen James und Danny, befinden die unzufriedenen Filmkritiker. Wer diesen Film auf eine banale Boy-meets-Girl-Version reduziert, verpasst die Message von Ledgard und Wenders. Es mangele an Spannung bei den Unterwasser-Szenen, liest man. Es geht für die Biomathematikerin in der gewagten Expedition um Leben und Tod, aber nicht im Sinne eines Action-Spektakels, die Suspense von „Grenzenlos” wie einst von „Der Stand der Dinge” ist eine völlig andere. Wenders verzichtet bewusst auf äußere Spannung, um die innere Dramatik der Figuren zu intensivieren. Ein Reagenzglas, das auf dem Boden klirrend zerbricht, sagt viel über die Ausweglosigkeit, in der sich die junge Wissenschaftlerin befindet. Der 72-jährige Regisseur hatte schon immer ein ungeheures Gespür für die Darstellung menschlicher Verhaltensweisen. Die winzige Screen des Handys entscheidet im virtuellen Zeitalter über das Glück der Verliebten. Wer nie mehr hier auftaucht, ist verschwunden, verloren, hat unser Herz gebrochen oder die Freundschaft verschmäht, ist tot oder eben entführt. Wüsste Danny doch nur um James Rolle als Geheimagent, sie könnte Angst haben oder trauern, so ist sie nur unendlich verletzt, einsam und hilflos. Voller Verzweiflung blickt James auf die flimmernden Smartphones seiner Kidnapper und des behandelnden Arztes, sie sind unerreichbar. Nur dem Überläufer oder Verräter würde Zeit gewährt für eine Erklärung.
Ledgard benützt Sprachkonstruktionen, die selbst nach Aufmerksamkeit verlangen ähnlich wie Wenders Bildkompositionen. Gefangenschaft, Grausamkeit, Verzweiflung bestimmen das Schicksal der beiden Protagonisten, direkt und indirekt, wie auch unsere Zukunft. Finsternis gleich Hoffnung, als Metapher ungewohnt, Danny, die von sich selbst so Überzeugte, überzeugt auch uns, wir vertrauen ihren Worten, das Dunkel als Retter unserer Welt, geheimer Ort unerschöpflicher Ressourcen. Und doch im Film gewinnt die Ignoranz, der Hass über die Vernunft und wieder erlangt die Finsterns ihre alte Bedeutung als Symbol des Schreckens, der Furcht und Unwissenheit. War einst das Mittelalter für uns der Inbegriff der Finsternis, so ist es hier die Gegenwart mit der Unfähigkeit einer Annäherung unvereinbarer Glaubengrundsätze, was hilft da der technische Fortschritt. “Grenzenlos” ist eine mentale Reise, die Suche nach dem Heil, der Erlösung. Und überall der Ozean, am Anfang ist das Meer Teil des verliebten Übermuts, und doch verbindet es die Protagonisten nicht, weckt nur schmerzhafte Erinnerungen, ist Symbol der Sehnsucht, der Unerreichbarkeit,- dessen ungeachtet avanciert die Trennung zum heroischen Akt. James glaubt an Gott, sein Land, an seine Mission und deren Ziel. „Und dann kommt die Liebe ins Spiel”, sagt James McAvoy, „und macht es so viel schwerer dieser selbstlose Typ zu sein, der bereit ist zu sterben”.
Originaltitel: Submergence
Regie: Wim Wenders
Darsteller: James McAvoy, Alicia Vikander, Alexander Siddig
Produktionsland: USA, 2017
Länge: 112 Minuten
Kinostart: 2. August 2018
Verleih: Warner Bros. Pictures Germany
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Warner Bros. Pictures Germany
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