„Marie Curie” – Das Innenleben eines Genies
- Geschrieben von Anna Grillet -
Mit ihrem Film „Marie Curie” zeigt Regisseurin Marie Noëlle die legendäre Wissenschaftlerin und zweifache Nobelpreisträgerin von einer bislang unbekannten ganz privaten Seite. Entstanden ist nach langen akribischen Recherchen das vielschichtige, emotionale und frappierende Porträt einer leidenschaftlichen starken Frau. Grandios Karolina Gruszka als Marie Curie, die Schicksalsschlägen, Anfeindungen, Selbstzweifeln trotzt, für Liebe und Gerechtigkeit gleichermaßen kämpft. Sie vertritt vehement in der von Männern dominierten Welt die Überzeugung, Forschungsergebnisse müssten der Allgemeinheit zu Gute kommen, durch Patente dürfe sich keiner bereichern. Ein ästhetisch betörendes aber unsentimentales Leinwand-Epos.
Paris, Dezember 1904. Die hochschwangere Marie Curie arbeitet zusammen mit ihrem Mann Pierre (Charles Berling) und André Debierne (Malik Zidi) in dem gemeinsamen Forschungslabor, als die Wehen einsetzen. Mit 37Jahren bringt sie ihre zweite Tochter Ève zur Welt. Ein Jahr zuvor hatte die Schwedische Akademie dem Ehepaar für die Entdeckung der Radioaktivität den Nobelpreis für Physik verliehen. Die beruflichen Verpflichtungen haben die beiden allerdings davon abgehalten, die Auszeichnung entgegenzunehmen. Im Juni 1905 reisen sie nun endlich nach Stockholm. Kollegen, wie auch Professoren ignorieren oft die in Polen geborene Marie und ihre Verdienste. Ganz im Gegensatz zu Pierre, er macht seinen Kindern unmissverständlich klar, was ihre Mutter für eine herausragende ungewöhnliche Frau ist, die erste, der ein solcher Preis verliehen wird.
Der Zuschauer spürt den Zauber dieser Beziehung, intellektuell sind Pierre und Marie für einander immer wieder eine Herausforderung, sie verbindet Respekt und tiefe Liebe, Wissenschaft und Sinnlichkeit. Die zwei sind höchst „unbürgerlich“ in einer zutiefst konventionellen Gesellschaft. Anstatt sich von einem Zweispänner der Königlichen Akademie von ihrem Hotel zu der Veranstaltung kutschieren zu lassen, geht das Ehepaar lieber zu Fuß. Es ist, als könnten sie die Gedanken des Anderen lesen, dessen Wünsche spüren. Daheim schleichen sie sich nachts in das dunkle Forschungslabor, um noch einmal das faszinierende geheimnisvolle blaue Licht des Radiums zu bewundern. Die Kamera von Michael Englert („True Crimes”) zelebriert ihre Körper und Umarmungen in eleganten wunderschönen Tableaus. Tagsüber arbeiten die beiden unter Hochdruck daran, ihre Krebstherapie weiterzuentwickeln. Das Labor befindet sich einem zugigen alten Schuppen, der einst als Sezierraum diente. Eugène Curie schlägt seinem Sohn vor, die revolutionäre Heilmethode als Patent anzumelden. Pierre protestiert: „Wir sind doch Forscher, keine Profiteure”.
Am 19. April 1906 wird Pierre Curie in der Rue Dauphine von einem Lastfuhrwerk überrollt und stirbt noch am Unfallort. Der Schmerz droht Marie zu zerstören. In ihrem Tagebuch schreibt sie zwei Jahre lang fast täglich einen Brief an Pierre, teilt ihre Gedanken und Pläne mit ihm, als wäre er noch am Leben. Sie fühlt sich verzagt, überfordert, einsam, aber trotz ihrer Trauer führt sie die gemeinsame Arbeit allein fort. Schwiegervater Eugène ist in dieser Zeit eine große Stütze für sie und die beiden Töchter. Als erste Frau erhält Marie Curie einen Lehrstuhl an der Sorbonne. Sie hat hart darum kämpfen müssen. Die Antrittsvorlesung am 5. November 1906 wird zu einem Triumph. Sie ist unter den Wissenschaftlern ein Star und viele missgönnen ihr die Anerkennung. Marie bleibt trotz Karriere für Irène und Ève immer eine hingebungsvolle zärtliche Mutter, unkonventionell aber auch hier. Mit befreundeten Wissenschaftlern wie Paul Langevin (Arieh Worthalter) einem Ex-Schüler ihres Mannes, gründet sie an der Sorbonne eine Schul-Kooperative, in der die Mitglieder ihre Kinder selbst unterrichten. Sie fordert eine neue Form der Bildung: Anstatt theoretische Fakten auswendig zu lernen, sollen die Mädchen und Jungen selbst Experimente durchführen. Auch an der Universität versucht Marie Curie ihren Studenten Abenteuerlust, Neugierde und die Freiheit des Geistes zu vermitteln.
Marie Noëlles Chronik der Gefühle ist kein Biopic im herkömmlichen Sinne, es beschränkt sich auf einen Zeitraum von sieben Jahren ohne Rückblenden oder den Anspruch, ein außergewöhnliches Leben in 100 Minuten quetschen zu wollen. Der Film verzichtet bewusst auf historischen Pomp. Diese Geschichte könnte auch eine fiktive sein, die Protagonistin weniger berühmt, sie würde uns trotzdem seltsam verstören, allein ihre stoische Art den eigenen Idealen treu zu bleiben. Marie Curies Unbestechlichkeit imponiert um so mehr in einer Zeit, wo plötzlich alles käuflich scheint. Die visionäre Wissenschaftlerin ist keine vor Ehrgeiz strotzende Karrieristin, und doch hat sie nie Skrupel, ihre Ziele durchzusetzen. Sie ist eine Heldin voller Widersprüche, fragil und unerbittlich mit sich selbst. Die Suche nach der perfekten Hauptdarstellerin gestaltete sich schwierig. Mehr als ein Jahr lang traf Noëlle französische Schauspielerinnen, machte Probeaufnahmen, keine kam in Frage. Die Regisseurin („Ludwig II”) suchte keine Doppelgängerin von Marie Curie, sondern eine Frau, die eine ganz bestimmte Energie ausstrahlte, Stärke verkörperte, aber auf keinen Fall kalt wirken durfte. Erfolg brachte schließlich ein unorthodoxes Casting. Die Filmemacherin suchte im Internet nach polnischen Schauspielerinnen zwischen 30 und 40. Die Lebensläufe interessierten sie wenig, sie druckte nur deren Fotos aus, ließ die Augen auf sich wirken. Ein Blick ließ sie nicht mehr los. Die Frau war Karolin Gruszka, sie lebte damals in Moskau, ihr Französisch war perfekt und so Noëlle: „Sie hatte genau die richtige Mischung aus Strenge und Zärtlichkeit, Intelligenz und Wärme, nach der ich so lange gesucht hatte.”
Marie Curie gelingt, das von ihr entdeckte chemische Element Radium zu isolieren. Paul Langevin überredet sie dazu, als einzige Frau an einer Konferenz teilzunehmen, zu der, der belgische Unternehmer Ernest Solvay die bedeutendsten Physiker der Welt eingeladen hat, unter anderem Albert Einstein. Der schwärmt begeistert von Marie, sie wäre die intelligenteste Frau, der er je begegnet sei. In Paris bemüht sich die Wissenschaftlerin darum, als erste Frau in die Académie des sciences aufgenommen zu werden. Vergeblich. Zwischen ihr und Paul Langevin entwickelt sich eine leidenschaftliche Liebesbeziehung. Jeanne (Marie Denarnaud), Pauls Ehefrau attackiert Marie mit einem Messer. Rasend vor Eifersucht erzählt sie dem Journalisten Gustave Téry von der Liaison ihres Mannes. Als Téry handfeste Beweise von ihr verlangt, engagiert Jeanne einen Dieb, der die Liebesbriefe von Marie und Paul aus der Wohnung entwendet. Im November 1911 fällt die Entscheidung der Schwedischen Akademie der Wissenschaften, Marie, den Nobelpreis für Chemie zu verleihen. Sie wäre damit der erste Mensch, dem zwei Nobelpreise zuerkannt wurden und das in verschiedenen Disziplinen. Doch im selben Monat wird ihre Affäre mit Paul publik und von der französischen Presse zu einem riesigen Skandal aufgebauscht. Reporter und Fotografen belagern ihr Haus, Marie wird gebrandmarkt als Ehebrecherin und polnische Hure, die eine französische Familie zerstöre.
Gustave Téry veröffentlicht im L'Œuvre einen zehnseitigen Auszug aus den Briefen, die Jeanne Langevin ihm zugespielt hat. Die Schlagzeile: „Romanze im Labor: die Liebesbriefe der Madame Curie. Betrogene Ehefrau und ihre vier Kinder in Tränen.” Paul Langevin fordert den Journalisten daraufhin zum Duell heraus, bei dem allerdings kein Schuss fällt. Téry ruft theatralisch: “Ich weigere mich, Frankreich eines seiner klügsten Köpfe zu berauben!” Angesichts des Skandals, bedrängt der schwedische Botschafter Marie Curie, auf die Annahme des Nobelpreises zu verzichten. Sie weist das Ansinnen jedoch mit Bestimmtheit zurück: „Würde man alle männlichen Kollegen ausladen, die eine Affäre haben, dann käme kaum eine Nobelpreisverleihung überhaupt zustande.” Schon während ihrer Schulzeit hatte Noëlle Bücher über Marie Curie verschlungen: „Sie war das Idol meiner Jugend und hat mich zu meinem Mathematik-Studium inspiriert. Ihr Arbeitsethos, ihr Wertekompass, die konsequente Weigerung ihre wissenschaftlichen Entdeckungen kommerziell auszuschlachten – all das hat mir stets großen Respekt eingeflößt.” Aber erst vor ungefähr acht Jahren erfuhr die französische Regisseurin durch einen Artikel von der „Affäre Langevin”. Sie war empört, dass man eine brillante Wissenschaftlerin so schändlich behandelte, diese Tatsache wurde in keiner Biographie erwähnt.
Originaltitel: Marie Curie
Regie: Marie Noëlle
Darsteller: Karolina Gruszka, Samuel Finzi, Charles Berling
Produktionsland: Deutschland, Frankreich, Polen
Länge: 100 Minuten
Verleih: NFP
Kinostart: 1. Dezember 2016
Fotos & Trailer: Copyright NFP
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