„Wenn wir brennen, dann brennen Sie mit uns.” Vom dystopischen Actionspektakel zum erschreckend aktuellen Revolutionsdrama.
Eine mutige Entscheidung von Regisseur Francis Lawrence. Hinreißend: Jennifer Lawrence als Katniss Everdeen und Rebellin wider Willen. Die Produzenten des Kino-Franchise haben sich bei Suzanne Collins Romantrilogie an das erprobte Prozedere von „Harry Potter” und „Twilight” gehalten. Sie splitten die Handlung des letzten Bandes in zwei Filme- mit verblüffendem Resultat: „Mockingjay Teil 1” entwickelt eine solch düstere, emotionale Wucht wie sie weder „Tödliche Spiele” noch „Catching Fire” je erreichten. Vielleicht auch gar nicht erreichen sollten. Manche Kritiker in den USA empfinden den so untypischen Fantasy-Blockbuster als langatmigen Lückenbüßer, für andere ist er eine Offenbarung.
Der Film eignet sich nur bedingt für Quereinsteiger. Doch wie Diktaturen funktionieren haben uns schon Aldous Huxley („Schöne Neue Welt”) und George Orwell („1984”) gelehrt. Es geht zur Not auch ohne Rückblenden oder lange Erklärungen. Katniss konnte schwer verletzt von den Rebellen aus der Arena gerettet werden. Sie lebt von nun an mit ihnen in dem geheimen Distrikt 13, von dessen Existenz sie nie geahnt hatte. Die unterirdische Militärbasis ist straff organisiert. Nichts erinnert in den spartanischen, schwach erleuchteten klaustrophobischen Katakomben an Katniss’ wohnliches Heim in Distrikt 12 oder den dekadenten Prunk des Kapitols, wo der verhasste Tyrann Präsident Snow (Donald Sutherland) mit unerbittlicher Gewalt regiert. Er triumphiert als Meister der Manipulation und beutet seine Untertanen aufs Grausamste aus. Dafür verspricht er Sicherheit und Ordnung. Wo sich ihm jemand widersetzt, lässt er alles in Schutt und Asche bomben. Die sogenannten Hungerspiele sind Vergangenheit, es herrscht offener Krieg. Das Fernsehen wird für beide Seiten zu eine der wichtigsten Waffen.
Glamour war gestern, heute trägt Katniss wie die anderen Rebellen einen dunklen grünlichen Overall, trister Einheitslook wie während Maos Kulturrevolution. Katniss ist traumatisiert, völlig verunsichert, fügt sich nur widerstrebend den ungewohnte Regeln und Vorschriften. Alpträume quälen sie, Schuldgefühle, weil ihr Partner Peeta Mellark (Josh Hutcherson) nicht gerettet wurde. So sieht keine strahlende Heldin aus und doch wollen die Rebellen sie als ihre Symbolfigur, den Spotttölpel. Für den Diktator und seine Gefolgsleute ist er Inbegriff des Widerstands und des eigenen Versagens. Mit Schnattertölpeln, einer künstlichen, im Labor gezüchteten, rein männlichen Vogelspezies, hatte Snow früher seine Bürger bespitzeln lassen. Die Vögel besaßen die außerordentliche Fähigkeit, sich Gespräche einprägen und wiedergeben zu können. Nur schon bald hatten die Rebellen es durchschaut, fütterten die „jabberjays“ mit Lügen und ließen sie beladen mit Falschinformation ins Regierungsviertel zurückfliegen. Als nutzlose Spione enttarnt, wurden die Vögel in den Wäldern ausgesetzt. Sie starben, aber manche von ihnen paarten sich mit Spottdrosseln, „mockingbirds“. So entstand Mockingjay.
Auch die ersten beiden Panem-Folgen, die zusammen 1,5 Milliarden Dollar einspielten, basieren ihre Handlung auf der nachhaltig sozialkritischen Message von Suzanne Collins. Sie entlarven die Mechanismen von Medien, Reality Shows, den Machthunger und die Intrigen eines faschistischen Alleinherrschers. Doch die spektakulär in Szene gesetzten Hunger Games, wo Mädchen und Jungen als Tribute der einzelnen Distrikte ums Überleben kämpfen, lenken ab, funktionieren auf der Leinwand fast wie einst die Gladiatorenkämpfe im alten Rom, nicht nur für die Bewohner von Panem auch für uns. Damit ist endgültig Schluss. Ohne Vorwarnung überrascht die meist jugendlichen Zuschauer nun ein beängstigendes Bürgerkriegs-Drama, das den täglichen 20 Uhr-Nachrichten zum Verwechseln ähnelt: Krimkrise, Arabischer Frühling oder das Gemetzel der ISIS. Die Realität hat die Fiktion eingeholt. Geiseln mit Kapuzen über dem Kopf werden vor laufender Kamera erschossen. Der skrupellose Diktator spricht im Fernsehen von Frieden, der nur vereitelt wird von radikalen Elementen. Den Begriff Rebellen meidet er tunlichst, der ist zu positiv besetzt, ermahnen ihn seine Beraterin. Besser er bezeichnet die Aufständischen als Terroristen oder Kriminelle. Mit nicht zu verkennender Süffisanz fordert Präsident Snow von Katniss, sich dafür einzusetzen, dass die Waffen für immer ruhen. Und dann präsentiert er Peeta Mellark, weiß gekleidet wie der Diktator, der in ruhigen, wohl gesetzten Worten an die Bürger appelliert, dem Präsidenten zu folgen, der für Frieden und Wohlstand steht wie keiner je zuvor. Er spricht Katniss direkt an. Die Rebellen kochen vor Wut, sie sehen ihn nicht als Geisel, sondern als Überläufer, Konterrevolutionär. Gale (Liam Hemsworth) macht der Freundin unmissverständlich klar, er wäre eher gestorben, als auf so schändliche Weise sein Volk zu verraten. Aber Katniss glaubt unerschütterlich, Peeta wäre dazu gezwungen worden.
Jede Revolution braucht ein Gesicht. PR Berater Plutarch Heavensbee (der verstorbene Philip Seymour Hoffman) will die Siegerin der Hunger Games als Galionsfigur der Bewegung, als Symbol des Widerstands. Der ehemalige Leiter der Spiele weiß, welche suggestive Wirkung von ihr ausgeht. In Propagandavideos soll sie zum Kampf gegen die Diktatur von Präsident Snow aufrufen. Die Anführerin der Rebellen Alma Collin (Julianne Moore) ist entsetzt über das Ergebnis. Da steht Katniss im Amazonen Outfit mit Pfeil und Bogen, spricht ihren Text ohne jede Überzeugung, fast desinteressiert. Zur Revolutionärin scheint sie wahrlich nicht geboren und zur Schauspielerin noch weniger. Wenn sie ihr Leben riskierte, dann war es für die Familie. In den Hunger Games damals ist die Sechszehnjährige freiwillig angetreten, um ihre kleine Schwester Prim (Willow Shields) davor zu retten. Sie handelt impulsiv, riskiert selbst für Prims Kater fast das Leben, aber sie reagiert eben nur rein emotional. Plutarch weiß, was zu tun ist. Er muss sie konfrontieren mit den Verbrechen des eiskalten Despoten. Also schickt er das Mädchen mit einem Team von Dokumentarfilmern in ein überfülltes Krankenhaus zwischen Ruinen und Trümmerfeldern. Das Elend dort ist unfassbar. Noch springt der revolutionäre Funke nicht über, aber Katniss erwacht aus ihrer Erstarrung. Sie spürt plötzlich, welche Kraft sie den Menschen gibt, was sie, der Spotttölpel, verkörpert: die einzige Hoffnung in einem fast aussichtslosen Kampf. Wenig später wird das Krankenhaus bombardiert, der Anschlag gilt eigentlich ihr. In diesem Moment explodiert etwas in der Protagonistin, sie zieht einen mit Sprengstoff gefüllten Pfeil aus dem Köcher und schießt zwei von Snows Kampfjets ab. Vor dem Flammenmeer am Himmel schleudert Katniss ihrem Gegner mit telegenem Zorn die Worte entgegen: „Wenn wir brennen, dann brennen Sie mit uns.”
Donald Sutherland erklärte auf der Pressekonferenz in London, er hätte die Rolle „nur” angenommen, weil „Die Tribute von Panem” der politisch wichtigste Film sei, den er kenne. Er rüttle die unpolitische Jugend auf. Freiheit sei keine Selbstverständlichkeit, man müsse für seine Selbstbestimmung kämpfen. Obwohl, Selbstbestimmung und Freiheit sind Begriffe, die jeder für sich beanspruchen kann, gleich welche Ideologie er vertritt. Katniss fühlt sich manchmal wie eine Schachfigur, wenn die Rebellen wie auch die Regierung sie für ihre Zwecke einzusetzen versuchen. In dieser Rolle erinnert die Oscar-Preisträgerin Jennifer Lawrence wieder an jene ungeschminkte Siebzehnjährige aus „Winter’s Bone”, die keine Gefahr scheut, um ihre kleinen Geschwister und die schwer gestörte Mutter vor der Obdachlosigkeit zu bewahren. Ihr Gesicht hat auf der Leinwand etwas wundervoll Unverbrauchtes. Das Gegenteil von all jenen eitlen Superhelden, die Hollywood sonst dem Publikum präsentiert. Das einfache Mädchen aus dem Bergbaudistrikt 12, verständlich dass Plutarch sie für die perfekte Besetzung der ersehnten Anführerin hält. Suzanne Collins und Regisseur Francis Lawrence geben der Protagonistin und ihrem meist jungen Publikum hier vor dem großen Finale „Mockingjay 2”, noch einmal Zeit zu reflektieren, was Diktatur oder Krieg für jeden Einzelnen von uns bedeutet. Welche Opfer wir bereit sind zu bringen. So einfach ist es nicht immer zwischen eigenen Idealen und populistischen Denkschemata zu unterscheiden. Manchmal kann man noch nicht einmal sich selbst trauen. Die Rebellenführerin wirkt am Anfang pragmatisch, ehrlich, sie zu unterstützen gegen die Diktatur scheint fast selbstverständlich, doch mit jeder Rede klingt sie demagogischer. Wenn Katniss die gigantischen Waffenarsenale im Distrikt 13 sieht, kommen ihr Zweifel. Sie wird misstrauisch, unsicher, das ist vielleicht ihre größte Stärke. Warum haben die Rebellen damals nicht auch Peeta gerettet? Sie stellt Bedingungen, sie wird kämpfen, aber nur wenn vorher die Geiseln befreit werden, wenn Peeta Straffreiheit zugesichert wird. Und Prim ihren Kater behalten darf, denn das ist eigentlich im Distrikt 13 absolut verboten. Wenig später beginnt die Schlacht gegen den übermächtigen Gegner.
Philips Messinas Kriegszenerie, die mit Leichen überdeckten Trümmerfelder sind so real und grausig, als hätte sie der russische Künstler Vasily Vershagin gemalt. Atemberaubend, wie Kameramann Jo Willem dieser finstren dystopischen Welt eine unverwechselbare Magie verleiht. Jene Düsternis hat hunderte von Schattierungen. Es sind Bilder entstanden, die unvergesslich bleiben.
Originaltitel: The Hunger Games – Mockingjay: Part 1
Regie: Francis LawrenceDarsteller: Jennifer Lawrence, Josh Hutcherson, Liam Hemsworth, Donald Sutherland, Philip Seymour Hoffman, Julianne Moore
Produktionsland: USA, 2014 Länge: 123 Minuten
Verleih: StudioCanal Deutschland
Kinostart: 20. November 2014
Fotos & Trailer: Copyright StudioCanal
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