„Die Entdeckung der Unendlichkeit”. Von schwarzen Löchern und der Kraft einer großen Liebe
- Geschrieben von Anna Grillet -
Ein bewegender wie mitreißender Film über den britischen Astrophysiker Stephen Hawking und seine Ehefrau Jane. Grandios: Eddie Redmayne in der Rolle des brillanten Wissenschaftlers.
Die vernichtende Diagnose lautet „ALS“, Lebenserwartung höchstens zwei Jahre. Stephen Hawking ist zu diesem Zeitpunkt Anfang 20, die Professoren in Cambridge begeistert von seinem außergewöhnlichen Talent. Er steht am Beginn einer vielversprechenden Karriere und vor allem: er hat sich grade verliebt. Amyothrophe Lateralsklerose, eine Erkrankung des motorischen Nervensystems lähmt nach und nach alle Muskeln, bis der Betroffene keinen Finger mehr rühren kann. “Und das Gehirn?,” fragt Hawking den Arzt. Das arbeite normal weiter, erklärt ihm der Mediziner, aber er werde nicht mehr fähig sein, irgendjemandem seine Gedanken mitzuteilen.
Regisseur James Marsh („Shadow Dancer”, „Wisconsin Death Trip”) und Kameramann Benoit Delhomme („A Most Wanted Man”) gönnen sich zuvor einen ausgiebigen Abstecher ins Romantisch-Nostalgische, noch hängt der Himmel voller Geigen. Stephen Hawking entdeckt Jane Wilde (Felicity Jones) auf einer Party. Oder war es umgekehrt? Er, der geniale Nerd mit einem etwas eigenwilligen, ungelenken Charme, sie, eine hübsche, schlagfertige Studentin der Romanistik. Er Atheist, sie überzeugte Kirchgängerin. Naturwissenschaften treffen auf Geisteswissenschaften. Trotz oder wegen der Gegensätze, die Anziehungskraft zwischen den Beiden ist für den Zuschauer in jedem Moment spürbar, genau wie 25 Jahre später der Schmerz über das Ende jener einzigartigen Beziehung. Fakten oder die Wahrheit als solche machen noch kein gutes Biopic, wir müssen sie glauben, deshalb funktioniert der Film. Kitschig, sentimental wird “Die Entdeckung der Unendlichkeit” nie, selbst wenn am Nachthimmel beim Ball auf dem Unigelände malerisch das Feuerwerk explodiert, Liebe wie Leiden uns eigentlich zu Tränen rühren sollten. Das verhindert Stephen Hawkings Ironie, sein unverwechselbarer trockener Humor. „Ich bin Kosmologe.” „Was ist das?” will Jane wissen. „Ich studiere die Vermählung von Raum und Zeit.” Statt läppischer Komplimente, erläutert er ihr, weshalb die weißen Hemden der Tänzer dank Waschmittel stärker fluoreszieren als die Kleider der Mädchen. Ob auf dem Karussell oder im Hörsaal er ist in erster Linie immer Wissenschaftler. Er träumt davon, die Formel zu finden, die das Universum erklärt.
Doch die Diagnose lässt den 21-jährigen verzweifeln: er gibt sich selbst auf, trennt sich von Jane, statt an der Doktorarbeit zu schreiben, lauscht er immer wieder Brünhildes „Todesverkündigung” von Richard Wagner. Er will niemanden mehr sehen und verkriecht sich in seinem Zimmer. Jane akzeptiert die Entscheidung nicht. Mit bewundernswertem Durchsetzungsvermögen gelingt es der zierlichen Frau, Stephen aus der Depression herauszureißen und ihm seinen Lebensmut wiederzugeben: „Ich liebe ihn und er liebt mich. Wir werden diese Krankheit gemeinsam bekämpfen.” 1965 heiratet das Paar, 1967 wird ihr Sohn Robert geboren, später Lucy und dann Tim. Der rapide körperliche Verfall ist beängstigend, aber Stephen widmet sich von nun an unbeirrbar seiner wissenschaftlichen Arbeit und promoviert. „Das menschliche Streben sollte keine Grenzen kennen”, diesen Grundsatz macht der brillante Physiker zu seiner Maxime. Je stärker der körperliche Verfall, desto bahnbrechender seine Erkenntnisse. Drehbuchautor und Produzent Anthony McCarten vermittelt die revolutionären Theorien Hawkings leicht verständlich oft fast beiläufig. Die Geheimnisse der Schwarzen Löcher erklärt Jane den Gästen beim Dinner, während ihr Mann vergeblich versucht einen Löffel mit Erbsen zum Mund zu führen. Regisseur Marsh findet eingängige Bilder: ein winterlicher Wollpullover, den der Protagonist nicht mehr schafft sich über den Kopf zu ziehen. Gefangen zwischen den breiten Strickmaschen, kommt ihm eine zündende Idee. Das Greifbarmachen der Wissenschaft ist ganz im Sinne des Astrophysikers: eine seiner besonderen Fähigkeiten liegt gerade darin, schwierigste Zusammenhänge frappierend einfach veranschaulichen zu können. So wurde sein Universum vielen zugänglich und er selbst irgendwann zur Ikone und Teil der Popkultur. Sein populärwissenschaftlicher Bestseller „Eine kurze Geschichte der Zeit” verkaufte sich weltweit mehr als 10 Millionen mal. Ob in dem Song „Keep Talking” von Pink Floyd, der Zeichentrickserie „Die Simpsons”, der Progressive Metal-Band Mastodon, „Raumschiff Enterprise”, Monty Python Live, er selbst oder seine Theorien sind überall präsent.
Auf der Leinwand geht es weniger um Relativitätstheorie oder Quantengravitation sondern um eine ungewöhnliche Liebe, die jeden Tag vor neue fast unüberwindliche Herausforderungen gestellt wird. Sie muss sich immer wieder aufs Neue bewähren. Einige der Kritiker bemängeln die konventionelle chronologische Erzählweise, doch hier hat sie durchaus ihre Berechtigung: den erschreckenden schrittweisen Verfall des Körpers, die Stadien der Krankheit, die Marsh akribisch schildert, verlieren so nie an Intensität. Die Schaffens- wie Willenskraft des Wissenschaftlers ist ungebrochen. Derweil muss Jane sich um alles kümmern, die Pflege ihres Mannes, die Kinder, den Haushalt, für ihre eigene akademische Karriere bleibt da keine Zeit. Wie sehr sie während all dieser Jahre litt, deutet das Biopic nur an. Es basiert auf ihren Memoiren „Die Liebe hat elf Dimensionen” (2008). Harscher klang die erste Autobiographie, die 1995 erschien unter dem Titel „Music to Move the Stars: A Life with Stephen Hawking”. Jane bezeichnet dort ihren Mann als „virtuosen Puppenspieler” und “allmächtigen Herrscher”. Was im Film so harmonisch scheint, Bootsfahrt mit den Kindern, die selbstverständliche Zärtlichkeit des Paares, muss in Wirklichkeit um vieles schwieriger gewesen sein. Jane führt ein Schattendasein, wurde im Wissenschaftsbetrieb der damaligen Zeit nur als schmückendes Beiwerk eines berühmten Mannes geduldet. Sie verlor oft fast den Mut. „Mit der verzweifelten Inbrunst eines Menschen, der Selbstmord nicht mehr ausschließt, betete ich um Hilfe. Nur noch der Gedanke an meine Kinder hielt mich davon ab, ins Wasser zu gehen.” Stephen Hawking ist an den Rollstuhl gefesselt, er versucht seine Frustration, seine Erniedrigung nicht zu zeigen, kämpft nach wie vor unverdrossen um Eigenständigkeit. Auf den Stufen liegend zieht er sich mit den Armen am Treppengeländer hoch. Von oben schaut sein zweijähriger Sohn Robert auf ihn hinunter. Das sind die Momente, in denen der Zuschauer das volle Ausmaß der Behinderung zu begreifen beginnt, die Tragik so stark spürt, dass es ihm fast den Atem nimmt. Während einer Lungenentzündung kommt es zu Komplikationen. Durch einen Speiseröhrenschnitt verliert Stephen völlig die Stimme. Von nun an ist er auf einen Sprachcomputer angewiesen, den er mit der Bewegung seiner Augen steuert. Jenen scheinbar unerschütterlichen Optimismus verliert der legendäre Wissenschaftler nie: „Solange es Leben gibt, gibt es auch Hoffnung.” Jane wie auch Stephen bezeichnen beide in Interviews die Krankheit als ihr persönliches mentales Schwarzes Loch.
Was fast wie eine romantische Komödie beginnt, entwickelt sich langsam, aber unweigerlich zum Ehedrama. Jane verliebt sich in ihren Chorleiter, den Witwer Jonthan Hellyer Jones (Charlie Cox). Er wird ein unentbehrlicher Freund der Familie, Teil des Haushalts. Eine seltsame Ménge-à-trois entsteht. Die Beziehung bleibt platonisch aus Respekt für Stephen, der weiterhin der Mittelpunkt ihres Lebens ist. Wenn Jane am Schreibtisch sitzt und versucht, sich auf ihre Texte zu konzentrieren, sie hat das Studium wieder aufgenommen, tobt ihr Mann im Rollstuhl nebenan mit den Kindern. Auf sie nimmt selten jemand Rücksicht in dieser Familie. Und als ihr Gatte dem Charme der neuen Pflegerin verfällt, kann Jane die Eifersucht nur schwer verstecken. Sie ist enttäuscht, dass ihre Ehe so endet und lässt sich scheiden. Im Film kämpfen beide bis zuletzt um ihre Beziehung, in der Wirklichkeit ging es wohl weniger nobel zu. Selbst das außergewöhnlichste Schicksal kann sich nur schwer der üblichen Banalität erwehren. Trotzdem beruhigend zu wissen, dass jene Ikone der Wissenschaft ein Mann wie jeder andere ist, dem irgendwann im Alter nach einer jüngeren Frau verlangte. Viel Glück hat ihm diese zweite Ehe nicht gebracht, aber das ist nicht Thema des Films. James Marshs Porträt einer großen Liebe ist auf seine Art sehr bodenständig, übernimmt den Optimismus seines Protagonisten eins zu eins, ohne ihn je zu hinterfragen. Ganz anders Julian Schnabels Film „Schmetterling und Taucherglocke”. Protagonist Bauby aka Jean-Do ist Gefangener seines eigenen gelähmten Körpers. Eine Erzählung, die vom Sterben handelt, nicht wie „Die Entdeckung der Unendlichkeit” von der Hoffnung. Doch auch hier geht es um Freiheit, für die gekämpft und gelitten werden muss. Kamera wie Blickwinkel sind subjektiv. Die Poesie des Schreckens und der Schönheit explodiert hier im Krankenzimmer. Phantasie bleibt der einzige praktikable Fluchtweg. Jean-Do lebt in der Erinnerung. Seine Realität ist der Tagtraum und der Roman, den er kreiert. Ein märchenhafter, leichter, ästhetisch virtuoser Film, der vom Horror des Locked-in-Syndroms handelt. Ein Meisterwerk.
Dem Biopic fehlt solch emotionaler Sog, vielleicht hat ihn der Regisseur bewusst vermieden. Er vertraut auf seine Protagonisten. Eddie Redmayne („My Week with Marilyn”, „Les Miserables”) spielt, besser verkörpert Stephen Hawking mit atemberaubenden Einfühlungsvermögen. Es ist eine diffizile Rolle, sie umfasst einen Zeitraum von 25 Jahren und verlangt eine unglaubliche Körperbeherrschung: Die schiefe Kopfstellung, die gekrümmte Hand, die nach und nach sich auflösende Sprachfähigkeit. Schon früh wurden eine Sprechtrainerin und ein Bewegungskoordinator engagiert, um mit dem Schauspieler an dessen Part zu arbeiten. Weil es keine Aufzeichnungen über Hawkings erste Phasen seiner Krankheit gibt, beriet sich Redmayne mit einem Arzt, der auf diese Art von ALS spezialisiert ist. Auf einem Schaubild wurde für jede Szene genau festgehalten, wie weit die Krankheit fortgeschritten war. Da „Die Entdeckung der Unendlichkeit” wie die meisten Filme nicht chronologisch gedreht wurde, konnte sich der Hauptdarsteller so immer orientieren, ob seine Stimme für die nächste Einstellung in Phase 4 oder der Körper sich in Phase 3 befinden würde. Auch Redmayne studierte in Cambridge, Kunstgeschichte, von weitem hatte er damals manchmal Hawking beobachtet, meist umringt von Bewunderern. „Sein Charakter hat unglaublich viele Seiten, den Witz, die Brillanz, die Sturheit.... Ich habe den Eindruck, dass er die Persönlichkeit eines Rockstars hat.” Als er den Wissenschaftler kennenlernte, fiel ihm auf, dass sein „Ja” eine Art Lächeln und sein „Nein” fast eine Grimasse ist. Allerdings machte sich das nur in ganz wenigen Gesichtsmuskeln bemerkbar. Also trainierte Redmayne, genau die isoliert bewegen zu können. Jedes Detail war entscheidend.
Schwarze Löcher soll es übrigens nun doch keine geben, verkündete der 72-jährige Hawking Anfang dieses Jahres, zumindest nicht so, wie bisher geglaubt.
Originaltitel: The Theory of Everything
Regie: James Marsh
Darsteller: Eddie Redmayne, Felicity Jones, Charlie Cox, Emily Watson, Simon McBurney, David Thewlis, Tom Prior
Produktionsland: Großbritannien, 2014
Länge: 123 Minuten
Verleih: Universal Pictures International Germany
Kinostart: 25. Dezember 2014
Fotos & Trailer: Copyright Universal Pictures International Germany
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