„Churchill” – Oder die unerträgliche Einsamkeit des Helden
- Geschrieben von Anna Grillet -
„Churchill” verblüfft als intime, zutiefst anrührende Charakterstudie. Es geht wider Erwarten weniger um historische Ruhmestaten, sondern um Angst, Liebe, Wut, Erniedrigung, Verzweiflung, den Kampf mit sich selbst.
Blutiges Meerwasser umspült den steinigen Strand, kilometerweit nur schlammbedeckte Leichen im dunklen Schlick und zerstörte Boote. Ästhetisch virtuos inszeniert Regisseur Jonathan Teplitzky die Albträume und Momente größter Schwäche seines alternden Protagonisten. Den britischen Premierminister (Brian Cox) quält im Juni 1944 die Erinnerung an die Schlacht von Gallipoli im Ersten Weltkrieg, Hunderttausende starben damals. Er hatte versagt, jetzt fürchtet Winston Churchill das Scheitern von „Operation Overlord”, der Staatsmann will nicht eingehen in die Geschichte als „Architekt des Blutvergießens”.
Die alliierten Truppen warten auf ihren Einsatz. Eine Million Soldaten sind unter strengster Geheimhaltung an der Südküste Englands zusammengezogen worden, um von dort die Invasion Nordfrankreichs zu starten. Der Film konzentriert sich auf die letzten vier Tage vor dem Einmarsch in das vom Nazi-Deutschland besetzte Europa. Churchill ist zu diesem Zeitpunkt bereits eine legendäre Gestalt, bekannt für seinen unbeugsamen Willen, Kampfgeist und mitreißenden Reden. Im Laufe seiner Karriere musste er viele Rückschläge wegstecken, er war nie ein sonderlich umgänglicher Mann, aber nun mit fast 70 Jahren ist er so impulsiv und unerträglich herrisch, dass selbst seine Ehe mit Clementine (Miranda Richardson) zu zerbrechen droht. Das aufbrausende Temperament täuscht, in Wirklichkeit gleicht der berühmte Staatsmann körperlich und seelisch einem Wrack, ängstlich, von Obsessionen getrieben, er schwankt zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifeln, kniet händeringend vor seinem Bett und fleht um Gottes Beistand. Er hält es für sein Schicksal, den Lauf der Weltgeschichte zu bestimmen. Während Hitlers Truppen vorrückten und Bombenangriffe die englischen Städte zerstörten, war es Churchill, der das Volk beschwor durchzuhalten. Seine Reden im Parlament gehören zum kollektiven Gedächtnis nicht nur der Briten: Im Mai 1940 stimmte er seine Zuhörer auf Jahre voller „Blut, Schweiß und Tränen” ein.
1943 war der Plan entstanden, mit einer riesigen Flotte von mehreren tausend Schiffen, aus der Luft von den Flugzeugen der Air France unterstützt, die Invasionsarmee an Land zu bringen. Auf einem 70 Kilometer breiten Streifen zwischen Cherbourg und Le Havre sollen die Truppen landen. Plötzlich hält Churchill den Angriff auf die befestigte Küste für eine mörderische Falle. Er fordert von US-Oberbefehlshaber General Eisenhower (John Slattery) und dem britischen General Montgomery (Julian Wadham), die Strategien kurzfristig zu ändern. Winston Churchill ist Premierminister, doch die Entscheidung über die Militäroperationen liegen nicht bei ihm. Während er wütet und tobt, dass die Generäle ihn, den Volkshelden der frühen Kriegsjahre, aufs Abstellgleis schieben, rückt der D-Day immer näher. Selbst seinem treuer Adjutanten Smuts (Richard Durden) gelingt es kaum noch, den Premier aus jenen Anfällen tiefer Depression zu holen. Am Tag vor der Invasion kommt es bei der Lagebesprechung zum Eklat, Churchills Warnungen stoßen wieder nur auf taube Ohren. Beim Abendessen explodiert der jähzornige Siebzigjährige, mit einer Handbewegung fegt er das Geschirr vom Tisch. Clemmie gibt auf, beginnt ihre Koffer zu packen.
Der Protagonist ist eine tragische Figur, hat etwas von Shakespeares King Lear. Ihn umgibt schon früh die Aura schmerzhafter Einsamkeit, er schwimmt gegen den Strom, war seiner Zeit weit voraus und misstraute zu Recht Chamberlains Beschwichtigungspolitik gegenüber dem NS-Regime, nur dieses Mal irrt er. Jonathan Teplitzky („The Railway Man”) betreibt nicht die Demontage eines Mythos, im Gegenteil, es ist der Versuch einer Annäherung an die Legende. Dieser klägliche unbeholfene Grobian im purpurfarbenen Morgenrock überzeugt durchaus mit seinen Argumenten, obwohl wir den erfolgreichen Ausgang der Schlacht kennen. Vorübergehend aber wird seine Angst die unsere. Ein Mann voller Widersprüche: „Ich bin nicht der König”, sagt er zu seiner neuen Sekretärin und gebärdet sich doch Minuten später wie ein Diktator. Eben noch ein Anfall von Jähzorn, dann spüren wir wieder sein Mitgefühl für die Menschen, die ihr Leben riskieren für unsere Freiheit. Das Treppensteigen wird Churchill zur körperlichen Qual, jede Bewegung bereitet ihm Mühe, das Alter ist nichts für Feiglinge. Er trotzt den militärischen Machthabern, mit Knopf und Weste tut er sich schwer. Wir schauen zu, wie er in langen Unterhosen seine Reden vor dem Spiegel probt, und doch wirkt er niemals lächerlich. Er kann nicht gegen sein Gewissen, seine Überzeugungen handeln, das spüren wir genau wie jenes Mädel, das er eben noch angeblafft hat wegen ihrer Tippfehler, aber sie weiß, es geht ihm um die Soldaten an der Front, ihr Verlobter ist auf einem der Schiffe. Das mag vielleicht sentimental klingen, Menschlichkeit dieser Art wird im 21. Jahrhundert irgendwie unvorstellbar.
Brian Cox hat schon Herman Göring verkörpert, Leo Trotzki, Josef Stalin, den korrupten CIA Agenten Ward Abott in „The Bourne Identity” und den machtgierigen König Agamemnon in „Troja”. Für diese Rolle nahm er zehn Kilo zu. Auch wenn er äußerlich Konzessionen macht, verweigert sich standhaft jeglicher Karikatur des permanent Zigarre-paffenden Politikers. Stark und fragil soll er sein, ein Klotz von einem Mann, er trinkt, ist zornig, brillant, ungeduldig, eitel, leicht verwundbar, von seltsamer Herzensgüte, fühlt sich verantwortlich für den Tod eines jeden Soldaten, und doch war „Operation Overlord” auch sein Plan. Aber Achtung gebührt, wer den Mut hat, sich selbst in Frage zu stellen. Seine Art zu denken ist uns vertraut, militärische Aktionen solchen Ausmaßes akzeptieren wir höchstens noch auf der Leinwand und vergessen dabei, dass die Alliierten anders Hitler nicht besiegt hätten. Churchill will nun auf einmal an der Seite von König Georg VI mit auf hohe See, es kostet große Mühe, ihm die verrückte Idee auszureden. Wieder muss Clemmie heimlich intervenieren, sie ist sein Felsen in der Brandung, die Einzige, von der er gelegentlich Kritik akzeptiert, sie kennt seinen Ehrgeiz, seine fatale Sturheit, die ihn immer wieder in Schwierigkeiten bringt. Winston klagt ihr sein Leid, sich zu entschuldigen fällt ihm schwer: „Ich brauche Dich. Es ist nicht einfach, Anführer zu sein.” Sie: „Es ist auch nicht einfach, mit einem verheiratet zu sein.” Wo das Drehbuch der Historikerin Alex von Tunzelmann nicht überzeugen kann, rettet Kameramann David Higgs („RocknRolla”) den Film, er wechselt zwischen cleveren Close-ups und grandiosen Landschaften voll düsterer Symbolik.
Am 6. Juni 1944 brach die Flotte von der englischen Südküste auf- die „Operation Overlord” hatte begonnen. Die Invasion war militärisch ein voller Erfolg und bedeutete den Anfang vom Ende des Nazi-Regimes. Der Sieg war jedoch teuer erkauft: Auf Seiten der Alliierten starben mehr als 225.000 Soldaten, auf der gegnerischen Seite ca. 400.000. Die deutsche Kapitulation am 8. Mai 1945 war Churchills größter politischer Triumph. Und doch wählten ihn die Briten im Juli, bei der ersten Parlamentswahl nach zehn Jahren ab. Sein Nachfolger wurde der Chef der Labour-Partei Clement Attlee – für Churchill, der die Sozialisten hasste, ein persönlicher Affront, den er nie ganz verkraftete, auch wenn er 1951 noch einmal Premierminister wurde.
Originaltitel: Churchill
Regie: Jonathan Teplitzky
Darsteller: Brian Cox, Miranda Richardson, John Slattery, Ella Purnell
Produktionsland: UK, USA, 2016
Länge: 106 Minuten
Verleih: SquareOne Entertainment / Universum Film
Kinostart: 25. Mai 2017
Fotos & Trailer: Copyright SquareOne Entertainment / Universum Film
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