Film
Moonlight

„Moonlight” ist mehr als ein cineastisches Meisterwerk, mit ihm beginnt eine neue Ära der Kinogeschichte.
In seiner einfühlsamen Coming-of-Age Story, ausgezeichnet mit dem Oscar als bester Film, schildert Barry Jenkins die Identitätssuche schwarzer Schwuler in den USA. Miami, weitab vom Glamour und prächtigen Stränden – hier prägen Gewalt, Armut, Drogen und Kriminalität den Alltag. Doch der afroamerikanische Regisseur inszeniert das Porträt seines Protagonisten nicht als düsteres Sozialdrama sondern in leuchtenden saturierten Pastelltönen und dem Grün tropischer Vegetation. Schmerz, Schrecken und jene wenigen fragilen Momente des Glücks vermischen sich wie in flirrenden Fiebervisionen miteinander. Entstanden ist eine atemberaubende poetische, radikal opulente Bildsprache als Gegenstück zum italienischen Neorealismus.

„Schwuchtel” rufen die Mitschüler dem zehnjährigen Chiron (hinreißend Alex R. Hibbert) hinterher. Der schwarze schmächtige etwas ungelenke Junge mit Spitznamen ‚Little’ hat keine Ahnung, was das Wort bedeutet. Er ist den farbigen Kids seines Alters körperlich unterlegen, sie hänseln und quälen ihn, weil er anders ist, nicht spricht wie sie. Die Angst lähmt den Kleinen, er wächst ohne männliche Bezugsperson auf, frisst den Kummer in sich hinein. Seine Mutter Paula (Naomie Harris) arbeitet als Krankenschwester, verfällt aber mehr und mehr dem Crack, sie ist ungeduldig, hart, streng, für sie zählt nur Gehorsam. Auf der Flucht vor den Schlägern aus seiner Schule versteckt sich Chiron in einem verfallenen Crackhaus. Dort entdeckt ihn Juan (Oscar-Preisträger Mahershala Ali), ein kubanischer Drogendealer. Kein Wort sagt das magere Kerlchen, aber hungrig ist er, nach Zuwendung, Liebe, stumm verschlingt er das Essen. Juan lässt ihn daheim bei sich und seiner Freundin Teresa (Janelle Monáe) übernachten. Den nächsten Tag bringt er ihn zurück zu seiner Mutter, Sorgen hat die sich nicht gemacht. Chiron kann gut auf sich selbst aufpassen ihrer Meinung nach, weil er das ohnehin immer tut. Sie jagt ihn davon, wenn ihre Freier kommen.

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Von nun an nimmt der Dealer den verschüchterten schweigsamen Jungen unter seine Fittiche, wird sein Mentor und Beschützer, erklärt ihm, was das ist, eine Schwuchtel (fagot) und warum böse Menschen solche Ausdrücke benutzen, sie wollen, dass sich Schwule schlecht fühlen. In der sich spontan entwickelnden Vater-Sohn-Beziehung spürt Chiron zum ersten Mal jene fürsorgliche Geborgenheit, Vertrauen und Verständnis, das ihm seine Mutter nie geben konnte. Juan fährt mit seinem Schützling ans Meer. Er lehrt ihn, sich vom Wasser tragen zu lassen, sich als Mittelpunkt der Welt zu fühlen. Die fast spirituelle Szene erinnert an Taufe und Erlösung. Ihr Crack bezieht Chirons Mutter über Juan. Jenkins weiß um die Widersprüche im Dasein des Helden, er selbst ist hier in Liberty City aufgewachsen, auch seine Mutter war ein Junkie. “An einem bestimmten Punkt musst Du entscheiden, wer Du bist. Die Entscheidung kann Dir keiner abnehmen”, das ist die wichtigste Lektion des Dealers. Kevin, der einzige Junge im Viertel, der zu Chiron hält, ermutigt ihn, sich von den Mitschülern nicht unterkriegen zu lassen. Er zeigt ihm, wie man sich zur Wehr setzt.

„Moonlight” spielt in den Achtzigerjahren und ist einem Triptychon gleich in drei Kapitel gegliedert. Es erzählt von den entscheidenden Momenten im Leben des Protagonisten, von Einsamkeit, Verrat, Verlust, der Angst vor den eigenen Gefühlen. Sieben Jahre sind vergangen, Juan ist tot, Chiron (Ashton Sanders) in die Höhe geschossen, ein schlaksiger dünner Teenager, der nicht wirklich weiß, wohin mit seinen langen Beinen und Armen. Er hat begriffen, dass die eigentlichen Kämpfe nicht auf der Straße ausgetragen werden sondern in uns selbst. Es ist ein zärtlicher, stolzer schwarzer Film ohne Zorn oder Hass. Die Wirklichkeit bleibt unverändert brutal, die Augenblicke des Glücks seltsam fragil: das Gefühl des Fahrtwinds auf der Haut, während die Wolken sich in der glänzenden Karosserie des Autos spiegeln. Der Protagonist wird nie das Geräusch der Wellen am nächtlichen Strand vergessen, den ersten Kuss, seine große Liebe Kevin (Jharrel Jerome), sie endet bevor sie begann als Albtraum. Chiron rächt sich für die Demütigungen an Terrel, dem Alphatier der Highschool und Initiator einer grausamen Bewährungsprobe.

Zehn Jahre später, Chiron (grandios Trevante Rhodes) lebt in Atlanta und nennt sich jetzt ‚Black’. Er war lange in der Jugendstrafanstalt, hat sich zum muskelbepackten Gangster mit Goldgrills und Diamantohrring stilisiert, seine Homosexualität verleugnet er. Das maskuline Äußere des jungen Dealers erinnert an Juan, ist aber eigentlich nichts weiter als eine Art Schutzpanzer. Kevin hat ihn angerufen, möchte ihn wiedersehen. Sie treffen sich in dem Diner, wo der Jugendfreund als Koch arbeitet. Die Jukebox spielt Barbara Lewis’ verführerisch melancholisches „Hello Stranger”. Es geht um Schuld und Vergebung. In den Augen des Protagonisten liegt noch immer die Ängstlichkeit und Verletzbarkeit jenes zehnjährigen Jungen. Vertrauen zu Menschen, er hat es bis heute nicht gefunden. Und doch ist da ein Hoffnungsschimmer. Wo den Akteuren die Worte fehlen, überbrückt Musik die Distanz zwischen ihnen und uns, den Zuschauern. Es ist ein Mix aus Hip-Hop, R&B, Klassik und den Kompositionen von Nicholas Britell („A Tale of Love and Darkness”). Der Film beginnt mit dem Reggae-Stück „Every Nigger is a Star“, der Boris-Gardener-Song wird zum Programm.

Mit „Moonlight” lässt sich Amerika neu entdecken fern der bürgerlichen Seh- und Denkgewohnheiten, Die berührende Charakterstudie eines Außenseiters basiert auf dem semibiographischen Theaterstück „In Moonlight Black Boys Look Blue” von Tarell Alvin McCraney, der genau wie der 37-jähirge Regisseur in Liberty City aufwuchs, ohne Vater, auch seine Mutter war drogensüchtig. Jenkins unterläuft virtuos jede Art von Klischees, er wurde mit einem Oscar für die beste Drehbuchadaption ausgezeichnet. Kriminalität ist nicht soziales Abseits, nur ein anderer Stadtteil, für die Menschen hier ist dies der Mittelpunkt ihrer Welt. Juan, der knallharte Dealer von Liberty City steht für Integrität und Güte. Drogen sind Fluch und Ausweg zugleich, geben Macht oder Unterlegenheit. Nach Ende der Sklaverei wollten die Schwarzen demonstrieren, dass sie sich nie wieder unterwerfen würden. Maskulinität entwickelte sich zum Inbegriff für Stärke, Freiheit und Selbstbestimmung. Der Ozean ist für Afroamerikaner oft noch als Symbol belastet, brachte er sie doch in die jahrhundertelange Gefangenschaft. Aber hier wird der Strand zum magischen Ort aller Sehnsüchte. Wenn der schmächtige Junge schwimmen lernt, bedeutet es, dass er sich vom Trauma seiner Vorfahren zu befreien versucht, Selbstbewusstsein zeigt, den Elementen trotzt.

Vom ersten Moment an geht die Kamera (James Laxton) auf Tuchfühlung mit den Akteuren, wird einer von ihnen, ob beim Drogendealen, Kämpfen, zwischen den Wellen des Meeres oder in der Liebe. Die poetisch überhöhten sonnendurchfluteten Bilder haben etwas paradiesisch Unwirkliches, obwohl sie fest in der Realität verankert sind. Türkis, pink, orange, Liberty City gilt als eine der gefährlichsten Gegenden der USA, sie explodiert vor Farben, karibische und kubanische Einflüsse mischen sich mit südamerikanischer Tradition, alles blüht, die Farbe grün ist durch das Klima omnipräsent. Laxtons Kamera suggeriert eine Welt ohne Beschränkungen, es sollte der Eindruck entstehen, die Schauspieler wären ausgesetzt worden in einer Stadt, die Jenkins liebevoll als endlos weite Fläche mit ungehindertem Blick gegen Himmel beschreibt. Für jedes Kapitel wurde ein anderes Filmmaterial verwendet.

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Originaltitel: Moonlight
Regie / Drehbuch: Barry Jenkins
Darsteller: Mahershala Ali, Alex R. Hibbert, Ashton Sanders, Trevante Rhodes, Naomie Harris
Produktionsland: USA, 2016
Länge: 111 Minuten
Verleih: DCM Filmdistribution
Kinostart: 9. März 2017

Fotos & Trailer: DCM Filmdistribution

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