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Film & Trailer Lost River

Mystische betörende Bilder von verstörender Intensität. Ryan Gosling erzählt in seiner düsteren poetischen Fabel „Lost River” vom Schrecken des postindustriellen Zeitalters, dem Fluch einer versunkenen Stadt und auch der eigenen Jugend.
Entstanden ist ein ungewöhnlicher Mix aus Fantasy, Neo Noir, Punk und gesellschaftskritischem Melodram. Der Schauspieler stieg mit dem elegischen Actionthriller „Drive” (2011) und „A Place Beyond the Pines” (2012) zur Kultfigur des internationalen Independent-Kinos auf. Sein Regiedebüt 2014 in Cannes wurde mit Spannung erwartet. Gnadenlos verrissen die meisten Kritiker den Film des 34jährigen Kanadiers. Zu Recht?

Straßenlampen ragen aus dem See. Ein brennendes Fahrrad, gelenkt von unsichtbarer Hand, fährt vorbei an verlassenen trostlosen Hochhausschluchten. In den Vororten gehen heruntergekommene Villen in Flammen auf. Alles signalisiert Armut und Ausweglosigkeit. Die meisten Einwohner sind längst geflüchtet. Lost River heißt diese geheimnisvolle Geisterstadt am Ufer eines Staudamms. Für Billy (Christina Hendricks, “Drive”) und ihre beiden Söhne ist sie nicht nur Heimat sondern auch ein verwunschener Ort. Die alleinerziehende Mutter kämpft mit allen Mitteln darum, ihr Haus nicht zu verlieren. Sie gibt den Kids in den eigenen vier Wänden das Gefühl von Geborgenheit. Trotz Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit sollen sie unbeschwert die Kindheit genießen Eine sinnlose Hoffnung: Das Gebäude auf dem Nachbargrundstück wird ohne Vorwarnung innerhalb von Stunden abgerissen, Billy will trotzdem nicht aufgeben. Ihr kleiner Franky ist ein süßer, immer erstaunt blickender Junge. Er hat noch Schwierigkeiten, die Stufen der Veranda allein zu erklimmen und fürchtet sich vor Monstern unterm Bett.

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Der ältere Bruder Bones (Iain Caestecker, „Marvel’s Agents of S.H.I.E.L.D”), ein schlaksiger Teenager, musste früh erwachsen werden. Wenn die Mutter nachts als Kellnerin arbeitet, kümmert er sich um den Jüngeren. Tagsüber stromert er durch die Umgebung, sucht zwischen den Ruinen verfallener Häusern oder Fabrikhallen nach Schrott und Kupfer. Er zwängt sich durch die Lücken der Zäune, klettert durch kaputte Fenster, über Mauern, stemmt Wände auf. Das Geld aus den Verkäufen spart er, um endlich sein altersschwaches Auto reparieren zu können. Im Geheimen träumt auch er von Flucht. Auf den Streifzügen entdeckt Bones den Zugang in eine mysteriöse Unterwasserwelt. Aber durch seine Geschäfte kommt er bald schon dem brutalen Bully (Matt Smith, „Dr. Who”) in die Quere. Der junge Gangster-Psychopath hat sich selbst zum Herrscher der Straßen ernannt. In einem weißen alten Cadillac Cabriolet lässt er sich durch die menschenleere Endzeit-Szenerie chauffieren. Sein Thron: ein altersschwacher Sessel auf den Wagen montiert. Bully verlangt bedingungslose Unterwerfung, regiert mit sadistischer Gewalt über ein Reich, das längst zerfallen ist. Am Steuer sitzt sein grausam entstellter Handlanger Fresse, der den Auftraggeber an Bösartigkeit noch übertrifft. Billy hat ihren Kindern bisher verschwiegen, dass sie hoffnungslos verschuldet ist. Die Zwangsversteigerung droht. Dave, der neue Bankmanager (Ben Mendelsohn, „Killing Them Softly”), lässt der verzweifelten Mutter wenig Zeit, die fälligen Hypothekenraten zu begleichen. Als Ausweg aus der finanziellen Misere bietet er ihr einen lukrativen Job in seinem Nachtclub an.

Vorbild für „Lost River” ist Detroit. Ryan Gosling faszinierte die Stadt seit jeher. Der Schauspieler war dort während der Dreharbeiten von George Clooneys Politthriller „The Ides of March- Tage des Verrats” (2011), er kehrte auch danach immer wieder in den Südosten Michigans zurück. Und so wurde Detroit die imaginäre und reale Kulisse seines geheimnisvollen dunklen Märchens. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Metropole der boomenden Autoindustrie Verkörperung des Amerikanischen Traums. Zwei Millionen Menschen hatten hier Anfang der Fünfziger Jahre gelebt. Doch aus Angst vor nuklearen Angriffen auf Industriezentren ermutigte die US-Regierung Unternehmen, ihre Produktionsstätten auszulagern, die Firmen wanderten ab. In den Siebziger und Achtziger Jahren fielen zunehmend Arbeitsplätze weg durch die Konkurrenz aus Japan und Deutschland. Heute leben hier nur noch rund 680 000 Menschen. 35 Prozent des Wohngebiets soll inzwischen unbewohnbar sein. “Lost River” ist kein Spielfilm mit einer Handlung im herkömmlichen Sinn sondern eine schillernde Collage von lose aneinander gereihten Szenen. Kameramann Benoit Debie („Springbreakers”) entwickelt sie zu einer Folge stimmungsvoller verschwommener surrealer Bilder von berückender morbider Schönheit und hintergründiger Symbolik. Der Soundtrack ist mehr als ein Subtext, er übernimmt oft die Funktion des Erzählers. Multiinstrumentalist Johnny Jewel mischt eigene Synthesizer-Kompositionen mit Songs meist aus den Dreißiger Jahren wie Bob Nolans „Cool Water” oder Peter De Roses „Deep Purple”. Es geht um Liebe, magische Momente. Die Gewalt bleibt trotzdem unterschwellig stets präsent. Bildkompositionen und Blickwinkel sind frappierend suggestiv. Wasser und Feuer werden zu den entscheidenden Elementen des Films.

Der Nachtclub des obskuren Bankers entpuppt sich als Sadomaso-Cabaret. Selbstverstümmlung und Mord werden hier in Szene gesetzt für ein elegantes exklusives Publikum. Billy steht nun auf der Bühne, zieht sich das Messer durchs Gesicht, um Muskeln und Sehnen freizulegen. Die Musik ist herzzerreißend, das künstliche Blut fließt in Strömen. Die Grauen erregende Show erinnert an Georges Franjus Horrorfilm „Augen ohne Gesicht” (1960) oder das Theatre du Grand Guignol (1897-1962) im Pariser Vergnügungsviertel Pigalle. Dave versteht sich auf zwielichtige Geschäfte und absonderliche Perversionen. Im Untergeschoss sollen die Wünsche der Klienten Wirklichkeit werden. Der Banker macht Billy unmissverständlich klar, was er von ihr erwartet. Der einzige Mensch, dem die Protagonistin sich anvertrauen kann, ist der Taxifahrer (Reda Kateb, „Zero Dark Thirty”), der sie jeden Abend zur Arbeit bringt. Bones verliebt sich in das Nachbarmädchen Ratte (Saoirse Ronan, „Seelen”), so genannt wegen ihres niedlichen gezähmten Haustiers. Ratte erzählt ihm alles, was sie weiß von jenem geheimnisvollen Ort auf dem Grund des Flusses. Vor langer Zeit wurde in der Gegend ein Staudamm gebaut und alles geflutet. Seit die letzten Häuser im Wasser versunken sind, lastet ein Fluch auf Lost River. Nur wenn dieser Fluch gebrochen werde, könne die Stadt sich retten. Die behutsame Romanze von Bones steht in krassem Gegensatz zu der Dekadenz des Nachtclubs, in dem Billy auftritt. Der Junge ahnt nicht, dass seine Freundschaft zu Ratte, das Mädchen in Gefahr bringt. Er entwendet heimlich die Kupfervorräte, die Bully ihm gestohlen hat. Der Schrotthändler warnt ihn vor dem skrupellosen Gang-Leader, der kurzen Prozess mit seinen Gegnern macht. Einem Mann habe er die Lippen mit einer Schere abgeschnitten.

Ryan Gosling wuchs genau wie Bones und Franky mit einer alleinerziehenden Mutter auf. Als Kind hasste er es, wenn Männer seiner Mom hinterher pfiffen. Er empfand sie als Bedrohung. Bones Beschützerinstinkt ist ausgeprägt, es quält ihn, dass die Mutter in solch makabrer Show auftreten muss. Iain De Caestecker wirkt mit seinem verschlossenen Gesicht wie ein Alter Ego des Regisseurs. Noch hat er nicht das Charisma oder das Verführerische des 34jährigen umschwärmten Stars, aber zumindest seine Entschlossenheit: Was immer der Junge anpackt, er wird nie aufgeben genau wie Gosling als Luke Glanton in „A Place Beyond the Pines”. Bones ist eigenwillig, etwas verschroben, das macht seinen seltsamen Charme aus. Wirklich unbeschwert scheint er nur, wenn er mit dem kleinen Bruder spielt. Nachts kämpfen die Beiden draußen im Garten mit Laserschwertern gegeneinander. Familie ist in diesem Mystery-Thriller der eigentliche verwunschene Ort. Die Idee zu “Lost River” beschäftigt Ryan Gosling schon seit seiner Kindheit. Es ist die Geschichte der Stadt, in der er aufwuchs. Als Junge strolchte er viel im Wald umher, da sah er plötzlich jene Straße, die ins Wasser hineinführte. Seine Mutter erklärte ihm, dass ein Erschließungsunternehmen für den Bau eines Kanals zahlreiche Dörfer und Ortschaften geflutet hatte. Der Gedanke, im Fluss über einer versunkenen Stadt geschwommen zu sein, ließ Gosling nie mehr los. Im Film zeigt Ratte ihrem Freund alte Werbeclips vom ‘Seaway-Projekt’

Bully entdeckt Bones zusammen mit Ratte in einem Supermarkt. Der Junge versteckt sich, Ratte lenkt den Gangster ab, akzeptiert widerwillig, dass er sie nach Hause fährt. Bully bedroht das Mädchen und schneidet ihrem kleinen Haustier die Kehle durch. Mit der zynischen Ansage, den Freund von ihm zu grüßen, verabschiedet er sich. Bones beschließt, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, er will den Fluch von Lost River brechen. Er bittet das Mädchen daheim auf Franky aufzupassen und fährt zum See. Dort taucht er hinab in die mysteriöse Wasserunterwelt, um die Stadt zu erlösen. Bullys Handlanger Fresse setzt das Haus von Rattes Großmutter in Brand. Die alte Frau kommt in den Flammen um. Fantasie und Wirklichkeit verschmelzen. Die Fabel entwickelt sich zu einem gespenstischem hypnotischen Albtraum. In diesem ungewöhnlichen Märchen hat die Stadt selbst die Rolle der verzauberten Prinzessin übernommen. Extreme Stilisierung und symbolische Bildsprache erinnern an David Lynch, Terrence Malick und vor allem Nicolas Winding Refn. Gosling leugnet den Einfluss nicht, im Gegenteil, er dankt den Regisseuren im Abspann. Aber in seinem oft fast experimentellen Mystery-Thriller hat er einen unverwechselbaren eigenen Stil entwickelt. In dem Spannungsfeld von Trance und Suspense, Schrecken und Schönheit liegt ein besonderer Zauber.

Ryan Gosling zollt seinen Protagonisten am Rande der Gesellschaft Respekt. Sie wirken nie kläglich, werden nicht als Verlierer denunziert. Ob Kämpfer oder Träumer, sie haben eine besondere Würde, selbst der jugendliche Psychopath im goldenen Paillettenhemd. Die Ästhetik schützt die Akteure vor der Lächerlichkeit und dem Hochmut der Zuschauer. Der Regisseur verlangt seinen Helden keine spektakulären Leistungen ab wie das amerikanische Blockbuster Kino, da muss jemand wie Will Smith als Chris Gardener in „Streben nach dem Glück” (2006) vom Obdachlosen zum Investmentbanker aufsteigen. Es gibt diese Karrieren und sie verdienen unsere Bewunderung. Aber auf der Straße zu überleben, braucht manchmal ebenso viel Kraft oder mehr. In einer Stadt wie Rom reicht das Gehalt eines Maurers oft nicht für eine Wohnung. Nahe den Metropolen entstehen immer mehr illegale Barackensiedlungen. Die Angst vor dem sozialen Abstieg muss für eine Mutter unerträglich sein, die Hölle auf Erden. Und davon handelt dieser Film. Der magere blasse Bones hat etwas von einem stolzen Ritter, der unerschrocken für die Seinen kämpft. Ein stiller unauffälliger Junge mit einem schmallippigen Grinsen, falls er denn mal lächelt. Das Gegenteil jener muskulösen strahlenden Protagonisten aus „The Hunger Games”. Die Menschen in „Lost River” wollen nicht aufgeben. Eine aussichtslose Schlacht. Hier im sozialen Abseits verteidigen sie die Familie als moralischen Wert, wo sonst alles Andere zum Spekulationsobjekt verkommt. Goslings magischer Kosmos trennt sich nie ganz von der Realität und dem dokumentarischen Anspruch. Da ist der alte Nachbar von Bones, der ohne ein Wort der Klage sein Hab und Gut in den Wagen lädt. Dies war sein Heim, hier hat er fast sein ganzes Leben verbracht. Rattes Großmutter hat sich zurückgezogen in die Schwarzweiß Erinnerungen ihrer Jugend. Sie starrt nur noch wie gebannt auf die Filmszenen längst vergangener Tage, die sich in einer Endlosschleife wiederholen. Was selbst den überzeugten Gegnern der trotzigen Außenseiter-Ballade gefiel: Wenn Ben Mendesohn als böser Banker auf der Bühne seines Cabarets Hip-Hop tanzt oder schmachtend „Cool Water” singt.

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Originaltitel: Lost River
Regie / Drehbuch: Ryan Gosling
Darsteller: Christina Hendricks, Iain Caestecker, Saoirse Ronan, Matt Smith, Eva Mendes, Ben Mendesohn
Produktionsland: USA, 2014, Länge: 95 Minuten, Verleih: Tiberius
Kinostart: 28. Mai 2015


Fotos & Trailer: Copyright BOLD FILMS PRODUCTIONS / TIBERIUS FILM GMBH

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