„Einfach das Ende der Welt”. Abschied vom Mythos Familie?
- Geschrieben von Anna Grillet -
Ob als Wunderkind gepriesen oder Enfant terrible gefürchtet, die Journalisten vergöttern den frankokanadischen Regisseur Xavier Dolan seit seinem Leinwand-Debüt „I Killed My Mother” 2009. Doch nun reagieren manche von ihnen ungehalten, die Verfilmung von Jean-Luc Lagarces Theaterstück „Einfach das Ende der Welt” entspricht so gar nicht ihren Erwartungen.
Anders als in „Mommy” (2014) dreht sich hier alles um Sprache oder die Unmöglichkeit der Kommunikation, die Sehnsucht nach Nähe, die Furcht davor. Vielleicht aber hat die Feindseligkeit längst alle Gefühle verschlungen. Ein verstörendes suggestives Drama von fast unerträglicher Spannung, das in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde.
Nach 12 Jahren kehrt Louis (Gaspard Ulliel) zum ersten Mal wieder heim ins ländliche Frankreich. Ein verlorener Sohn? Er ist Dramatiker, machte Karriere, wurde berühmt. Die Familie, eigentlich kann er sie nicht ausstehen. „Es kommt vor, dass man mit Leuten verwandt ist, und nicht fühlt, dass sie einem nahestehen. Die man verlässt, freiwillig”, daran denkt Louis während der Taxifahrt vom Flughafen. An seine Idee eines gemeinsamen Essens, um die verlorene Zeit wiederaufzuholen, um zu sagen, wie wenig Zeit noch bleibt. Der Zuschauer weiß, Louis muss sterben, bald schon. Das ist es, was er seiner Familie gestehen will. Warum, das weiß auch der Protagonist nicht wirklich. Währenddessen herrscht daheim eine hysterische Hektik, in der Küche stapelt sich Kulinarisches und Martine, die Mutter (Nathalie Baye), versucht die frisch lackierten blauen Fingernägel mit dem Fön zu trocknen.
Der 1957 geborene Dramatiker Jean-Luc Lagarce ist in Frankreich nach Shakespeare und Molière der meiste gespielte Autor. Er war 38, als er an Aids starb, vier Jahre älter als sein Protagonist in “Einfach das Ende der Welt”. Und doch taucht diese Diagnose nicht auf im Film. Louis ist schwul, aber auch das wird nie benannt, ausgesprochen, thematisiert. Für den Film bleibt die Entfremdung von der Familie entscheidend, weniger die Gründe dafür. Suzanne (Léa Seydoux) war zehn Jahre alt, als der Bruder verschwand. Sie kennt nur dessen kryptische kurze Postkarten zu den Geburtstagen und Festen. Die Schwester hat sie wie ein Schatz gehütet zusammen mit den Zeitungsartikeln von den Premieren des umjubelten Künstlers. Sie fühlt sich betrogen, nie kam ein Brief, nur diese demonstrativ reduzierte Zuwendung, die selbst der Postbote lesen konnte. Wäre ihr Leben nicht ein ganz anderes gewesen, ein freieres, verlockendes, ohne die Verpflichtung jene schmerzhafte Lücke auszufüllen zu müssen, die Louis hinterlassen hatte? Die Mutter braucht sie, aber ist es nicht eher umgekehrt?
Jeder der Anwesenden definiert sich über die Abwesenheit des Bruders, Louis wird zur schicksalhaften Projektionsfläche, soll verantwortlich sein für ihr Scheitern, ihre Erwartungen, jede Missstimmung dieses trübsinnigen Daseins. Er, der erfolgreiche Überflieger macht Normalität unerträglich. Der Zuschauer bezieht Position, er kann nicht anders als sich mit dem sanften zögernden Louis solidarisieren, gleichgültig ob es richtig war, diese Familie zu ignorieren. Sie ist ein Gefängnis vielleicht für jeden von ihnen. Nur dem Protagonisten gelang die Flucht mit der Verzweiflung des waghalsigen Außenseiters. Wir teilen sein erdrückendes Geheimnis genau wie die Erinnerung an eine schillernde Vergangenheit. Sex, Liebe, Drogen verschmelzen zu unwirklichen, traumhaft diffusen Sequenzen. Während die Kuckucksuhr erbarmungslos tickt, wartet Louis vergeblich auf einen perfekten Moment für sein Geständnis. Wir lauern darauf, die Egomanen endlich mundtot zu sehen. Frustration, Zorn, Rache brodelt in ihnen, sie wollen nicht vergeben, drehen sich im Kreis, fangen Sätze an, überlassen es dem Gegenüber sie zu vollenden.
Während die Umarmungen der grell geschminkten Martine etwas erdrückend Gespenstisches haben (wie sollte es wohl auch anders sein bei einer Mutter-Figur von Xavier Dolan), versucht Schwägerin Catherine (Marion Cotillard) mit ungelenker Gutmütigkeit, Konversation zu machen, verheddert sich zwischen den eigenen Vorurteilen und Ängsten. Ihr Ehemann Antoine (Vincent Cassel) kann seine Wut kaum noch kontrollieren, ihn bringt alles zur Raserei, besonders jede Art von Hoffnung oder Zuversicht. Er schreit, brüllt, unterbricht permanent die Umstehenden, möchte eigentlich nur noch zuschlagen. Catherine erinnert Louis daran, dass er sich nie für die Arbeit des Bruders interessiert hat. Arroganz ist unverzeihlich und „Einfach das Ende der Welt” nicht ohne groteske Komik und voller Farbe und unverwüstlicher Pophits wie „Numa, Numa” der moldawischen Boygroup O-Zone. Die Akteure stecken in klaustrophobischen Großaufnahmen fest, André Turpins detailversessene Kamera lässt sie nicht entkommen. Louis setzt am Ende auf Versprechen und Zukunftspläne, die er nie einlösen kann, aber Suzanne rührt die ungewohnte Aufmerksamkeit, sie lebt auf. Der verlorene Sohn begreift, es hat keinen Sinn nostalgisch zu werden, nur weil man stirbt. Und nichts wäre grausamer, als festzustellen, dass der Tod die Anwesenden kalt lässt, weil er für sie eigentlich schon längst gestorben ist. Am Anfang des Films hatte der Protagonist sich ausgemalt, wie dieses Wiedersehen ablaufen würde: „Es könnte schön werden, wie in einem Roman, wo alles gut ausgeht.” Das tut es nicht.
„Einfach das Ende der Welt” war für Xavier Dolan keine Liebe auf den ersten Blick. Sein Film „I Killed My Mother” war abgedreht und wie so oft saß der Regisseur mit Schauspielerin Anne Dorval in ihrer Küche, wo sie sich trafen, um zu reden, Neuigkeiten auszutauschen, einander Geheimnisse anzuvertrauen, Fotos anzuschauen oder sich gegenseitig etwas vorzulesen. Anne erzählte Dolan von Jean-Luc Lagarces Theaterstück. Nie zuvor habe sie in einem Stück gespielt, das so besonders geschrieben sei, so durchdacht, so intensiv. Sie gab dem Freund ihr persönliches Script, über und über mit Anmerkungen und Regieanweisungen versehen. Doch irgendwie war Dolan wenig angetan davon. Der Stoff interessierte ihn nicht besonders und gegenüber der Sprache spürte er fast so etwas wie Abneigung: „Aufgrund einer wie auch immer gearteten geistigen Blockade fand ich weder Zugang zu den Figuren, noch zur Geschichte und war nicht in der Lage, das Stück zu mögen, das mir von einer Freundin so angepriesen wurde. Ich war wahrscheinlich zu beschäftigt mit einem dringenden Projekt oder mit der Überlegung eines neuen Haarschnitts, um die Tiefe dieser ersten Lektüre zu spüren.”
„Nach ‚Mommy’, vier Jahre später”, so Dolan „dachte ich plötzlich wieder an das dicke Script mit dem blauen Einband, das ganz oben im Bücherregal des Wohnzimmers stand. Es war so groß, dass es die anderen Bücher überragte, zwischen denen es eingepfercht war. Erhobenen Hauptes, als wüsste es, dass es nicht ewig ignoriert werden konnte. In diesem Sommer habe ich „Einfach das Ende der Welt” noch einmal gelesen – oder zum ersten Mal richtig gelesen. Von Seite 6 an wusste ich, dass dies mein nächster Film sein würde. Und mein erster Film als Mann. Auf einmal verstand ich die Worte, die Emotionen, die Stille, das Zögern, die Nervosität, die herzzerbrechenden Unzulänglichkeiten der Charaktere von Jean-Luc Lagarce. Zur Verteidigung des Stückes muss ich sagen, dass ich es damals nicht ernsthaft zu lesen versucht hatte. Und zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich es vermutlich auch nicht verstanden hätte, wenn ich es versucht hätte. Zeit kann Vieles bewirken. Und Anne hatte wie (fast) immer Recht.”
Doch als er „Einfach das Ende der Welt” als seinen nächsten Film ankündigte, war die Reaktion ein seltsamer Mix aus Skepsis und wohlwollender Sorge. Grade Anne Dorval, die ihn damals dazu gedrängt hatte, den Text zu lesen, weil er wie geschaffen für ihn sei, hatte plötzlich Zweifel an der Durchführbarkeit: „Wie willst du denn Lagarces Sprache adaptieren?“ fragte sie mich. „Sie ist es, die diesen Text so relevant und einzigartig macht. Außerdem ist diese Sprache keine filmische... Und wenn du sie verlierst – warum dann überhaupt Lagarce adaptieren?“ Aber Dolan wollte die Sprache nicht verlieren. Im Gegenteil: „Die Herausforderung bestand für mich darin, sie zu bewahren und zwar so vollständig wie nur möglich. Die Themen, die Lagarce behandelt, die Emotionen der Charaktere – ob herausgeschrien oder verschwiegen –, ihre Unzulänglichkeiten, ihre Einsamkeit, ihre Sorgen, ihre Minderwertigkeitskomplexe... All das war mir sehr vertraut– das ist es vermutlich den meisten Menschen. Aber die Sprache, sie war mir fremd. Und neu. Voller Ungeschicklichkeiten, Wiederholungen, Zögern, grammatikalischen Fehlern... Da, wo jeder andere zeitgenössische Autor ohne weiteres alles Überflüssige und jede unnötige Wiederholung streichen würde, lässt Lagarce sie bestehen und feiert sie. Seine Charaktere, nervös und ängstlich, schwimmen in einem Meer von Worten, wo jeder Blick, jeder Seufzer, der durch die Zeilen rutscht, zu einem Moment der Ruhe wurde oder werden konnte, in dem die Schauspieler Zeit zum Luft holen hatten. Ich wollte, dass Lagarces Worte so gesprochen wurden, wie er sie geschrieben hatte. Ohne Kompromiss. Denn in dieser Sprache liegt sein Verdienst und durch sie steht sein Werk für ihre Zeit. Die Verwässerung der Sprache hätte bedeutet, Lagarce zu banalisieren. Ob man das Theater im Film „spürt“, ist mir egal. Das Theater kann das Kino bereichern… Brauchen sie nicht ohnehin einander?”
Gaspard Ulliel über „Einfach das Ende der Welt”: „Was ich am Theaterstück wie auch am Film mag, ist, dass sich das Drama nie komplett entfaltet. Es ist wie eine verhinderte Explosion... Deshalb findet alles auf einem anderen Level statt: der Sprache. Doch das ganze Gerede ist nur ein Fluchtversuch, ein Vermeiden, eine Maske. Es geht um die Unfähigkeit der Kommunikation zwischen den Figuren. Gleichzeitig herrscht eine Angst vor der Sprache und vermutlich reden und reden und reden diese Figuren nur, weil sie Angst vor dem haben, was Louis zu sagen hat. Sie wollen ihm dafür keinen Raum lassen. Alles, was zählt, bleibt ungesagt. Es geht nur um das Hühnchen auf dem Tisch und die Serviette, aber sie sagen niemals etwas Ernsthaftes. Sie sind unfähig, das auszudrücken, was ihnen wirklich auf dem Herzen liegt. Das ist sehr typisch für Lagarce. Es geht um die „Crise du langage”– die Krise der Sprache, wie wir es im Französischen nennen. Und genau das ist es, was das Stück für die filmische Adaption so interessant macht. Xavier hat es geschafft, all diese un-ausgedrückten Dinge durch das Medium des Films auszudrücken... Durch seine Inszenierung rückt er das, was die Figuren einander wirklich sagen wollen, in den Fokus und beleuchtet es. Interessant an der Rolle des Louis war, dass er Schriftsteller ist – also jemand, der mit Wörtern arbeitet, aber nicht mit gesprochener Sprache. Als Künstler hört er immer zu, beobachtet ständig, nimmt Dinge auf, damit er sie vielleicht später in einem Stück verwenden kann. Im Film gibt es im Dialog Hinweise darauf, dass es in seinen Stücken oft um familiäre Beziehungen geht, und dass er seine Inspiration auch aus Vorfällen in der eigenen Familie zieht. Also stellt sich die Frage, ob Louis am Ende dieses Nachmittags Zeuge seines eigenen Stoffes wird.”
Originaltitel: Juste La Fin Du Monde
Regie / Drehbuch / Schnitt: Xavier Dolan
Darsteller: Gaspard Ulliel, Nathalie Baye, Léa Seydoux, Vincent Cassel
Produktionsland: Kanada, Frankreich, 2016
Länge: 99 Minuten
Verleih: Weltkino Filmverleih
Kinostart: 29. Dezember 2016
Fotos & Trailer: Copyright Weltkino Filmverleih
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