Lynne Ramsay inszeniert ihre virtuosen Thriller-Impressionen als Exkursion in die Abgründe der Seele.
Ein Auftragskiller ist Joe (Joaquin Phoenix) nicht, er tötet, nur wenn es sein muss: schnell, effizient, ohne zu zögern mit einem Rundhammer. Der Kriegsveteran und ehemalige FBI-Agent hat sich spezialisiert auf die Rettung entführter Minderjähriger, Mädchen, die in Nobel-Bordellen zur Prostitution gezwungen werden wie die dreizehnjährige Nina (Ekaterina Samsonov), Tochter des ambitionierten New Yorker Senators Votto. Joes Klientel zahlt gut, begrüßt Gewalt als Lösung und dementsprechend fließt viel Blut, aber außerhalb unseres Blickfeldes.
Das Drehbuch zu „A Beautiful Day” schrieb Lynne Ramsay während ihrer Schwangerschaft. Die schottische Regisseurin („We Need to Talk About Kevin“) reduziert die sinisteren Fakten von Jonathan Ames eiskalter Crime Story „You Were Never Really Here” auf ein Minimum, krempelt den Thriller entgegen aller Genre-Konventionen völlig um. Erbarmungslos katapultiert sie ihre Zuschauer in die Albtraum-hafte Gefühlswelt des Protagonisten. Die Vergangenheit krallt sich fest in Joes Gedanken, als Kind gefoltert, gequält, erniedrigt von einem brutalen Vater, die Mutter ein Opfer genau wie er. Jene Erinnerungen drängen sich immer wieder überfallartig in die Gegenwart: Kriegstraumata, Versagensängste, Todessehnsucht, Bilder in kurzem, fieberhaftem Wechsel und verstörendem Rhythmus, was ist Halluzination, was Realität? Joe will sterben, nur der Suizid verspricht Frieden, doch in letzter Minute reißt er sich die Plastiktüte vom Kopf oder tritt zurück von der Bahnsteigkante, noch ist seine Mission nicht vollbracht.
„A Beautiful Day” ist das Gegenstück zu Martin Scorseses „Taxi Driver” (1976). Aber anders als Travis Bickle ist der bärtige, muskulöse übergewichtige Hüne Joe schweigsam, spricht nur das Allernötigste, außer wenn er bei seiner zauberhaften senilen Mum (Judith Roberts) ist. Ihr gilt seine ganze Fürsorge, die beiden putzen zusammen das Tafelsilber, schwärmen für Hitchcocks „Psycho” singen verrückte Liedchen. Auch dieses fragile Glück endet als Blutbad, unser Antiheld gerät in ein mörderisches Komplott skrupelloser pädophiler Politiker. Unglaublich wie Phoenix seine Emotionen variiert, allein durch Körper und Bewegung signalisiert er Schmerz, Fragilität, Entschlossenheit, Zorn oder Hoffnungslosigkeit, Joe ist Märtyrer, Racheengel und Erlöser zugleich. Mit der zarten blassen Nina verbindet ihn wortlose Übereinstimmung, das Leid macht sie zu Seelenverwandten, später Komplizen. Ramsays suggestive packende Charakterstudie ist ästhetisch ein überwältigendes Erlebnis und birgt Momente erschütternder geheimnisvoller Schönheit wie der Müllsack mit einer Leiche im Wasser, er bläht sich auf, dreht sich langsam, gleitet hinab, Symbol unvergänglicher Liebe zwischen Mutter und Sohn.
Kameramann Thomas Townend gibt „A Beautiful Day” einen Anstrich von Noir, wenn er nachts die Neonlichter New Yorks im Regen verschwimmen lässt, aber auf eine Art, die uns glauben macht, wir hätten dergleichen nie zuvor erlebt. Dann wieder genrefremde Bilder, ruhige Totalen auf Manhattan, die Innenräume, hoch und hell, als wolle er das Grauen und die Gewalt der Stadt mit Licht überfluten, sie so verdrängen. Jede Form der Brutalität bleibt optisch außen vor, und ist dadurch um so eindringlicher, präsenter. Raum und Farbe reflektieren Joes Emotionen, die Albtraum-haften Flashback blitzen gelb oder blau, während seiner Aufträge verblasst die Umgebung zu tristem Monochrom, bunt wird es in den wenigen Momente menschlicher Nähe, Bonbons oder Blumen sind der Beweis, es gibt noch eine andere Realität. Ramsays lakonische Impressionen sind eine Absage an die als Actionfilm getarnten Thriller mit deren ridiküler Akrobatik. Ihr Protagonist bewegt sich unauffällig, eher langsam, konzentriert, will unsichtbar, unauffindbar sein, Sicherheit steht an erster Stelle. Sowie ihn jemand erkennt, bricht er alle Kontakte ab, baut ein neues Netzwerk auf. Sein Dasein zwischen Verletzbarkeit und Paranoia, hat etwas Geisterhaftes, Unwirkliches, manchmal scheint es, als würde er sich in Luft auflösen.
Die Kamera setzt Joe ins Zentrum der Leinwand, zeigt ihn auf seinen Wegen durch Korridore von Hotels, Bordellen, Politikervillen, meist von hinten, allein in langen Einstellungen, die seine Isolation unterstreichen. Nur manchmal schleicht sich Townend an ihn heran, zeigt Hände oder Augen aus der Nähe, steigert damit die Spannung auf das, was gleich geschehen wird. Szenenwechsel: Ein verängstigtes Kind im Schrank nahe dem Ersticken, noch heute verkriecht sich Joe dorthin, der Täter taucht in den Albträumen als Gestalt nie auf, nur eine harsche Stimme, die dem Jungen droht, er sei nicht gut genug, um weiterzuleben. Der Terror des gewalttätigen Vaters verfolgt unseren Antihelden überall hin, treibt ihn fast an den Rand des Wahnsinns und gibt ihm zugleich die Kraft für seine Mission. Das Unterbewusstsein wird hier zum eigentlichen Schlachtfeld, nur der Schmerz, das Mit-Leiden kann die seelischen Abgründe überbrücken, und so hält Joe die Hand des Sterbenden, für dessen Tod er verantwortlich ist, – unvermeidbarer Teil seines Kreuzzugs gegen das schändliche Geschäft mit Sex und Kindern. Da liegen die beiden Männer nun nebeneinander und leise murmelnd singen sie Charlenes „I’ve Never Been to Me“, ein Klassiker in Sachen Selbstverwirklichung. Während Ramseys Schuld- und Sühnedrama entsteht etwas Frappierendes, Unbekanntes oder irgendwo Vergessenes und neu Entdecktes: ein gespenstischer, beißender nüchterner Humor, der die Qualität tiefster Empfindsamkeit besitzt, aber ein Wort wie “berührend“ wäre in diesem Augenblick fast ein Sakrileg. Vielleicht ist es ganz einfach die weibliche Sicht auf Gewalt und Vergebung.
Die vibrierenden, bedrohlichen schrillen Dissonanzen von Komponist und Radiohead-Mitglied Jonny Greenwood kontrastieren mit nostalgischer Popmusik von irritierender Leichtigkeit. 32, 31, 30, das gleichmäßige geistesabwesende Zählen Ninas avanciert zum akustischen Leitmotiv, erinnert Joe daran, wie er als Junge versuchte, wenigstens in seinen Gedanken der Gewalt des Vaters zu entkommen. Ein Metronom tickt unerbittlich. Die ständig abrupt wechselnden Perspektiven der Überwachsungskameras zerstören die Chronologie der blutigen Ein-Mann-Invasion im Bordell, entwickeln ihren eigenen frenetischen Rhythmus, grandios Cutter Joe Bini. Gewalt wird so jede Stimulanz genommen. Wenn der Rächer mit dem Hammer die entführte Nina befreit, spielt der schmelzende Sixties-Song „Angel Baby“. Es ist ein trügerischer Sieg, der eigentliche Horrortrip setzt nun ein. „Pssst“, Nina legt den Finger auf den Mund. Stumm gleich unsichtbar, es will nicht gelingen. Joe mit der zarten Dreizehnjährigen auf dem Rücken wirkt wie ein Hüne, doch Joaquin Phoenix ist nur 1,73 m. Im Hotelzimmer will Nina dem Retter danken, versucht ihn zu umarmen wie ihre Freier, sie entsinnt keine andere Form der Zuwendung mehr, erschreckt wehrt Joe sie ab. Nie war der Schauspieler überzeugender als in dieser Rolle des Erlösers. Seine Verwandelbarkeit, sein kompromissloses Engagement bewies Phoenix schon in vielen Filmen wie „The Master“ oder „I’m still here“. Er ist der erste männliche Protagonist der schottischen Regisseurin seit „Ratcatcher“ 1999 und wurde in Cannes als ‚Bester Darsteller‘ ausgezeichnet, Lynne Ramsey für das Beste Drehbuch. Sie fügte der Pulp Ficton-Novelle von Ames ein neues Kapitel hinzu, das der Ausweglosigkeit einen melancholischen surrealen Hoffnungsschimmer verleiht und übrigens auch den Titel der deutschen Fassung erklärt.
Originaltitel: You Were Never Really Here
Regie / Drehbuch: Lynne Ramsay
Darsteller: Joaquin Phoenix, Ekaterina Samsonov, Judith Roberts
Produktionsländer: Großbritannien, Frankreich, USA, 2018
Länge: 90 Minuten
Starttermin 26. April 2018
Verleih: Constantin Film Verleih
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Constantin Film Verleih
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