Kornél Mundruczó: „Underdog”
- Geschrieben von Anna Grillet -
Durch die Straßen von Budapest stürmt eine Meute wütender Hunde. Panik bricht aus. Schreiend flüchten die Menschen. Schwer bewaffnete Polizisten errichten Barrikaden. Schüsse fallen, Blut fließt, nichts hält das Heer der Vierbeiner auf. Die Stunde der Abrechnung ist gekommen.
Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó inszeniert den hinreißenden surrealen Fantasy-Thriller „Underdog” als Allegorie auf den Rassismus seiner Heimat. Einzigartig in der Kinogeschichte: Der Filmemacher drehte das bildgewaltige melancholische Rache-Epos mit 250 Mischlingshunden aber ohne CGI-Effekte.
Die Eltern sind geschieden, Lili (Zsofi Psotta) lebt eigentlich bei der Mutter, die ist aber für einige Monate im Ausland. Das 13jährige Mädchen soll so lange bei ihrem Vater (Sandór Zsótér) wohnen. Es gibt einen Riesenkrach wegen Hagen, Lilis Labradormischling, die beiden sind unzertrennlich. Doch der Vater, ein ständig missgelaunter Schlachthof-Veterinär, lehnt es kategorisch ab, das Tier bei sich aufzunehmen. Für alle nicht reinrassigen Hunde muss in Ungarn eine Sondersteuer entrichtet werden. Nachts winselt Hagen kläglich, weil er nicht wie sonst neben Lilis Bett liegen darf, selbst ihr Trompetensolo kann ihn kaum beruhigen. Den nächsten Tag nimmt das Mädchen ihn heimlich zur Orchesterprobe mit. Ein Desaster. Die Nachbarn erstatten Anzeige, da der Hund nicht ordnungsgemäß angemeldet ist. Der Vater weigert sich, die Gebühr für den Mischling zu zahlen, will ihn im Tierheim loswerden. Lili weiß, dort wird er eingeschläfert. Kein Betteln, kein Weinen hilft, plötzlich hält der Vater wutentbrannt sein Auto an einer stark befahren Schnellstraße und setzt Hagen aus. Die Kleine schluchzt herzzerreißend, der Hund läuft noch lange hinter dem Wagen her.
Kornél Mundruczó („Tender Son – Das Frankenstein Projekt”, 2010) erzählt von nun an abwechselnd aus der Perspektive des Mädchens und des Tieres. Geduldig wartet Hagen tagelang im strömenden Regen an der Autobahn, dass Lili zurückkommt. Er stöbert zwischen dem Abfall des matschigen Niemandslandes nach etwas Essbaren. Zur gleichen Zeit fährt das Mädchen auf seinem Rad durch die Stadt und sucht verzweifelt nach dem treuen Freund. Irgendwann überwindet Hagen seine Furcht, schlängelt sich zwischen den rasenden Autos hindurch, überquert die Straße, beginnt auf der anderen Seite, eine ihm unbekannte Welt voller Gefahren und Abgründe zu erkunden. Er trifft auf andere streunende Vierbeiner, sie alle wurden ausgesetzt. Die Hundefänger jagen sie, es ist ein lukratives Geschäft. Hagen lernt die Tricks des Untertauchens, Verstecken, Tarnens. Er schließt sich einem kleinen Jack-Russel Mischling an, weicht nicht mehr von dessen Seite. Die Freundlichkeit der Menschen entpuppt sich als Falle. Ein Bettler fängt Hagen ein, verschachert ihn an einen Restaurantbesitzer, der wiederum verkauft ihn an einen Trainer von Kampfhunden. Jeder versucht jeden zu betrügen, möglichst viel Geld für sich herauszuschinden. Daheim eckt Lili überall an, wird immer trotziger, schwärmt für den falschen Jungen, landet auf einer Polizeistation, der Vater muss sie abholen. Schritt für Schritt wird Hagen derweil zum brutalen Kampfhund abgerichtet. Purer Horror, aber keine Fantasy sondern brutale Wirklichkeit. Das sanftmütige Tier entwickelt sich zur blutrünstigen Bestie. Nichts erinnert mehr an Lilis zutraulichen Spielkameraden, dies ist eine Killermaschine. Die Erinnerung an sein altes Leben ist ausgelöscht durch Drogen und Gewalt.
Inspiriert wurde Kornél Mundruczó zu seinem ästhetisch virtuosen Revolutionsdrama durch den Roman „Schande” (1999) des südafrikanischen Autors und Literaturnobelpreisträgers J.M. Coetzee. Mundruczó schrieb das Drehbuch zusammen mit Kata Wéber und Viktória Petrány. Den Regisseur faszinierte die Tatsache, „dass es unter der untersten Schicht der Ausgestoßenen noch eine weitere Spezies intelligenter, rationaler Lebeweisen gibt, die auf vielfältige Weise von den Menschen ausgebeutet werden: Die Tiere”. Die Mischlingshunde verkörpern in “Underdog” eine rechtlose Minderheit, diskriminiert, verachtet, gequält, verfolgt. Am Ende rebellieren sie gegen ihre Peiniger. Hagens Mitstreiter sind wild, rücksichtslos, sie lechzen nach Blut und Vergeltung. Trotzdem sind sie keine bellenden Bösewichter sondern eher Racheengel. Der ungarische Filmemacher vergleicht seinen Protagonisten mit Roy Batty, Rutger Hauers Replikant aus „Blade Runner” (1982). Die Hunde bleiben immer Hunde, werden nie vermenschlicht, sie schnuppern, stören, kläffen, mal unbeschwert, mal furchtsam. Hagen wie auch die anderen Mischlinge sind jeder für sich, unverwechselbare Individuen mit einem ausgeprägten Charakter. Selten haben Tiere auf Leinwand ihre darstellerischen Fähigkeiten so unter Beweis stellen können wie hier. Sie stehen gleichberechtigt neben den anderen Schauspielern. Erst als Revolutionäre werden die Vierbeiner zur Meute, die einer höheren Macht gehorcht.
Hagen endet in einem überfüllten Tierheim, avanciert bald zum Anführer der Unterdrückten und Entrechteten. Zusammen brechen die Hunde aus, starten ihren Rachefeldzug: Der skrupellose Kampfhundtrainer, der gehässige Bettler, die bösartige Nachbarin, sie sollen für ihre Taten büßen. Es ist der Tag von Lilis Konzert, für das alle so lange geprobt haben. Die 13jährige weiß, sie muss weiteres Blutvergießen verhindern, ihren Vater beschützen. Sie ist die Einzige, die dazu die Fähigkeit hat. Lili radelt durch ein beängstigendes menschenleeres Budapest, ruft den Namen ihres Hundes. Es herrscht eine gespenstische Stille. Die Trompete ragt aus ihrem Backpack, sie schaut sich um. Hinter ihr taucht die Meute der wild gewordenen Straßenhunde auf. Kornél Mundruczó und sein Kameramann Marcell Rev („Sturmland”, 2014) kreieren Bilder von magischer, unvergesslicher Schönheit. Hier wird der Mythos des Rattenfängers von Hameln abgewandelt zum Triumph der Musik über die Gewalt. Der Regisseur wechselt zwischen den verschiedenen Genres: realistisches Familiendrama, Actionfilm, politischer Thriller, Fantasy Fabel, aber Mundruczó verfremdet oder vermischt sie nicht. Er interpretiert sie auf ungewohnte Weise neu: „Es scheint mir, dass diese Genres in unserer auseinanderfallenden osteuropäischen Welt die verschiedenen Schichten der Gesellschaft repräsentieren. Während das Leben mancher Menschen einer Seifenoper gleicht, ist das Leben anderer ein Thriller”.
„Underdog” spielt in einer postmodernen, vergeblich fortschrittlichen Metropole. Der ungarische Filmemacher selbst wuchs auf dem Land auf noch zur Zeit des Kommunismus. Ihn beeindruckten Regisseure wie Rainer Werner Fassbinder, Robert Bresson und Andrei Tarkovski. Doch auch die Science-Fiction-Epen Hollywoods wie “Blade Runner” und “Alien” beeinflussten sein urbanes Märchen. Das Schreckensszenario erinnert entfernt an Alfreds Hitchcocks „Die Vögel” (1963) oder die Rebellion der Primaten in „Planet der Affen”. Schon George Orwells dystopischer Roman “Animal Farm” (1945) erzählt von einem Aufstand der Tiere. Der Besitzer hatte sie ausgebeutet und sträflich vernachlässigt. Als die Schweine die Macht auf der Farm übernehmen, wird deren Gewaltherrschaft um vieles grausamer als die der Menschen. Jene Parabel wurde oft auf die Sowjetunion bezogen und die Diktatur Stalins nach der Oktoberrevolution. Mundruczó schildert hier, wie sich Osteuropa in den letzten Jahren beängstigend veränderte. „Der wirtschaftlichen Krise folgte die moralische,” so der Regisseur. Als musikalisches Thema und für Lilis Orchesterproben wählte er die „Ungarische Rhapsodie Nr. 2” von Franz Liszt. Sie ist für ihn Sinnbild seiner Heimat, aber zugleich hat die eingängige Melodie sich durch die Zeichentrickfiguren Tom und Jerry zum internationalen Allgemeingut der Unterhaltungsindustrie entwickelt. William Hannas und Joseph Barberas „The Cat Concerto” erhielt 1947 den Oscar als Bester animierter Zeichentrickfilm. Der Soundtrack von „Underdog” täuscht oft eine trügerische Leichtigkeit vor, ist rebellisch, auftrumpfend, herausfordernd, stolz, wild wie die Helden des Films.
Lilis und Hagens Schicksale bleiben eng miteinander verbunden auch nach ihrer Trennung. Der 40jährige Regisseur nennt es eine Spiegelgeschichte. Beide Protagonisten sind auf der Suche nach sich selbst, rebellieren, haben ein unerschütterliches Gespür für Gerechtigkeit, sehnen sich nach Freiheit. Bezaubernd Zsofi Psotta als Lili, die Außenseiterin mit jener besonderen, geheimnisvollen Begabung. Zwischen den anderen Jugendlichen des Orchesters wirkt sie wie ein einsames störrisches Kind. Hagen dagegen gleicht einem Gladiator, stolz und schön. Er ist ein Mix aus Labrador, Shar-Pei und Schäferhund, robust, kräftig von Statur, gutmütig, verspielt, bis er zur blutrünstigen Bestie abgerichtet wird. Grade, weil dies kein gewöhnlicher Horrorfilm ist, erschreckt sein Knurren, die gefletschten Zähne des einst so sanften Tieres. Das Training zum Kampfhund geht in seiner Grausamkeit bis an die Grenze des Erträglichen, vergleichbare Szenen gab es zuletzt in „Amores Perros” (2000), dem viel gepriesenen Drama des mexikanischen Regisseurs Alejandro González Iñárritu. Gespielt wird Hagen von den Zwillingsbrüdern Luke und Body. Jeder der Mischlinge in “Underdog” kam aus einem Tierheim. Am Ende der Drehabreiten wurden alle Vierbeiner adoptiert, fanden ein neues Zuhause. Mundruczós vielschichtiges Rache-Epos erhielt bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes 2014 nicht nur den Prix Un Certain Regard sondern auch den Palm Dog Award.
„Niemand nimmt einen stinkenden Bastard,” sagt Lilis Vater über ihren Hund, bevor er ihn aussetzt. Die boshaften Worte sollen ganz bewusst dem ausländerfeindlichen Vokabular der Rechtsextremen in Ungarn ähneln. Rassenhass und Fremdenfeindlichkeit im Land nehmen ständig zu. Es werden drastischere Maßnahmen gefordert insbesondere gegenüber den verarmten Roma. Manche der Parolen gleichen Mundruczós Ansicht nach erschreckend der Endlösungspropaganda des Nationalsozialismus. Ungarn hat mit Jobbik (Die Besseren) eine der erfolgreichsten rechtsextremen Parteien Europas, die Anfang 2014 bei den Parlamentswahlen 20 Prozent der Stimmen für sich verbuchte. Inzwischen liegt sie Umfragen zufolge kurz vor der 30 Prozentgrenze, weit vor den linken und liberalen Oppositionsparteien. Die Rechte paramilitärischer Bürgerwehren wurden gestärkt, das Recht auf bewaffneten Selbstschutz auf eigenem Grund und Boden eingeführt. Rund 500.000 Ungarn sollen in den letzten vier Jahren ausgewandert sein. Die Löhne sind extrem niedrig, die Sozialhilfe reicht nicht für das Notwendigste. Auf 100.000 wird die Zahl der streunenden Hunde geschätzt. In Ungarn gibt es 200 Hundefänger-Anlagen und Tötungsstationen. Jährlich werden hier 165.000 Hunde eingeschläfert. „Underdog” zeigt die Abgründe und Schattenseiten des sonst so prächtigen Budapests. In den schmuddeligen Ecken hinter den Märkten, den verfallenen leer stehenden Häusern, auf verlassenen Baustellen kämpfen die Mischlinge ums Überleben. Auch der Schlachthof, wo Lilis Vater arbeitet, ist ein Ort des Grauens.
Mit großem Eifer bemüht sich Jobbik um ein seriöseres Image. Das Programm bleibt weiter rechts und radikal, aber wenn Parteichef Gábor Vona sich mit rührenden Hundewelpen ablichten lässt, möchte er Fürsorge und Menschlichkeit demonstrieren. Sein Ziel ist, breitere Schichten anzusprechen, man spekuliert auf eine Machtübernahme bei der nächsten Wahl. Noch 2012 hatte der stellvertretende Parteichef Márton Gyöngyösi während einer Debatte über die israelische Militäroffensive im Gazastreifen gefordert, die in Ungarn lebenden Juden in Listen zu erfassen. Seiner Überzeugung nach stellen sie ein Sicherheitsrisiko dar. Besonders beunruhigend ist, dass Premier Orbán und die Regierungspartei Bund Junger Demokraten (Fidesz) von der extrem Rechten in immer stärkeren Maße nicht nur die nationalistische Rhetorik sondern auch deren radikal armenfeindliche Sozialpolitik übernimmt. Der Europarat kritisierte kürzlich in einem Bericht, Ungarns Umgang mit Flüchtlingen und die öffentliche rassistische Hetze, die im gesamten politischen Spektrum vertreten sei. Regisseur Mundruczó dazu: „...auch in der regierungsnahen Budapester Zeitung ‘Magyar Hírlap’, die sich zwar von den rechtsextremen Hardlinern absetzt, wird dennoch offene Propaganda betrieben. So erschien dort am 5. Januar 2013 unter der Überschrift “Wer nicht existieren darf” ein Leitartikel von Zsolt Bayer, der als einer der ältesten politischen Freunde des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán gilt und Gründungsmitglied von dessen Partei Fidesz ist (...).“Ein bedeutender Teil der Zigeuner ist nicht geeignet, unter Menschen zu leben. (...) Sie sind Tiere. Diese Tiere sollen nicht sein dürfen. In keiner Weise. Das muss gelöst werden– sofort und egal wie.” „Underdog” beginnt mit einem abgewandelten Rilke-Zitat: „Alles Schreckliche braucht unsere Liebe”. Ein poetischer wie verstörender Film.
Originaltitel: Fehér Isten (White God englische Version)
Regie: Kornél Mundruczó
Darsteller: Zsofi Psotta, Sandór Zsótér, Lili Horváth
Produktionsland: Ungarn, 2014
Länge: 121 Minuten
Verleih: Delphi Filmverleih
Kinostart: 25. 06. 2015
Fotos & Trailer: Copyright Delphi Filmverleih
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