Während Krisenzeiten lechzt das Kino-Publikum nach Schauder und Schrecken besonderer Art, der US-amerikanische Regisseur Ari Aster ist ein Meister darin.
Seine blutige mysteriöse Familien-Saga „Hereditary – Das Vermächtnis” feierten die Journalisten schon bei der Weltpremiere in Sundance als besten Horrorfilm des Jahrzehnts und Hauptdarstellerin Toni Colette als brillante Furcht-Maschine.
Der Zuschauer glaubt für Momente irgendwo im Dunkel die Geister-ähnliche Präsenz von Roman Polanski („Rosemary’s Baby”,1968), Ingmar Bergman („Cries und Whispers“, 1972) und Nicolas Roeg („Don’t look now”,1973) zu spüren, nein, Aster imitiert nie, es sind nur sanfte Anspielungen, eine respektvolle Verbeugung gegenüber jenen, die ihn auf der Leinwand ihre Geheimnisse des Metiers lehrten. Er selbst ist nach eigenen Worten seit dem vierten Lebensjahr vom Genre besessen und eröffnet nun dem Horror eine neue bildgewaltige Dimension.
Eigentlich hatte die Künstlerin Annie Graham (Toni Colette) nie Kinder haben wollen, vielleicht ahnte sie welch tückisches Erbgut ihr Blut vergiftet, da gab es den depressiven Vater, der sich zu Tode hungerte und den schizophrene älteren Bruder, der sich erhängte. Doch sie bemüht sich um den Anschein von Normalität, eine heile Familie. In jedes ihrer Worte mischt sich Bitterkeit, wenn sie auf der Trauerfeier über ihre Mutter Eileen spricht, die im Alter von 78 Jahren verstorben ist. Eine distanzierte schweigsame Frau nennt Annie die machtlüsterne Matriarchin. Sohn Peter (Alex Wolff) konnte sie erfolgreich vor deren unheilvollen Einfluss zu schützen, aber die 12jährige verstörte wortkarge Charlie (atemberaubend Milly Shapiro) wurde Grandmas Liebling. Bedrückt fragt das Mädchen mit den seltsamen schmalen Augen Abends die Mutter, wer sich jetzt um sie kümmern soll. Was sie damit meint, wir begreifen es erst viel später. Von nun an verschwindet die Kleine auch nachts ins eiskalte Baumhaus, verschlingt immer mehr Schokoladenriegel. Sie zeichnet düstere beunruhigende Gestalten in ihr Skizzenheft, schneidet mit einer Schere der toten Taube, die gegen die Fensterscheibe geknallt ist, den Kopf ab, erstellt wundersame Reliquien-ähnliche Objekte aus Eileens Brille und Pillendosen. Unheilvoll ertönt das Klacken ihrer Zunge wie der Hufschlag aus dem Totenreich.
Annie kreiert Modellbauten, die dem eigenen Heim bis ins letzte grauenvolle Detail gleichen, da steht eine fünfundsechzigjährige Eileen im Nachthemd neben dem Bett ihrer Tochter, entblößt die Brust, weil sie die Enkelin stillen will. Abscheu und Ensetzen sind oft unerträglich. Wenigstens diese Miniatur-Welt glaubt die Protagonistin kontrollieren zu können, ein Trugschluss, auf ihr lasten die Erinnerungen der Vergangenheit. Art Aster hat eigene Familientraumata in seinem Drehbuch verarbeitet. Die Kamera (grandios Pawel Pogorzelski) gleitet durch die Kopie des im Wald gelegenen Hauses, hinein in das Zimmer des schlafenden Peter. Als sich die gegenüberliegende Tür öffnet, und Steven, der Vater (Gabriel Byrne) hereinkommt, um zu ihn zu wecken, ist die Grenze zwischen Realität und Abbildung, Kunst und Okkultem aufgelöst. Von nun an weiß der Zuschauer nie mehr, wo er sich befindet, in einem Puppenhaus oder der Wirklichkeit. Bei der Beerdigung genügte ein Schwenk nach unten, um den Dämonen ihren Weg in die Gegenwart zu ebnen. Das Anwesen der Grahams scheint von außen eine elegant moderne architektonische Schöpfung aus Stahl und Holz, aber innen ähnelt es in seiner düsteren Bedrohlichkeit den verwinkelten geheimnisvollen viktorianischen Horror-Villen, wird in den folgenden zwei Stunden Spiegel und Spielplatz der verirrten Seelen.
Die Künstlerin glaubt immer wieder ihre Mutter zu sehen, Einbildung oder Geistererscheinung? in ihrer Unsicherheit wendet sie sich an eine Selbsthilfe-Gruppe Trauernder. Dort trifft sie die verdächtig hilfsbereite Joan (Ann Dowd), eine Fachfrau für Séancen. Scheinbar unbedeutende Entscheidungen haben katastrophale Folgen: Annie insistiert, dass der 16jährige Peter seine kleine Schwester auf die Party zu Freunden mitnimmt, er mault, weigert sich, möchte ungestört mit den Gleichaltrigen chillen und kiffen und nicht dieses unansehnliche schlechtgelaunte Wesen mit sich rumschleppen. Das Harmoniebedürfnis der Mutter ist gnadenlos, sie zwingt es ihm auf, hat keine Ahnung, was sie ihren Kindern damit antut. Zwischen den lachenden Jugendlichen bewegt sich die ungeliebte schräge Charlie wie ein unheilvoller Alien, steuert das Büffet als rettende Insel des Vergessens an, ist sie sich ihrer Nuss-Allergie nicht bewusst, war es Rache oder Selbstzerstörung, die sie motivieren? Der Film nimmt eine schicksalhaft beängstigende Wendung, was an Emotionen und Schmerz bisher nur unterschwellig brodelte, bricht nun wie ein Orkan hervor, die Dämonen übernehmen. Gefühle haben hier ein so erschreckendes Ausmaß, das ungewohnter ist als die enthaupteten Gestalten oder Blicke, die den Gegenüber in Flammen aufgehen lassen. Selbst die Birken wirken im Mondlicht bedrohlich, Aster dringt in unser Unterbewusstsein vor, aktiviert Abscheu und Ekel, weckt Urängste, wenn Annie auf ihren nächtlichen Irrwegen durchs Haus Peters Zimmer betritt, sich ihr Gesicht dem des Sohnes nähert, wir können ihre Reaktionen nicht mehr dechiffrieren, sie flößen nur noch Furcht ein.
„Hereditary“ wird zum Synonym für psychologischen Horror, der künstlerisch ambitionierte Regisseur nimmt in seinem Spielfilmdebüt den ästhetischen Freiraum des Genres als Herausforderung, verzichtet weitgehend auf die üblichen Tricks wie Jump-Scares und Gruseleffekte. Er lässt uns nicht mehr aus den Augen, da ist eigentlich niemand für den wir Empathie empfinden. Vertrauen flößt uns noch am ehesten der ruhige Steve ein, doch was nützt es uns in einer Gesellschaft, die allein von Unverständnis und Paranoia bestimmt wird: die Familie als Institution hat versagt, so die Message, sie ist Abgrund und kein schützender Hort mehr. Das Familiengefüge wird also nicht von außen bedroht wie einst in Steven Spielberg „Poltergeist“ (1982), sondern ist selbst die Verkörperung des Horrors und Bösen, das sich von Generation zu Generation weiter vererbt. Dann plötzlich grinst uns ein alter nackter Mann mit verschrumpelten kleinen Penis an. Auch ein Lächeln scheint in dieser Welt, die aus den Fugen geraten ist, nur noch als heimtückische Waffe der Manipulation denkbar, allein der schwarze Humor macht das Übernatürliche für einen Moment erträglicher. Toni Colettes vom Wahnsinn verzerrtes Gesicht füllt die Leinwand, der Mund aufgerissen, ein schwarzer Schlund, erinnert an Edvard Munchs „Der Schrei“. Ihre schauspielerischen Leistungen sind noch um vieles beeindruckender als in „The Sixth Sense“. Die Identifikation des Zuschauer erfolgt also weniger über die Sympathie zu einzelnen Personen, sondern über die Eindringlichkeit des Schmerzes, der Angst, verstärkt durch die atonalen Kompositionen des kanadischen Jazzmusikers Colin Stetson (Arcade Fire), er macht Geräusche zu seinen Leitmotiven, am stärksten verunsichert aber das Zungenschnalzen von Charlie.
Originaltitel: Hereditary
Regie / Drehbuch: Ari AsterDarsteller: Toni Collette, Gabriel Byrne, Alex Wolff, Milly Shapiro, Ann Dowd, Mallory Bechtel
Länge: 127 Minuten
Produktionsland: USA 2018
Gestartet: 14. Juni 2018
Verleih: Splendid Film
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Splendid Film
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment