Im Pine Ridge Reservat von South Dakota lernen Cowboys reiten, bevor sie krabbeln können. Brady Jandreau war gerade fünfzehn Tage alt, als er das erste Mal auf einem Pferd saß. Mit kaum achtzehn Jahren ist der indianische Rodeo-Reiter ein umschwärmter Champion. Dann 2016 ein beinahe tödlicher Unfall in der Arena, der Huf des Pferdes zertrümmert seine Schädeldecke, mehrere Tage Koma, die Ärzte setzen eine Metallplatte ein. Brady darf nie wieder reiten, er kann und will es nicht akzeptieren, für ihn als direkter Sioux-Nachkomme würde es mehr als das Ende einer Karriere bedeuten, Pferde sind sein Leben.
„The Rider“ ist von herzzerreißender Schönheit, lakonisch und zutiefst bewegend. Kein Neo-Western hat je so radikal mit den Stereotypen des Genres gebrochen. Regisseurin Chloé Zhao drängt sich nie in den Vordergrund, nähert sich behutsam ihren Protagonisten und dem trügerischen Mythos vom unzerstörbaren Cowboy.
Hollywoods Traumfabrik favorisiert sentimentale Sujets und vermeintlich spektakuläre Biopics: da wehrt sich der Underdog heldenhaft gegen sein ungerechtes Schicksal oder die eigenen Schwächen, trotz aller Widrigkeiten ist ihm ein kometenhafter Aufstieg vergönnt. Illusionen zur Ablenkung von der gesellschaftlichen Misere haben Hochkonjunktur. Chloé Zhao wuchs in Beijing auf, besuchte ein Internat in England und studierte anschließend Politikwissenschaft am Mount Holyoke College in Massachusetts, sie geht genau den entgegensetzten Weg, entwickelt eine Art lyrischen Realismus und vertritt das Recht auf gescheiterte Träume. Die feministische Regisseurin begegnete Brady Jandreau 2014 im Pine Ridge Reservat während der Dreharbeiten zu ihrem Debüt-Feature „Songs My Brothers Taught Me”. Sie war beeindruckt von dem jungen sensiblen Cowboy und dessen Fähigkeiten als Pferdeflüsterer. Sie wollte ihn auf jeden Fall in ihrem nächsten Film besetzen, hatte aber damals noch keinerlei Vorstellung, worum es in diesem gehen sollte.
Entgegen dem ausdrücklichen Rat der Ärzte begann Jandreau wenige Wochen nach dem Krankenhausaufenthalt wieder zu reiten. Die Regisseurin traf sich mit ihm und fragte: „Warum tust du das?“ und er antwortete: „Weil ich an meiner Identität festhalten muss.“ Und so riskiert der verzweifelte Junge jeden Moment den Tod, die Hände verkrampfen sich um die Zügel, er muss Finger für Finger einzeln lösen, die Anfälle nehmen zu. Zhaos Drehbuch entspricht bis auf wenige Änderungen den Erlebnissen ihres Protagonisten. Der 20jährige spielt eine leicht fiktionalisierte Version von sich selbst, Brady Blackburn, an seiner Seite agieren Familienangehörige, Freunde und andere Mitglieder der Lakota-Community. Das Pine Ridge Reservat gehört heute zu den ärmsten Gegenden der Vereinigten Staaten. Die Arbeitslosenquote liegt bei 85%. Wie in vielen US-Indianer-Reservaten lebt ein Großteil der Familien unterhalb der Armutsgrenze, viele haben weder Strom noch Telefon. Die Suizidrate ist etwa viermal so hoch wie der Landesdurchschnitt, die Lebenserwartung von 47 Jahren für Männer und 50 Jahren für Frauen eine der kürzesten in der westlichen Hemisphäre.
In einer der ersten Szenen starrt Brady in den Spiegel, langsam entfernt er die Klammern aus seinem Verband, der entstellte Schädel eines Frankenstein Monsters ist beklemmend, aber nicht abstoßend. Zhaos raue Zärtlichkeit bleibt immer spürbar, auch wenn ihr impressionistischer Stil in seiner unbarmherzigen düsteren Authentizität Autoren wie Cormac McCarthy ähnelt. Als sich eins Pferde im Stacheldraht verfängt, erlöst es der Protagonist durch den Gnadenschuss. Doch er selbst kann diese Freiheit nicht als Fluchtweg in Anspruch nehmen, spürt die Verantwortung der kleinen Schwester gegenüber, sie leidet unter dem Aspergersyndrom, ihre manchmal unberechenbaren Ausbrüche der Zuneigung sind von berührender Weisheit und Güte. Wenn der große Bruder ihr gelobt, auf sie aufzupassen und sie antwortet: „Und ich auf Dich”, dann trifft es zu, sie baut ihm unbemerkt die Brücke in einen anderen Kosmos fern der Macho-Ideale, während der alleinerziehende Vater lediglich kompromisslose Verachtung für Schwäche zeigt. Mitgefühl scheint dieser archaischen Welt fremd zu sein, das glaubt der Zuschauer zumindest anfangs. Wayne Blackburn (Tim Jandreau) trinkt, verspielt sein Geld, er ist drei Monatsmieten für den Trailer im Rückstand, will jetzt das Lieblingspferd seines Sohnes verkaufen, für ihn ist Brady ein Versager, ein Krüppel. Uns stockt in solchen Momenten der Atem, die Regisseurin meidet jede Art von Melodramatik oder Sentimentalität, lässt ihren Akteuren viel Freiraum zur Improvisation. Die Sprache ist unverbraucht, schroff, die Männer spucken die Worte aus wie Kautabak.
„Cowboy up” heißt es im Rodeo-Slang, was so viel bedeutet wie: Reiß Dich zusammen, steh Deinen Mann, aufgeben ist nicht drin. Bradys Kumpel sind toughe Typen, sie lästern, ihre Jokes klingen vielleicht zynisch, und doch man hält zusammen, die sogenannten Bronco Rider riskieren alles für den Ruhm in der Arena, diesen Kick, der höchsten wenige Sekunden dauert und sie zu einer verschworenen Gemeinschaft macht. Unser junger stoischer Protagonist vermisst nicht nur die Spannung vor dem Auftritt, den Applaus, Fans und Bewunderung, sondern auch jene Freiheit, die ihm Blut liegt genau wie den ungezähmten Wildpferden. Die Weite der Prärie, die Nähe zu den Tieren verbinden Zhao und ihr Kameramann Joshua James Richard in unglaublichen betörenden Bildern, deren suggestiver Zauber an Terrence Malick erinnern. Genau wie der Regisseur von „Die Glut des Südens“ verzichten sie weitgehend auf Kunstlicht, drehten in jener ‚Magic Hour’ der Abenddämmerung mit einem kleinen Team von vier, fünf Personen. Immer wieder spielt Brady den kurzen Youtube-Clip auf dem Handy ab, der seinen Unfall zeigt. Sein Gesicht ist unbeweglich, der Schmerz spürbar. Er jobbt an der Kasse eines Supermarkts, die Leute sind verwundert, ihn hier zu sehen. „Cowboy up”, Brady kämpft auf seine Weise, es ist das einsame Ringen mit der unstillbaren Sehnsucht nach dem Rodeo, auf den Lebenstraum zu verzichten, erfordert mehr Kraft als sich auf dem Rücken eines bockenden Bullen zu halten. Aber der Supermarkt ist wirklich so grauenvoll hässlich wie vieles in unserer hoch industrialisierten Gesellschaft, unerträglich wie das Pflegeheim, in das sein bester Freund und Mentor, der legendäre Champion Lane Scott eingewiesen wurde, seit seinem Unfall ist er schwerstbehindert, kann sich kaum bewegen und keines Wortes mehr mächtig. Die beiden kommunizieren durch Zeichensprache.
Jene Szenen mit Lane gehören zu den bewegendsten in „The Rider”. Die Sanftheit, die Behutsamkeit voller Respekt für seinen Gegenüber im Rollstuhl, wie Brady das Zusammensein gestaltet, dem Seelenverwandten einen Hauch des alten Lebensgefühls vermittelt, das ist beispielhaft, künstlerisch wie auch moralisch. Werner Herzog nennt Zhao, eine neue bedeutende Stimme im amerikanischen Kinos. Sie, die mit Mandarin als erster Sprache aufwuchs, hat ein feines Gespür für die Rolle des Außenseiters, der sich neu definieren muss im Heartland der Vereinigten Staaten. „Wir kennen diese Welt ja weitgehend nur aus der Sicht der Verzerrung und der Dämonisierung als Trumps Wählerbasis”, schreibt Herzog. Diese unerwartete Perspektive zeugt von Mut und Entschlossenheit. Unvergesslich, wenn der Protagonist ein widerspenstiges Wildpferd zähmt, es ist wie ein Abschied von sich selbst, hier scheint nichts inszeniert. Wir, die Städter erleben hautnah die Verbundenheit des indianischen Cowboys zu der Natur, seiner eigentlichen Bestimmung.
Originaltitel: The Rider
Regie & Drehbuch: Chloé ZhaoDarsteller: Brady Jandreau, Tim Jandreau, Lilly Jandreau
Produktionsland: USA, 2017
Länge: 104 Minuten
Gestartet: 21. Juni 2018
Verleih: Weltkino Filmverleih
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright: Weltkino Filmverleih
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