Film
Final Portrait Alberto Giacometti

Hinreißend wie Regisseur Stanley Tucci Kreativität als permanenten Ausnahmezustand inszeniert.
Paris 1964. Zwei Stunden nur, vielleicht drei, allerhöchstens ein Nachmittag, länger werde es auf keinen Fall dauern, ihn zu porträtieren, versichert Alberto Giacometti (Geoffrey Rush) seinem amerikanischen Freund James Lord (Armie Hammer). Der Schriftsteller fühlt sich geschmeichelt, sein Rückflug nach New York geht schon übermorgen, er ahnt nicht, auf welches Abenteuer er sich einlässt. Der damals 63jährige Schweizer Bildhauer, Maler und Grafiker war zu jener Zeit bereits eine Legende, die Werke erzielten Rekordpreise. Doch grade der eigene Erfolg macht den Künstler noch misstrauischer gegenüber der Qualität seiner Arbeit. Nach wenigen Pinselstrichen schreit er die Leinwand an, flucht, bricht abrupt ab und verschiebt alles auf den nächsten Tag.

Zentrum und Herz des wundervoll amüsanten britischen Kammerspiels ist das kleine schäbige unordentliche Atelier in 46 rue de Hippolyte Maindrom, ein Chaos der Genialität. Zwischen den Stapeln von Bildern und Malutensilien ragen die berühmten länglich ausgezehrten Skulpturen empor ähnlich kahlen Bäumen ohne Blätter. Zum ersten Mal wird Lord vorgelassen in jenes Heiligtum, da sitzt er nun auf dem Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet. „Von vorn siehst Du aus wie ein Rohling”, teilt ihm der Meister mit. Autorenfilmer Stanley Tucci („Blind Date”, „The Impostors”) eröffnet uns das Universum Giacomettis, dessen Sichtweise auf die Wirklichkeit, seine Art zu fühlen. Der begnadete Künstler kämpft, ringt mit sich selbst und dem Objekt. Jeder neue Strich entscheidet über Sieg oder Niederlage, stellt den Sinn seines Daseins in Frage. Er ist ein Besessener, getrieben von der Obsession nach Perfektion. Wutausbrüche, Verachtung wechseln mit charmanten Sarkasmus und schelmischer Komik.

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Immer wieder unterbricht das mürrische Genie plötzlich die Sitzungen oder übermalt die grade entstandenen Gesichtszüge mit grauer Farbe, man möchte ihm die Leinwand entreißen, bevor er sie zerstört. Und immer wieder muss James Lord seinen Flug umbuchen, am Telefon den Freund daheim vertrösten, beruhigen, ein schwieriges Unterfangen. Den jungen Schriftsteller packt irgendwann das blanke Entsetzen, es ist, als wenn sein eigenes Leben aufgehört hat zu existieren. Er sitzt festgenagelt auf jenem Stuhl im Atelier, befolgt brav die Anweisungen: „Kinn etwas tiefer!” – „Nicht lächeln!” – „Nicht kratzen.” – „Du hast Dich bewegt!”. Einwände sind zwecklos. Ihn beschleicht die Angst, dass es Monate noch so weitergehen könnte, wie soll er je diesem Kreislauf entkommen? Inzwischen ist der höfliche Amerikaner zum engen Verbündeten des verdrießlichen Exzentrikers geworden, folgt ihm in Bistros und Bars, an verwunschene Orte wie dem Friedhof Montparnasse, lauscht befremdlichen Geständnissen über Selbstverbrennung oder Gehässigkeiten über Picasso und Chagall. Mit jedem Tag beginnt er (und mit ihm der Zuschauer) Giacometti besser zu verstehen, lernt die Welt mit seinen Augen zu sehen und zu begreifen.

„Final Portrait” erinnert an die Schwarzweiß-Fotografien von Henri Cartier-Bresson. Jede Szene ist ein kleines Meisterwerk, der Regisseur tarnt ähnlich seinem Protagonisten Tragik als Ironie mit unterkühltem Humor. Ein Epos voller Melancholie, die Leichtigkeit verwirrt, verzaubert, bleibt Camouflage. Tucci macht sich nichts aus Biopics: „Man erfährt viel mehr über einen Menschen, wenn man einen klar umrissenen Teil seines Lebens betrachtet.” So hat er Ereignisse und Erlebnisse zusammengetragen und verdichtet sie in einer auf etwa zwei Wochen angelegten Geschichte. Er, den viele nur als Schauspieler kennen aus „Die Ehre der Prizzis”, „The Lovely Bones” oder „The Hunger Games”, war nach eigenen Worten schon immer ein großer Fan des Malers und Bildhauers. Sein Skript basiert auf James Lords Erinnerungen „A Giacometti Portrait”, Tucci hält es für eines der besten Bücher über den künstlerischen Schaffensprozess. Das Atelier spielt eine entscheidende schicksalhafte Rolle, bestimmt die Begegnungen von Modell und Maler, ihre Beziehung und die wechselnden Perspektiven des Films. Kameramann Danny Coen entzieht den Bilden die Farbe, passt sie dem Oeuvre Giacomettis an und erkundete in langen scheinbar improvisierten Fahrten jeden Winkel und fast jedes Geheimnis. Wenn auch der Künstler den Ruhm hasst, den schnöden Mammon akzeptiert er bereitwillig als Nebenprodukt, versteckt die dicken Geldbündel irgendwo im Studio, sie bleiben oft im heillosen Durcheinander für immer verschwunden. Der Schriftsteller ist verblüfft, ein Schweizer, der sein Geld nicht zur Bank bringt?

James Lord versteht sich bald auch ausgezeichnet mit Giacomettis Ehefrau. Annette (Sylvie Testud) ist 22 Jahre jünger als der Künstler. Einst war sie eine strahlende Schönheit voller Energie und das Lieblingsmodell ihres Mannes. Das Leben an seiner Seite war anstrengend, kostete Kraft, es hat seine Spuren hinterlassen, die einstige Anmut lässt sich nur noch erahnen. Annette ist ein unscheinbares mageres Wesen, das mit viel Ironie und französischen Charme versucht, ihre Traurigkeit zu überspielen. Sie fühlt sich vernachlässigt, weiß aber, dass sich Giacometti nicht ändern wird, nicht ändern kann, nie Rücksicht auf sie nehmen wird, weil er nur dann etwas erschaffen kann, wenn er seinen Eingebungen folgt ohne jede Einschränkung. Sie liebt ihn trotzdem, und doch schmerzt es, dass da längst eine andere an ihre Stelle getreten ist: Die attraktive und sinnliche Caroline (Clémence Poésy) Tänzerin und Prostituierte, ist seit ein paar Jahren Muse und Geliebte Giacomettis. Unangekündigt schneit sie herein und bringt für einen kurzen Augenblick Farbe und Freude in das triste Atelier, um dann so schnell wieder zu verschwinden, wie sie gekommen ist. Annette muss mitansehen, wie das Mädchen ihren Mann umarmt, herzt, mit ihm kokettiert. Und Giacometti blüht auf, wenn Caroline einem Wirbelsturm gleich um ihn herum herumtanzt. Die zierliche Gattin flüchtet sich in eine Affäre mit einem jungen Japaner, bevorzugtes Modell des Künstlers. Es gilt dem Anspruch der Bohème Genüge zu tun, und Alberto steht dem Arrangement wohlwollend gegenüber.

„Warst Du schon immer so?”, fragt Lord den Maler. „Was meinst Du?” – „So voller Selbstzweifel.” – „Als ich jung war, glaubte ich, ich könnte alles. Als ich älter wurde, wurde mir bewusst, dass ich nichts kann. Die Selbstzweifel wachsen mit jedem Jahr.” Grandios wie Oscar-Preisträger Geoffrey Rush („Shine – Der Weg ins Licht“) sich in den launenhaften temperamentvollen Giacometti verwandelt, der keine Kompromisse kennt. Ein zerzauster Heiligenschein grauer Haare, die Zigarette hängt immer im Mundwinkel, das zerfurchte Gesicht wechselt in Sekunden den Ausdruck. Er berührt die Skulpturen voller Zärtlichkeit als wären sie lebendig. Dieser Mann ist brillant, intelligent, gereizt, witzig, verdrießlich, taktlos, aber doch unwiderstehlich, als Mensch, Künstler oder eben hier als Filmheld. Schienen seine Flüche, sein „Fuck”, anfangs nur wie ein Running-Gag, begreift der Zuschauer langsam die Verzweiflung des Malers, der überzeugt ist von der Sinnlosigkeit seiner Anstrengungen, er versucht sich am Unerreichbaren. Nichts will gelingen, nichts habe er je vollendet, behauptet Giacometti. Minuten später ist er euphorisch. Währenddessen verwandelt sich das Gesicht auf der Leinwand. Das ist nicht mehr der korrekte, höfliche junge Amerikaner, wir entdecken mit jedem Entwurf mehr die Tiefen seiner Seele. Nichts bleibt verborgen. „Es ist, als wäre die Wirklichkeit stets hinter Schleiern, die zerreißen. Es gibt noch eine weitere Wirklichkeit, immer noch eine,” so Giacometti. „Etwas zu ergreifen, zu besitzen, das sich ununterbrochen entzieht,” wird sein Schicksal.

„Wolltest Du nie ein Baum sein?” wundert sich der Künstler. Nein, das wollte Lord nie, aber er beginnt die Frage zu begreifen, und das Geheimnis abstrakter Malerei. Zum ersten Mal bekommen wir, die Nicht-Künstler unter den Zuschauern, eine Ahnung davon. Es wird zu einer fast körperlich spürbaren Erfahrung, der ultimativen Herausforderung, wie im Krieg, wenn es um Leben und Tod geht. Das Scheitern gleicht einer Katastrophe unfassbaren Ausmaßes. Aber “Final Portrait” verliert dabei nie seine Leichtigkeit, die Ironie, das französische Flair (so trügerisch, wurde der Film doch in London gedreht). Eines Tages verwüsten Carolines Zuhälter das Atelier, weil sie zu viel unbezahlte Zeit mit Giacometti verbringt. Der Künstler trifft sich mit den beiden aufgebrachten Männern und beruhigt sie, indem er ihnen ohne mit der Wimper zu zucken zunächst einen Packen Geldscheine für die vergangenen sechs Monate und dann noch einen größeren Packen für die kommenden sechs Monate zuschiebt. Geld bedeutet ihm nichts, Caroline bedeutet ihm alles. James Lord ist immer dabei.1952 hatten die beiden sich im Café Deux Magots kennengelernt, man spürt den Respekt und die Zuneigungen für einander, genießt jene spöttische Selbstverständlichkeit ihrer Wortgefechte, die Symptom für tiefes Vertrauen und eine lange Freundschaft ist. Sie treffen sich zu 18 Sitzungen, bis Lord zu einer List greifen muss, um das Werk vor der Vernichtung zu retten. Giacometti schenkt das Bild seinem Freund, er hofft, bald ein neues Portrait von ihm in Angriff nehmen zu können, aber es ist ein Abschied für immer, zwei Jahre stirbt der Künstler. 1990 wurde das Gemälde für 20 Millionen Dollar verkauft.

Der menschliche Kopf zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk Giacomettis. Er war fasziniert von der Idee, dass sich unser Leben in unseren Augen manifestiert, und konzentriert sich deshalb immer auf den Blick desjenigen, der für ihn Modell saß: „Ich kann nicht gleichzeitig die Augen sehen, die Hände und die Füße eines Menschen, wenn er zwei oder drei Meter von mir entfernt ist. Aber der eine Teil, den ich mir ansehe, gibt mir eine Vorstellung von der Existenz von Allem.”

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Originaltitel: Final Portrait
Regie / Drehbuch: Stanley Tucci
Darsteller: Geoffrey Rush, Armie Hammer, Silvie Testud
Produktionsländer: Großbritannien, Frankreich, 2016
Länge 94 Minuten
Verleih: Prokino Filmverleih
Kinostart: 3. August 2017

Foto, Pressematerial & Trailer: Copyright Prokino Filmverleih

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