Film
Happy End

Vom Töten, dem Wunsch zu sterben und meist unsichtbaren Flüchtlingen erzählt Michael Haneke in seinem Oeuvre „Happy End” mit lakonisch kühler Raffinesse.
Es ist die Geschichte der Familie Laurent, reiche Bauunternehmer aus dem französischen Calais. Der Film, mehr Farce als Drama, beginnt im Hochformat des Smartphones. Konzentration bitte, Kommentare mitlesen, jene ersten Einstelllungen sind entscheidend: Die 12-jährige Ève (Fantine Harduin) dokumentiert / inszeniert am unendlich fernen Ende eines Flurs ihr Zähneputzen, Pipi vorm Schlafengehen, dann wird der Hamster (Nahaufnahme) als Testversuch mit Mamas Antidepressiva ins Jenseits befördert.

„Sie wollen doch auch wissen, wie es weitergeht, oder?“ Die Frage und das Augenzwinkern des Psychopathen in „Funny Games” (1997) ließ uns Zuschauer zusammenzucken. Der voyeuristisch kulturbeflissene Bildungsbürger fühlt sich ertappt, gefordert, stolz, mit von der Partie zu sein. Bedingungslos folgen wir seitdem Haneke auf seinen Expeditionen durch eisigen Zynismus entlang der Spuren makabren menschlichen Verhaltens. Wir erschaudern vor uns selbst, denn das waren/sind wir, eine grausame Spezies zwielichtiger Gelüste.

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Von „Amour” (2012), dem subtilen Kammerspiel (in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet) war das Publikum hingerissen, aber die Zeit der Zärtlichkeit und tiefer Verbundenheit ist vorbei. Zwischen den beiden Filmen liegen fünf Jahre und eigentlich ein Abgrund, es gibt Überschneidungen, Themen, die erneut aufgegriffen werden, wieder spielt Isabelle Huppert eine Tochter mit Namen Anne und Jean-Louis Trintignant, Georges, ihren Vater. Nur beide haben wenig mit den Protagonisten aus „Amour” gemeinsam. „Die emotionale Vergletscherung der postindustriellen Konsumgesellschaft”, so bezeichnete Haneke einst das Thema seiner Trilogie von „Der siebte Kontinent” (1989), „Benny’s Video” (1992) und „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls” (1994). Genau darum geht es auch hier in dieser oft fast nüchternen Fabel über die Einsamkeit im Luxus.

Firmenchefin Anne Laurent vibriert vor Energie und Ungeduld, eine echte Powerfrau. Sorgen bereitet ihr der Sohn Pierre (Franz Rogowski), der so gar kein Rückgrat zeigt und eigentlich doch ihr Nachfolger werden soll. Nur mit Mamas Protektion brachte er es zum Managing Director, aber das Enfant terrible scheint hoffnungslos überfordert. An diesem Tag hat es einen schweren Unfall gegeben. Über die Webcam des Büros erlebt der Zuschauer das Unglück live mit. Auf dem eigentlich abgesperrten Gelände am Hafenbecken stürzen unerwartet Teile der Kaimauer ein, begraben unter den Trümmern einen Arbeiter. Die Benutzung des Sanitär Containers wurde ihm zum Verhängnis. Anne setzt alle Hebel in Bewegung, damit dem Unternehmen keine Schadensersatzansprüche von Seiten des Opfers entstehen. Liiert ist Anne mit dem Banker-Anwalt Lawrence Bradshaw (Toby Jones). Sex, Gefühlskälte und Geschäftsinteressen sind in diesem Fall vortrefflich miteinander verwoben.

Èves Mutter wird mit einer Überdosis ins Krankenhaus eingeliefert, liegt im Koma. Dergleichen wird nicht wirklich erzählt, der Zuschauer muss wie ein Detektiv, die einzelnen Puzzleteile zusammensetzen, Motive, Spuren selbst verfolgen. Hat die Kleine wirklich ihre Mutter umgebracht? Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit, die Zwölfjährige empfindet nur Verachtung für ihre Maman, deren Depressionen verursachen ihr Ekel. Nach der Scheidung hat der Vater wieder geheiratet, Thomas Laurent (Mathieu Kassovitz), der Bruder von Anne, ist ein erfolgreicher Arzt in gehobener Position. Da steht er nun etwas hilflos, ungelenk vor der Tochter, weiß nicht was er sagen soll, ein wirkliches Gespräch kommt zwischen den beiden nie zustande, nicht eine wirkliche Umarmung. Im Auto irgendwann weint Ève bitterlich, Reue, Enttäuschung? Der Teenager ist einsam wie zuvor, auch wenn sie jetzt mit den Laurents unter einem Dach lebt. Es ist ein beeindruckendes Anwesen. Beim Dinner löffelt Georges Laurent, der greise Patriarch (Jean-Louis Trintignant) grimmig seine Suppe: „Eigenartig”, sagt er. „Was ist eigenartig?” fragt Thomas. „Dass sie hier ist.” Jeder Satz ist seltsam doppeldeutig, der 75-jährige Haneke ein meisterhafter Erzähler.

Der Großvater soll der Enkelin schon einmal begegnet sein, erinnern kann er sich nicht daran oder möchte er es nicht? Erinnern, das lernen wir später, bereitet eigentlich nur Schmerzen. Noch deutet nichts darauf hin, dass grade Georges und Ève einmal Verbündete sein werden. Als Einzige in dieser höchst dysfunktionalen Familie besitzen sie die Fähigkeit, wenigstens zu erahnen, was im Inneren des Anderen vorgeht. Es ist nicht die Liebe zwischen Großvater und Enkelin, eher sind die beiden Komplizen, Seelenverwandte. Alle Menschen in diesem imposanten schönen geschmackvollen Haus gehen höflich mit einander um, mehr aber auch nicht. „Möchtest Du Dich noch zu uns setzen?” fragt der Vater Ève, seine Frau Anaïs (Laura Verlinden) versucht sich an einem Lächeln. Das Gesicht der Kleinen bleibt ernst, sie verneint dankend. In ihrem Nachthemdchen mit der Reisetasche in der Hand macht sie einen ungeheuer verletzlichen Eindruck, als wäre sie unterwegs, ohne ihr Ziel zu kennen, heimatlos wie jene Flüchtlinge, denen wir später kurz begegnen. In dieser Nacht, in diesem Monat haben sie ein Quartier, alles andere ist ungewiss, keiner von ihnen, weder die kleine Französin noch die Nordafrikaner sind Abenteurer, sondern nur auf der Suche nach einem Platz, wo sie sagen können, hier gehöre ich hin.

Das Internet, der Chatroom ersetzt die Familie, die körperliche Nähe eines Vertrauten. Nachts. wenn jeder sich auf sein Zimmer zurückgezogen hat, frönen die Laurents ihren heimlichen obszönen Gelüsten, kommunizieren mit Gleichgesinnten, die Zeit der Zärtlichkeit, der Intimität ist Vergangenheit. Ève kommt den Geheimnissen bald auf die Spur, wer kein eigenes Leben hat, bemächtigt sich der Phantasien anderer, es wird ihr Kapital. Der mürrische Patriarch dagegen lebt zwischen Büchern, wundervollen Folianten in einer altmodisch analogen Welt, nur er möchte sie verlassen. Für immer. Seine Stunde ist gekommen, das weiß er, ein Herrscher ohne Reich, bald wird er nichts mehr erinnern, sein Gedächtnis verlieren. Jeder Tag ist nur noch ein einsamer kläglicher quälender Kampf gegen die Schmerzen, bei dem er der Unterlegene ist. Keiner will ihm helfen, diesen letzten Wunsch in die Tat umzusetzen. Ist es wirklich zu viel verlangt, in Würde gehen zu wollen? Er bietet seinem Coiffeur viel Geld, wenn er ihm einen Revolver besorgt, der lehnt erschreckt ab. Eines Morgens ist Georges verschwunden, er hat heimlich einen der Wagen genommen, doch die Flucht missglückt, er baut einen Unfall. Man findet ihn verwirrt, schwer verletzt, das Bein gebrochen. Und doch selbst im Rollstuhl macht er sich heimlich allein wieder auf den Weg entlang einer hässlichen, viel befahrenen Straße, versucht seine Uhr zu verkaufen, irgendetwas zu finden, was ihm die Freiheit gibt, sich selbst zu erlösen. Die jungen nordafrikanischen Flüchtlinge, denen er begegnet, winken ab, keiner will etwas mit ihm zu tun haben.

Die Erzählung wechselt ständig zwischen Anne, Pierre, Thomas, Anaïs, Ève und Georges. Geldgier, Willkür, Betrug, Verrat, Entfremdung, das Fehlen jedweder Empathie schweißt die Familie zusammen und zerstört sie zugleich. “Rundherum die Welt und wir mittendrin, blind”, so charakterisiert Haneke seinen Film. Jener Laurent-Clan steht stellvertretend für uns alle, die wir nicht bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, fixiert auf unsere eigenen eher unwichtigen Bedürfnisse. Eine beklemmende moralische Fabel. Der Regisseur, wieder vereint mit Kameramann Christian Berger, kehrt zurück zum radikalem Nihilismus von „Cache” (2005) und „Das weiße Band” (2009), nur so düster wie in „Der siebte Kontinent” (1989) wird es nicht, im Gegenteil, der rigide Formalismus weicht ästhetisch komödiantischen Schwelgen im Luxus. „Happy End” variiert Hanekes Filmthemen vergangener Jahrzehnte, bündelt sie in einem strahlenden satirischen Kaleidoskop zeitgenössischer Gefühlskälte. „Benny’s Video” einst Plattform soziopathischen Verhaltens, findet hier seine Vollendung bei Snapchat, Facebook und YouTube. Die Akteure haben ihre bösen Geheimnisse und können doch nicht der Versuchung widerstehen, sie im World Wide Web zu präsentieren, das ist der eigentliche Kick des Verbotenen, jeder Perversion. Als wirklich erlebt gilt im digitalen Zeitalter nur, was dort virtuell verankert ist.

Aber vor allem ist „Happy End” in jedem Augenblick Gegenstück zu „Amour”, als wollte Haneke uns daran erinnern, dass diese Liebe eine absolute Ausnahme war. Es geht dort um Treue, Tod, Loyalität, und Würde. Anne (Emanuelle Riva) und Georges (Jean-Louis Trintignant), ein Musiklehrer-Ehepaar im Ruhestand, beide um die 80, sind seit Jahrzehnten glücklich verheiratet. Ihr Pariser Apartment hat jene elegante, kultiviert anheimelnde Unordnung, die von einem erfüllten Leben zeugt. Ein letzter unbeschwerter Konzertbesuch, dann ändert sich von einem Moment zum anderen ihr Dasein radikal. Anne erleidet einen Schlaganfall, wenig später den zweiten, ist halbseitig gelähmt, sitzt im Rollstuhl. Sie will nie wieder zurück ins Krankenhaus. Georges muss es ihr versprechen. Die Wohnung wird zur Festung, der Film zum Kammerspiel. Die beiden wollen allein sein auf diesem letzten gemeinsamen Weg. Georges pflegt mit bedingungsloser Hingabe seine Frau, behutsam, gütig, humorvoll. Er füttert sie, wäscht sie, wechselt die Windeln. Der Verlust ihrer Unabhängigkeit wird zur Tortur. Alpträume quälen ihn. Annes Geist verwirrt sich, die Schmerzen werden unerträglich. Georges muss eine Entscheidung treffen. „Amour” galt als Michael Hanekes persönlichster Film, aber vielleicht ist er das gar nicht, vielleicht ist es „Happy End”, denn Calais ist unser aller Versagen.

Èves Mutter stirbt, die Kleine hat Angst, irgendwann wieder abgeschoben zu werden. Sie weiß, Thomas hat eine S/M-Affäre, was, wenn er sich auch von Anais und ihrem kleinen Sohn trennt? Ève begeht einen Selbstmordversuch. Im Krankenhaus wirft sie dem Vater vor, er hätte nie jemanden wirklich geliebt, und so ganz Unrecht hat der Teenager nicht. Wie Ève empfinden bestimmt viele Scheidungskinder heute, was für die Erwachsenen praktisch ist, macht es für sie nicht erträglicher. Nun steht die Enkelin im Arbeitszimmer des Großvaters. Die 12-jährige Belgierin Fantine Harduin ist eine wundervolle Schauspielerin, wie sie den alten Mann feindselig anstarrt, versucht Empörung und Misstrauen hinter ihrer üblichen unbeteiligten Miene zu verbergen. Sie ähnelt Isabelle Huppert, die Bösartigkeit so zauberhaft mit einem leichten kaum wahrnehmbaren Lächeln kaschieren kann. „Warum hast Du es getan?” fragt Georges. Nichts in Jean-Louis Trintignant erinnert an den Protagonisten von „Amour”. Es ist als wäre er innerlich schon längst gestorben, seine Verzweiflung einer Erstarrung gewichen. Was meint er den Mord, den Suizid? Dann zeigt er Ève das Foto seiner Frau, erzählt ihr von der Krankheit, der Liebe, wie er sich um sie kümmerte all die Jahre, erzählt ihr von den Schmerzen, den Leiden und wie er sie getötet hat. Er lehrt das Kind mit seiner Schuld zu leben. Nun hat er eine Verbündete.

Das Finale des Films ist atemberaubend.

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Originaltitel: Happy End
Regie / Drehbuch: Michael Haneke
Darsteller: Isabelle Huppert, Jean-Louis Trintignant, Mathieu Kassovitz, Fantine Harduin
Produktionsländer: Frankreich, Österreich, Deutschland, 2017
Länge: 108 Minuten
Kinostart: 12. Oktober 2017
Verleih: X- Verleih

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyrioght: X- Verleih

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